Im Folgenden möchte ich eine spontane Verteidigungsrede versuchen. Ich bin nämlich mittlerweile davon überzeugt, dass die Resilienz einer Gesellschaft ganz wesentlich davon abhängt, dass es immer wieder Querköpfe mit Mut zum Widerspruch gegenüber dem Konsensdenken gibt.
Was, wenn nicht die Sturheit und der Protest der Corona-Maßnahmen- und Impfkritiker hat auf besonders eindrucksvolle Weise bewiesen, wie immens wichtig es ist, im Wortsinn zu widerstehen?
Ich habe schon einmal an anderer Stelle die beeindruckende Filmszene „the 10th man“ aus dem Zombie-Schocker „World War Z“ mit Brad Pitt zitiert. Mal unabhängig vom populär-gruseligen Genre hat Regisseur Marc Forster hier eine eher stille Szene gedreht, die neben den Kampf- und Actionszenen erst viel später nachwirkt, dann aber besonders nachdenklich stimmt:
In besagter Szene fragt Brad Pitt in der Hauptrolle die israelische Regierung, warum sie so schnell Abwehrmaßnahmen gegen die Zombiekrankheit eingeführt und ihre Stadt damit vor allen anderen sicher gemacht hätte.
Und er bekommt zur Antwort, dass läge am System des Zehnten. Das Kabinett wähle immer einen aus, der dann verpflichtet sei, eine andere Meinung einzunehmen, wenn sich alle anderen längst einig seien. Und im Falle der Zombiekrankheit waren sich alle einig, dass es schon nicht so schlimm werde. Aber der zehnte Mann hätte so lange insistiert, dass er zuletzt alle überzeugte, unverzüglich mit dem Bau einer überdimensionalen Schutzmauer gegen den Feind zu beginnen.
Klar, das ist Fiktion a la Hollywood, ich kann nicht einmal sagen, ob der zehnte Mann auf wahren Begebenheiten basiert, aber darum geht es gar nicht. Es geht um dieses erstaunliche Prinzip einer Art Zwangspluralität. Um eine Debatte – bzw. eine Art Demokratiegarantie dank eines einzigen, den alle anderen dazu verdonnert haben, zu widersprechen, sollten sie alle einer Meinung sein.
Natürlich ist das pathetisch überhöht, aber so soll es hier nicht gemeint sein. Ich bin einfach davon überzeugt, dass es zur Widerstandskraft einer Gesellschaft gehört, immer auch alternatives Denken zuzulassen, es sogar unbedingt zu fördern, wenn es zu erlahmen droht. Resilienz ist eine besondere Kraft der Psyche, Belastungen auszuhalten – eine ausgeprägt lebensmutige Haltung, beispielhaft sogar für den Überlebenswillen einer ganzen Gesellschaft.
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Das Beruhigende: Für die Vitalität einer Gesellschaft braucht es gar nicht viele Zehnte. Es braucht aber Schutzräume, Respekt und Anerkennung für diese Zehnten. Wenn nicht das, was ist dann die zentrale Lehre aus den Corona-Jahren? Ich meine es war Wolfgang Kubicki – man mag von ihm halten, was man will – der den Sinn und den hohen Wert dieser zehnten Person besonders schnell begriffen hatte, als er die Ungeimpften zu Helden der Corona-Jahre erklärte.
Und wieder runtergebrochen auf den Alltag: Mir klagte jüngst ein guter Freund, der gern auf Partys geht oder ging, dass er sich seit Corona immer wieder in der Außenseiterrolle wiederfindet. Er könne bald machen was er wolle: Immer dann, wenn es ans Plaudern geht, sei er derjenige, der sich in Widersprüche verwickle. Ich spürte förmlich, wie er litt. Aber warum er dann immer wieder eingeladen werde, konnte er sich nicht erklären, als ich nachfragte.
Es bleibt natürlich spekulativ, aber kann es sein, dass es immer noch mehr Menschen gibt, als man denkt, die eine Grundsehnsucht nach Widerspruch haben, aber selbst keinen Mut mehr, ihn zu äußern? Ohne biologistisch zu werden – um Himmelswillen –, aber wenn ich im Bio-Unterricht aufgepasst habe, basiert Evolution auf Mutation. Auf Ausreißern. Fortschritt auf Basis einer spontanen Auflehnung gegen den Konsens?
Ich verrate ihnen kein Geheimnis, wenn ich erzähle, dass ich ebenfalls oft in dieser Außenseiterrolle war und bin. Früher habe ich das bedauert, denn es kann auch sehr anstrengend sein, immer in die Defensive gedrängt zu werden. Und es fühlt sich Rückblickend nicht heldenhaft an. Ich glaube mittlerweile sogar, es hat etwas Zwanghaftes, eine Art Einspruchs-Tourette.
Es ist eine Geschichte vom Unwohlsein im Konsens. Aber nicht aus sich heraus als reiner Störfaktor. Sondern in der Erkenntnis, dass dieser Konsens über den Willen zur Einigung immer auch eine unterdrückende, eine betonierende, eine freiheitseinschränkende Funktion hat.
Ein letztes Beispiel: Leute wie Kolumnist Toddn Kandziora, der gestern diesen so wunderbaren Text geschrieben hatte https://www.alexander-wallasch.de/gastbeitraege/die-leute-koennen-einfach-nicht-mehr-sie-wollen-auch-nicht-mehr , mögen manche seiner Freunde trotz seiner immer freundlichen und charmanten Art inhaltlich für eine Zumutung halten. Aber genau das macht ihn für mich zu einem besonders wichtigen Zeitgenossen. Toddn ist einer der Anführer vom Stamm der Zehnten Männer. Er ist ein geborener Störer. Was für ein Gewinn! Denn selten waren diese Störer so wichtig wie heute.
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Author:
Alexander Wallasch