Verfasserin: Rechtsanwältin Ingrid Heinlein, Anwaltsbüro Bell & Windirsch, Düsseldorf
Eine ordnungsgemäße Unterrichtung des Betriebsrats über die Kündigungsgründe nach § 102 Abs. 1 S. 2 BetrVG liegt nicht vor, wenn der Arbeitgeber dem Betriebsrat für dessen Beurteilung bedeutsame, zuungunsten des Arbeitnehmers sprechende, objektiv unzutreffende Tatsachen mitteilt, von denen er selbst es für möglich hält, dass sie unrichtig sind.
BAG, Urteil vom 16.7.2015 – 2 AZR 15/15 –
(Leitsatz von der Verfasserin)
Der Kläger war als Produktionsmitarbeiter bei der Beklagten beschäftigt. Er fehlte wiederholt krankheitsbedingt in nicht unerheblichem Umfang. Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis fristgemäß. Im vorangegangenen Anhörungsverfahren unterrichtete sie den Betriebsrat über ihre Kündigungsabsicht, teilte die Fehlzeiten mit und gab an, als Grund für die AU-Zeiten habe der Kläger Kopfschmerzen angegeben. Im Anhörungsschreiben heißt es weiter: „Wir haben dann nach dem letzten Rückkehrgespräch … beschlossen, Herrn N. bei unserer Werksärztin … vorzustellen. Dieser Termin fand am 16.01.2012 statt. Herr N wurde empfohlen, sich von einem Spezialisten untersuchen zu lassen und gezielt mit einer Therapie gegen den Kopfschmerz vorzugehen … Diese Schmerztherapie wurde aber bereits nach kurzer Zeit von Herrn N abgebrochen, der Folgetermin im Werkarztzentrum … nicht wahrgenommen. Herr N hat damit nach unserer Einschätzung nicht alles getan, um seine Arbeitskraft vollständig wiederherzustellen (zitiert nach der Entscheidung der Vorinstanz: LAG Hamm – 7 Sa 206/14 -)“.
Tatsächlich hatte der Kläger bereits ein Kopfschmerzzentrum aufgesucht und von diesem auch eine Therapieempfehlung erhalten, bevor er sich bei der Betriebsärztin vorstellte. Im Verlauf des Kündigungsschutzprozesses wurde unstreitig, dass die Werksärztin dem Kläger nicht empfohlen hatte, sich von einem Spezialisten untersuchen zu lassen. Nach dem Vortrag der Beklagten hat die Werksärztin ihrem Personalleiter in einem Telefongespräch tatsächlich mitgeteilt, beim Kläger werde eine Schmerztherapie durchgeführt, dieser setze die verordneten Medikamente aber sofort ab, wenn sich keine Besserung einstelle. Als Grund für die fehlerhafte Unterrichtung des Betriebsrats hat die Beklagte angegeben, ihr Personalleiter sei einem Missverständnis unterlegen.
In seiner Entscheidung prüft das BAG vorab, ob die Fehlinformation des Betriebsrats Bedeutung für dessen Stellungnahme hatte. Das wird mit überzeugenden Gründen bejaht. Der Betriebsrat musste den Eindruck gewinnen, dass der Kläger nicht bereit sei, eine Schmerztherapie durchzuführen. Dies hat ihn möglicherweise davon abgehalten, dem Arbeitgeber Vorschläge zur Vermeidung der Kündigung zu unterbreiten. Damit kam es darauf an, ob die Kündigung unwirksam ist, weil die Beklagte das Anhörungsverfahren nach § 102 Abs. 1 BetrVG nicht ordnungsgemäß durchgeführt hat.
Ausgangspunkt ist der Grundsatz, dass der Arbeitgeber dem Betriebsrat nach der Rechtsprechung des BAG die Tatsachen mitteilen muss, die aus seiner Sicht die Kündigung rechtfertigen (subjektive Determinierung des Anhörungsverfahrens). Bewusst falsch oder irreführend darf der Betriebsrat, so das BAG, nicht unterrichtet werden. Andererseits, so ebenfalls das BAG, führt eine unbewusste Fehlinformation des Betriebsrats nicht dazu, dass die Unterrichtung nach § 102 Abs. 1 BetrVG nicht ordnungsgemäß ist. Eine weitere Variante, durch die der Grundsatz der subjektiven Determinierung eingeschränkt wird, liegt vor, wenn der Arbeitgeber dem Betriebsrat für dessen Stellungnahme relevante Tatsachen nicht mitgeteilt hat und dann erklärt, diese Tatsachen seien für seine Kündigungsentscheidung nicht relevant gewesen. Dazu hat das BAG bereits entschieden, dass der Arbeitgeber dem Betriebsrat solche Tatsachen nicht vorenthalten darf.
In dem ihm nun vorliegenden Fall konnte das BAG weder davon ausgehen, dass der Arbeitgeber den Betriebsrat bewusst falsch oder irreführend unterrichtet hat, noch, dass die Fehlinformation unbewusst erfolgt ist. Vielmehr war nicht nachvollziehbar, wie es überhaupt zu dem (angeblichen) Missverständnis kommen konnte. In Betracht kommt nach der Entscheidung des BAG auch, dass der Personalleiter es für möglich hielt, dass seine Mitteilung gegenüber dem Betriebsrat nicht der Wahrheit entspricht und er dies billigend in Kauf genommen hat. Da der Beklagten Gelegenheit gegeben werden musste, hierzu weiter vorzutragen, wurde die Sache an das LAG zur weiteren Sachaufklärung zurückverwiesen. Stellt sich dort heraus, dass der Personalleiter es für möglich gehalten hat, dass seine Angaben gegenüber dem Betriebsrat falsch sind, ist das Anhörungsverfahren fehlerhaft und die Kündigung unwirksam.
Fazit:
Missverständnisse begleiten unsere tägliche Kommunikation. Das Urteil steht in einer Reihe von Entscheidungen, die verdeutlichen, dass Betriebsräte kritisch prüfen müssen, ob ihnen im Anhörungsverfahren nach § 102 Abs. 1 BetrVG erteilte Informationen richtig sind. Soweit dies möglich ist, sollten Betriebsräte daher von ihrem Recht Gebrauch machen, den Arbeitnehmer vor Ablauf der Anhörungsfrist und eventuellen Abgabe einer Stellungnahme anzuhören (§ 102 Abs. 2 S. 4 BetrVG),
Im Kündigungsschutzverfahren werden die Arbeitsgerichte wahrscheinlich selten klären können, ob ein Arbeitgeber an die Richtigkeit der dem Betriebsrat mitgeteilten, tatsächlich falschen, Information geglaubt hat, oder ob er es für möglich gehalten hat, dass die Information falsch ist. Von besonderer Wichtigkeit ist daher, dass der Arbeitgeber, so das BAG in seiner Entscheidung ausdrücklich, die Beweislast für seine Gutgläubigkeit trägt. Kann er nicht beweisen, dass er es nicht für möglich gehalten hat, dass die Information falsch ist, geht dies zu seinen Lasten. D.h. die Kündigung ist nach § 102 Abs. 1 S. 3 BetrVG unwirksam.
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