Aktuell befinden wir uns in einem weiterem Lockdown, bei dem auch die Schulen und Kindergärten geschlossen haben und Kinder zu Hause bleiben müssen. Das erfordert von Eltern erneut die Bereitschaft, eine Balance zwischen Arbeit, Homeschooling und Kinderbetreuung zu finden. Die Belastung ist enorm, denn das sorgfältig aufgestellte System, die Vereinbarkeit von Familie und Arbeit, funktioniert so nicht mehr. Nicht nur für Arbeitnehmer:innen, auch für Arbeitgeber:innen ist das eine Herausforderung.
Beim Unternehmen Wildling Shoes wurde schon vor der Pandemie remote gearbeitet. Eine Umstellung war das Home Office für die knapp 180 Mitarbeiter, von denen fast 75 Prozent Frauen sind, daher nicht. Das Team arbeitet über ganz Deutschland verteilt. Die zeitliche und örtliche Flexibilität wird sehr geschätzt, vor allem von Eltern, die im Unternehmen arbeiten. Doch genau diese sind nach fast einem Jahr des Balanceakts zwischen Arbeit und Familienmanagement erschöpft, denn trotz Flexibilität zerrt die Doppelbelastung enorm an Körper und Seele.
Das Unternehmen hat frühzeitig schon im ersten Lockdown reagiert und zusammen mit dem Team überlegt, wie Mitarbeiter:innen entlastet werden können, wo noch mehr Flexibilität geboten werden kann und wie Aufgaben von weniger belasteten Teammitgliedern aufgefangen werden können. Bei Wildling Shoes geht es vor allem darum, eine angstfreie Atmosphäre zu schaffen, wo es erlaubt ist, auch zu sagen: “Es geht gerade nicht.” Meetingzeiten werden nach Möglichkeit an Familienbedürfnisse angepasst, ein Icon neben dem Profilnamen im Unternehmenschat zeigt an, dass man gerade Beruf und Familie jongliert, damit Rücksicht genommen werden kann. Arbeitszeiten können ohne Gehaltseinbußen vorübergehend reduziert werden. Dennoch ist es eine Zerreißprobe für das Team, aus dem Krisenmodus wurde eine Dauerbelastung, die Nerven liegen blank. Die Pandemie fordert ihren Tribut von allen Seiten – Unternehmen, Mitarbeitenden, Familienmitgliedern.
In der Praxis fällt vor allem auf, dass nicht alle Arbeitgeber einfühlsam mit dem Thema umgehen. Und so sind es häufig die Mitarbeiter:innen von Wildling Shoes, die zurückstecken müssen, weil bei den Partner:innen Präsenz im Unternehmen eingefordert wird. “Wir hören oft von unseren Mitarbeitenden, dass ihre Partner keine Zeit für die Kinderbetreuung haben, weil ihre Arbeitgeber kein Verständnis für die derzeitige Situation haben. Das geht sogar bis hin zu Diskriminierung und benachteiligender Behandlung im Arbeitsumfeld,” sagt Anna Yona, Gründerin von Wildling Shoes.
Wenn eine Seite “Business as usual” macht, muss die andere Seite es auffangen – der flexiblere Arbeitgeber, die Familie und überdurchschnittlich häufig die Frauen, die wieder die klassische Rolle der Kinderbetreuung übernehmen. Zwei Mitarbeiterinnen von Wildling Shoes berichten über ihre Erfahrungen.
Melanie: „Home Office und Homeschooling machen unsichtbar, dass Carearbeit ‘echte’ Arbeit ist. Und für die Arbeit im Home Office ist Konzentration erforderlich, die nicht gewährleistet ist, weil Kinder eben ständig Bedürfnisse haben. Viele von uns machen im Home Office zwei Jobs gleichzeitig.“
Maaike über ihren Mann: „Er muss arbeiten, muss Präsenz zeigen im Unternehmen, da der Arbeitgeber nicht flexibel ist. Er hat jetzt schon Nachteile, weil er im Sommer viel zuhause gearbeitet hat. Als mein Mann sagte, er könne nicht 4 Tage die Woche im Büro sein, merkte er recht schnell, wie er immer wieder ausgegrenzt wurde oder Dinge passierten als er nicht anwesend war. Man band ihn einfach nicht mehr ein. Ich hingegen habe im ersten Lockdown im Schnitt 10 Stunden weniger gearbeitet und mich um die Kinder gekümmert.”
Um für mehr Vereinbarkeit und Arbeitgeberflexibilität zu kämpfen, ist Wildling Shoes Teil der Initiative „Pro Parents“, gegründet von der Rechtsanwältin Sandra Runge. Ziel ist die Aufnahme des Diskriminierungsmerkmals »Elternschaft« in § 1 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) bzw. eine Ergänzung des AGG – z.B. nach dem österreichischen Vorbild, wonach in der Arbeitswelt niemand »Auf Grund des Geschlechtes, insbesondere unter Bezugnahme auf den Familienstand oder den Umstand, ob jemand Kinder hat, unmittelbar oder mittelbar diskriminiert werden darf.« (§ 4 GlBG).
„Wir brauchen neue und bessere rechtliche Rahmenbedingungen, die Eltern vor Benachteiligungen schützen. Damit einher geht ein gesellschaftlicher Wandel, der sich auch in Unternehmenskulturen widerspiegeln muss: Elternschaft darf kein Makel und keine Stigmatisierung bedeuten, sondern muss als Bereicherung gesehen werden. Familie, das Großziehen von Kindern und auch die Pflege von Angehörigen muss als gesamtgesellschaftliche Aufgabe angesehen werden,” erklärt Sandra Runge, Gründerin der Initiative Pro Parents (proparentsinitiative.de).
Die Corona-Pandemie wirkt wie ein Brennglas für die besondere Situation von berufstätigen Eltern. Jetzt ist die Chance, die Dinge beim Namen zu nennen und die Weichen für mehr Gerechtigkeit und Vereinbarkeit am Arbeitsplatz zu stellen.