• 15. November 2024

Ein oller Küchentisch ist kein Beinbruch – denkt meine Frau

ByJörg

Aug 24, 2024

Mein Großvater mütterlicherseits war Herrschaftskoch, er bekochte Fürsten, Grafen und einmal sogar den Kronprinzen höchstpersönlich. Opa – geboren 1889 – wurde 88 Jahre alt. Mein zweitjüngster Sohn Hans* trägt seinen Namen.

Neben anderen Dingen habe ich von meinem kochenden Großvater seine ebenhölzerne schon ziemlich zerschrabbelte Messerkiste geerbt. Als ich in einer Werbeagentur beschäftigt war, diente mir diese Kiste über bald eineinhalb Jahrzehnte als Aufbewahrungsort für Stifte und andere Arbeitsutensilien.

Einmal kam einer der Agenturchefs vorbei und fragte mich, was das denn für eine olle Kiste sei. Wir hatten die Zeit und ich erzählte ihm die Geschichte meines Großvaters.

Anschließend fragte er mich, was ich für diese Kiste haben wolle. Offenbar hatte meine Erzählung bei ihm etwas angerührt. Das freute mich ebenso, wie es mich traurig machte, dass dieser finanziell so erfolgreiche Macher tatsächlich dachte, alles sei käuflich bis tief hinein in die Familiengeschichte der Anderen.

Mein Sohn Hans hat einmal, als er noch sehr klein und unvernünftig war, mit einem Gabelzinken mit vielen kleinen Punkten etwas in den Wohnzimmertisch gedrückt, dass wie ein kleiner Hund aussah. Meine Frau war darüber wütend und hatte versucht, es vorsichtig auszuschleifen. Aber die Eindrücke waren einfach zu tief.

Noch heute, bald zwanzig Jahre später, und immer, wenn ich um diesen Tisch herumlaufe, ertappe ich mich dabei, dass ich mit den Fingerspitzen beiläufig diesem kleinen Hund nachspüre.

Es bleibt beim Thema Tische: Heute fuhr ich mit meiner Frau und einem der Jungs zu IKEA. Ziel war es, einen Schreibtisch für Hans zu kaufen, der sein altes Zimmer gerade einmal komplett ausgemistet hatte.

So wurde auch die Arbeitsplatte ausgemistet, die ich einmal für die Kinder als gemeinsamen Schreibtisch gebaut hatte, als sie noch zu zweit das größere Kinderzimmer bewohnten. Ich erinnere mich, dass auch mein Vater meinem Bruder und mir so eine Platte gebaut hatte, seine war allerdings aus beschichteter Spanplatte, meine schon aus Vollholz: Eine generationenübergreifende Verbesserung, will ich meinen.

Wir fanden auch schnell einen vernünftig erscheinenden Schreibtisch und suchten bald den Ausgang – jeder kennt das vom IKEA-Rundgang, man gewöhnt sich nie. Und dann passierte, was IKEA bezweckt, meine Frau blieb wie angewurzelt stehen: Diesen oder keinen!

So stand sie wie angewurzelt vor einem schlichten Küchentisch für 129 Euro mit Kiefernvollholzplatte und sah gerade so aus, als hätte sie auf der Straße einen 100 Euroschein entdeckt und schnell den Fuß daraufgestellt.

„Was hältst Du davon?“, fragte sie mit einem mir unnatürlich dringlich und hoch erscheinendem Tonfall. Ich schaute einmal und noch ein zweites Mal, ob ich etwas übersehen hatte und antwortete dann gelernt vorsichtig: „Wir haben doch einen Okay-Küchentisch.“

Jeder ahnt was kommt. Der alte Tisch sei ihr schon sooo lange ein Dorn im Auge. Und es klang bald so, als sei dieser Austausch des Küchentischs gegen das neue Modell geeignet, tatsächlich alle Probleme dieser Welt zu lösen oder mindestens jene, mit denen wir uns täglich herumschlagen.

Nun kann meine Frau natürlich kaufen, was sie möchte, aber sie war immerhin noch an einer einvernehmlichen Entscheidung interessiert. Wir gingen derweil weiter, die Käuferkarawane drückte von hinten. Aber dann sah ich es schon aus den Augenwinkeln: Der Tisch hatte sich eingebrannt in die Augen der Frau. Wer einmal graublaue Augen hat glühen sehen, der weiß genau, was ich meine.

Also schob ich Frau sanft zwischen zwei übermannshohe Pflanzenwagen, die gerade im Weg standen und gab ihr zu verstehen, dass ich einverstanden sei, wenn sie bloß verspreche, den alten Tisch nicht wegzuschmeißen.

„Aber was willst Du denn damit?“, fragte sie in diesem besonders verzweifelten Tonfall, den ich noch nie richtig leiden mochte, weil er suggeriert, ich sei jetzt irreparabel von allen guten Geistern verlassen. So viel zur berühmten Kompromissbereitschaft, dachte ich.

Es blieb mir also nichts anderes übrig, als aufzugeben oder mich ausführlicher zu erklären. Mittlerweile waren wir bei diesen tiefen grauen Ohrensesseln angekommen, dessen IKEA-Name mir gerade entfallen ist.

Ich dachte an unseren alten Tisch und beschrieb meiner Frau, was sie doch eigentlich besser wissen müsste, weil sie viel öfter daran saß. Ich hatte das stabile Untergestell vor über zwei Jahrzehnten auf dem Sperrmüll entdeckt, mitgebracht, vom Baumarkt eine Vollholzplatte zuschneiden lassen und diese auf dem Gestell montiert, fertig.

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Und wer unsere enge Küche kennt, der weiß, dass dieser Tisch seitdem jeden Tag etliche Male auf den Dielen hin und her geschoben wurde. Dennoch steht er bis heute wie ein Fels in der Brandung.

Aber noch etwas ist ihm passiert, das  ihn für mich zu etwas ganz Besonderem macht: Dieser Tisch ist zur Chronik unserer Familiengeschichte geworden.

Er ist über und über bedeckt von versehentlichen und absichtlichen Kratzern, sogar Messerspitzen stecken in ihm, als eines der vier Kinder – oder vielleicht sogar ich selbst – dort einmal übermütig ein Küchenmesser geworfen und sich darüber gefreut hatte, dass es stecken blieb, zitternd, wie mitten im Bulleye einer Dartscheibe.

Es wäre gelogen, wenn ich sagte, ich könne zu jedem Kratzer die passende Geschichte erzählen, aber es fühlt sich gut an, darüber nachzudenken, wie über einer aufgeklappten Weltkarte. „Wie kann man auf die Idee kommen, diesen Tisch wegzuschmeißen? Das ist doch UNSER Familientisch!“, erklärte ich meiner Frau immer noch auf Höhe der grauen IKEA-Ohrensessel und schaute anschließend in ein wirklich entsetztes Gesicht.

Obwohl – entsetzt ist noch das falsche Wort. Ich erkannte die vollkommene Abwesenheit von Verständnis. Dabei hatte ich mir doch alle Mühe gegeben, zu erklären, worum es mir ging.

Mein älterer Bruder bewahrt bis heute ungeöffnete Schokoladentafeln auf, die er in den 1970er Jahren von seiner geliebten Urgroßmutter geschenkt bekommen hatte, noch kurz, bevor sie verstarb. Das könnte man zu Recht spleenig finden, aber meine Frau staunt über den Fingerabdruck unseres Familienlebens, den ich ums Verrecken nicht dem Sperrmüll überantworten wollte.

Nachdem ich kurz abgelenkt war von einem Familienstreit etwas weiter vorn in der IKEA-Rundgangskarawane, versuchte ich es mit einem weiteren Kompromiss. Ich schlug vor, ein größeres Stück aus der alten Tischplatte auszusägen und es besonders schön eingerahmt an die Wand zu hängen. Als ich noch dachte, der Kompromiss sei schon verdammt ziemlich gut, überraschte mich die Reaktion meiner Frau erneut: Ich sah kurzfristig nur noch das Weiße ihrer Augen, so sehr hatte sie diese verdreht.

Unser Jüngster rettete die Situation. Er war wohl schon eine Weile unangenehm berührt von dieser Debatte um den alten Küchentisch, dass er fürchtete, die IKEA-Karawane werden nach und nach mit in diese Debatte hineingezogen.

Kurzum: Sein Vorschlag war, ich könne doch aus einem Teilstück des alten Tisches eine Arbeitsplatte sägen, die genau auf den Geschirrspüler passt. Mama könne dort dann bestimmte Arbeiten verrichten, ohne sich vom Herd zum Tisch hin wegdrehen zu müssen.

„Nö, da habe ich keine Lust zu!“, erwiderte ich viel zu patzig, obwohl ich längst wusste, dass es am Ende darauf hinauslaufen wird.

Aber warum ist mir etwas wichtig, was anderen vollkommen egal ist? Vielleicht liegt es daran, dass dieser Tisch vielmehr Mittelpunkt im Leben meiner Frau war, als in meinem eigenen.

An diesem Tisch hat sie mit den Kindern gebacken, Hexenhäuser gebaut, Hausaufgaben gemacht und diese vielen Tuschebilder gemalt, die sie anschließend sorgsam mit Namen und Datum versehen in einem Ordner verwahrt hatte, in welchem die mittlerweile erwachsenen Kinder heute wieder gerne blättern und sich erinnern.

Sogar unser Enkel saß neulich an diesem Tisch und macht mit seiner Oma einen Kuchen zu seinem zweiten Geburtstag. Aber so ein Holztisch mit vielen Kratzern ist kein Tuschebild und auch kein Kuchen. Er ist nur ein altes Möbel, dass jetzt durch einen neuen ersetzt werden soll. Was soll daran eigentlich traurig oder seltsam sein?

Ich gehe jetzt aber gleich mal in den Keller, denn gerade ist mir wieder eingefallen, wo ich die alte zerschrammte Messerkiste meines Großvaters verstaut hatte. Ich bekomme gerade ganz furchtbare Panik, dass meine Frau diese unansehnliche Kiste in meiner Abwesenheit möglicherweise als entbehrlich erachtet hat. Aber ich frage sie nicht, ich schaue lieber selbst schnell nach …

*Name geändert

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Author:
Alexander Wallasch

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