Woher kommen Sie, was wissen Sie über Ihre Familie, welcher Volksgruppe gehören Sie an?
Ich komme aus Afghanistan. Mein Vater war Paschtune, und meine Mutter war Hazar. Ich bin in Kabul geboren. Mein Vater hat für die russische Botschaft gearbeitet, meine Mutter als Hausfrau.
Wann sind Sie aus Afghanistan weg?
Das war 1989 als wir weggingen, da war ich ein Jahr alt. Wir haben erst in Indien gelebt, weil mein Vater politischer Flüchtling war. Wir mussten unsere Identität – sprich unsere Flucht – verschleiern. Deswegen sind wir von Indien nach Pakistan und dann nach Moskau – ganz zivilisiert in Flugzeugen – geflogen, und dann von der Tschechoslowakei aus nach Ost-Deutschland.
Wie alt waren Sie, als Sie in Deutschland ankamen?
1990 war ich zwei Jahre alt.
Das heißt, dass man schon sagen kann, Ihre Muttersprache ist deutsch. Aber was haben Sie zu Hause gesprochen?
Nein, meine Muttersprache ist Farsi, die afghanische Amtssprache.
Bedeutet das auch, dass Sie keine direkten Erinnerungen mehr an afghanische Landschaften, Gerüche und solche Dinge haben?
Doch, ich habe schon Erinnerung, weil ich ein Trauma hatte. Ich weiß, dass unser Haus in Brand gesetzt wurde. Ich kann mich an eine Frau erinnern, die im Kostüm rumgelaufen ist und an die Wüste. Kinder haben mit Steinen und Papier gespielt. Das ist so ein Spiel in Afghanistan. Dabei nimmt man ein Blatt Papier und schlägt es auf die Steine. Das sind die Erinnerungen, die ich habe, mehr nicht. Ich weiß aber, dass die Frauen nicht verschleiert waren. Die sind dort ganz zivilisiert herumgelaufen.
Haben Ihre Eltern Wert daraufgelegt, dass Sie die Heimatsprache lernen? Haben sie die Fremde als Diaspora begriffen? Wollten Ihre Eltern irgendwann wieder „ins gelobte Land“ zurückkehren, gab es solche Sehnsüchte?
Mein Vater wurde in Brandenburg einmal zusammen mit meiner Mutter interviewt. Und da wurde gefragt, ob er zurück in sein Land will. Mein Vater antwortete, er wolle unbedingt zurück in sein Land und es wieder mit aufbauen. Tatsächlich wollten wir nicht in Deutschland bleiben, aber wir hatten zunächst vor in die Vereinigten Staaten zu gehen. In diesem Interview hätte er sagen sollen, nein, wir möchten erst mal in Deutschland bleiben, dann hätten wir in die USA weiterziehen dürfen. Das war ein Fehler zu sagen, er wolle zurück nach Afghanistan.
Sie erwarten ihr fünftes Kind. Fragen Ihre Kinder nach dem Herkunftsland der Mutter? Ist das ein Thema? Sprechen Sie mit den Kindern ab und an mal ein paar Worte persisch, oder ist das vorbei? Findet es hier ein Ende?
Doch, doch, die wissen schon beispielsweise: „Hol mir Wasser“ auf Farsi zu sagen. Und wenn die Kinder fragen, wie es in Afghanistan ist, erzähle ich ihnen davon. Natürlich fragen sie auch nach meinen Eltern, ihren Großeltern und wie die so waren. Ich habe ja keine Eltern mehr, aber das bewegt sie schon.
Sie wurden deutsch sozialisiert, aber da gibt es etwas in Ihnen, das sagt: Ich habe eine andere Herkunft, die ich auch meinen Kindern irgendwie vermitteln will? Richtig verstanden?
Natürlich. Und ich sage meinen Kindern immer, mein Ziel ist es, wenn die Kinder groß sind, eine Schule in Afghanistan zu bauen und zu gründen mit meiner Tante, für Jungs und Mädchen. Das ist mein großes Ziel.
Da ist ja schon etwas sehr Emotionales …
Ja. Bevor mein Vater gestorben ist, hat er zu mir gesagt, ich soll die Bildung, die ich in Deutschland erworben habe und das, was mir an Bildung geschenkt wurde, bitte an die afghanischen Kinder weitergeben!
Mitte der 1970 er Jahre galt Afghanistan in der Bundesrepublik als verheißungsvolles exotisches Land. Da gab es Afghan-Läden, die Mädchen haben sich mit Patchouli parfümiert und trugen Silberschmuck aus Afghanistan. Ein Buch über das sagenhafte Volk der Hunza wurde zum Besteller. Dann marschierte die Sowjetunion in Afghanistan ein …
Das ist richtig. Mein Vater war ja auf der Seite der Russen. Er war ja selber Christ. Und er freute sich, dass die Frauen in Freiheit leben. Das wollte er unbedingt, dass alle Menschen in Freiheit leben. Das war sein Wunsch.
Also war er Kommunist oder so etwas?
(Lacht), das kann man schon so sagen.
Außerhalb Afrikas ist Afghanistan das Land mit der höchsten Fruchtbarkeitsrate der Welt und Sie erwarten jetzt Ihr fünftes Kind. Wie bringe ich das zusammen?
(Lacht)
Wie ticken die Afghanen? Was sind das hier für Gewaltausbrüche? Warum die vielen Vergewaltigungen und Messerangriffe?
Die afghanischen Kinder beziehungsweise die Jugendlichen oder die erwachsenen Männer, die herkommen, die kennen nichts anderes. Sie sind damit groß geworden, dass Frauen verschleiert sind, dass sie zu Hause bleiben und sich um die Kinder kümmern müssen. Und sie haben gelernt, dass der Schleier für die Frau als eine Art Schutz dient, damit die Männer nicht begierig auf diese Frauen gucken. Wenn sie nach Deutschland kommen, sind sie schon deshalb traumatisiert.
Dann verlieren sie auf der Flucht, wenn sie 14 oder 15 sind, womöglich noch ihre Eltern oder ihre Geschwister. Diese Jugendlichen müsste man schon viel früher umsozialisieren. Die müssten im Vorfeld die deutschen Gesetze kennenlernen und wissen: Frauen werden in Deutschland anders behandelt, und andere wichtige Dinge im Umgang miteinander lernen. Das denke ich, dauert mindestens ein Jahr, und wenn das geregelt ist, dürfte man sie erst einreisen lassen.
Ansonsten funktioniert es nicht. Dann wird es immer Vergewaltigungen, Gewalt und Ermordung geben, weil sie nichts anderes kennen. In Afghanistan wird ihnen ja gepredigt: Der Westen, Amerika, Deutschland, Europa, da sind die Frauen halt Schlampen, so wird es ihnen suggeriert.
Es gab ja 2015 diese Aussagen, es kämen Fachkräfte. Aber es kam eine hohe Zahl von Analphabeten, unfähig beispielsweise überhaupt an nach unseren Maßstäben eingerichteten Integrations- und Sprachkurse teilzunehmen. Irgendwann wurde der Anspruch in den Sprachkursen massiv reduziert. Wie viel Integrationspotenzial bringen Afghanen überhaupt mit?
Nicht viel. Die meisten kommen aus armen Verhältnissen. Die haben keinen Zugang zu Bildung. Nur Mittelstandsfamilien können ihre Kinder auch zur Schule bringen. Viele Eltern brauchen ihre Kinder als Arbeitskraft. Das ist auch viel Landwirtschaft, die müssen ihre Felder rechtzeitig bestellen.
Treffen Sie selbst oft auch auf Afghanen hier in Berlin? Was redet man, worüber und wie?
Ich bin privilegiert und lebe in Berlin-Mitte. Ich kenne Afghanen, die haben eine Bäckerei eröffnet. Sie sind seit fünf Jahren in Deutschland, haben sich hochgearbeitet. Sie haben natürlich immer noch nicht ihren deutschen Pass, aber eine Befugnis, dass sie arbeiten gehen dürfen. Die haben die deutsche Sprache gelernt. Das sind integrierte Afghanen, die wollen das. Die sehen ihre Chance in Deutschland und haben daraus was gemacht. Aber ich muss ganz ehrlich gestehen, ich kenne nur zwei afghanische Familien und ich lebe hier in Berlin schon seit über zehn Jahren.
Treffen Sie denn auf der Straße auch mal Zuwanderer, mit denen Sie ins Gespräch kommen?
Wenn ich in der U-Bahn sitze oder so, dann komme ich schon mal ins Gespräch, weil ich Farsi spreche und verstehe, was geredet wird.
Werden Sie da als westliche zivilisierte Deutsche auch verbal angegriffen?
Da gab es schon einmal eine Situation. Ich saß in der der U-Bahn, und da waren junge Männer und sprachen Farsi und ich habe sie in ihrer Sprache gefragt, ob sie aus Afghanistan seien. Dann haben sie aber nicht mehr geredet, sondern nur noch getuschelt. Die sind eine Station später ausgestiegen. Das waren Jungs, die man heute „Talahon“ nennt, mit Gucci-Adidas-Fakes, Bauchtasche und so weiter.
Was stimmt nicht mit uns Deutschen in der Zuwanderungsfrage, dass immer mehr rein sollen, dass wir das Eigene nicht vernünftig verteidigen können und so weiter …
Der Satz von Merkel war ein Fehler: Wir schaffen das. Man muss das wirklich wissen: In Afghanistan haben sich junge Männer daraufhin auf den Weg gemacht und alles darangesetzt, nach Deutschland zu kommen, weil die Merkel das gesagt hat.
Was ist toll an Deutschland, das wir gemeinsam mehr schätzen sollten, was uns ausmacht?
Das kann ich sagen: Die Organisation, die Zuverlässigkeit, die Pünktlichkeit. Eigentlich auch der Zusammenhalt der Deutschen, den ich in den 90er-Jahren mitgekriegt habe. Ich bin ja in Ostdeutschland groß geworden, in einem 8000-Seelen-Städtchen. Wie sich die Bauern dort gegenseitig unterstützt und zusammengehalten haben, das hat mich beeindruckt, das fand ich toll.
Jetzt wussten ja auch diese Leute um den Herkunftshintergrund ihrer Familie. Gab es Feindlichkeit? Was waren Ihre Erfahrung?
Meine Mutter hat sich das Leben genommen, als ich vier Jahre alt war. Wir hatten in Afghanistan alles, wir waren sehr mittelständig. Und dann sind wir nach Deutschland aufs Land gekommen in ein kleines Zimmer mit vier Leuten am Bahnhof. Und wir wurden immer wieder als Ausländer beschimpft. Meine Mutter hat nicht mal ein Kopftuch getragen, aber schon das Aussehen alleine hat gereicht. Das war in den 1990er-Jahren in Neustrelitz.
Es war das Gefühl, einfach nicht gewollt zu sein. Meine Mutter hatte das immer. Und sie hat es nicht mehr ausgehalten. Nach einem Jahr konnte sie schon die Sprache. Sie wollte arbeiten. Aber das wurde ihr verweigert, weil wir nur eine Duldung hatten.
Das heißt, dass die Afghaninnen, die in Afghanistan als Frau nicht arbeiten durften, in Deutschland nicht arbeiten durften, weil sie nur eine Duldung hatten?
Ja. Und das hat sie sehr verletzt. Hinzu kam, dass sie ihren Sohn in Afghanistan am Kindstod verloren hat, dadurch war sie schon angeschlagen. Sie wollten ja gar nicht in Deutschland bleiben, sondern nach Amerika zu ihrer Mutter. Dann hat sie Depression entwickelt. Und auch dieser Fremdenhass – wir haben jeden Tag zu spüren zu bekommen, dass wir nicht gewollt sind.
Sie hat es teilweise sogar verstanden. Die Deutschen haben ja Angst vor den Fremden. Sie meinte aber, man könne voneinander auch viel lernen. Aber sie hat sich dann das Leben genommen.
Kann es vielleicht auch daran liegen, dass wir Deutschen selbst gar nicht mehr so richtig wissen, was oder wer wir eigentlich sind?
Ich habe Leute kennengelernt, nachdem meine Mutter sich das Leben genommen hatte, die wirklich freundlich waren, die sich uns angenommen haben. Wir waren ja zwei kleine Mädchen mit einem älteren Vater, der war ja schon 70 Jahre alt, und das fand ich schon großartig. Also diese Hilfe zu kriegen von fremden Leuten, die uns zu sich nach Hause eingeladen haben und auch die Mutterrolle mit übernommen haben. Ich war auch lange bei den Zeugen Jehovas. Auch die Frauen dort haben gesehen, in was für einem Leid wir eigentlich sind.
Danke für das Gespräch!
Shakera Rahimi, *1988 in Kabul/ Afghanistan, seit 2017 Verlegerin Galerie Rahimi Berlin Verlag (Schwerpunkt Kinderbücher mit den Themen Adoption, Integration und Umweltbewusstsein)
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Author:
Alexander Wallasch