• 23. September 2024

Die gesundheitliche Versorgung kranker oder behinderter Menschen in vorgeschichtlicher Zeit: Ein Indikator für altruistisches Verhalten? (Teil 1)

ByJörg

Aug 16, 2024

Bereits seit fast zwanzig Jahren ist bekannt – und durch die Presse weit verbreitet worden –, dass Menschen in vorgeschichtlicher Zeit ihre Kranken, Verletzten und Behinderten nicht einfach ihrem Schicksal überlassen bzw. dem Tod überantwortet worden, sondern sich um sie gekümmert und sie versorgt haben. Diese Entdeckung geht in ihrer massenmedial verbreiteten Form – auf einen Fund zurück, den von Marc Oxenham und Kollegen (2009) im Norden von Vietnam, an einem Ort namens Man Bac, im Jahr gemacht haben. Die Zusammenfassung des Fallberichtes liest sich wie folgt:

Man Bac, Quelle. Tilley & Oxenham, 2011

“This communication documents one of the earliest verifiable cases of human paralysis associated with severe spinal pathology. A series of skeletal abnormalities is described for a young adult male (M9) from a Southeast Asian Neolithic community. Differential diagnosis suggests that M9 suffered from a severely disabling congenital fusion of the spine (Klippel–Feil Syndrome, Type III), resulting in child-onset lower body paralysis at a minimum (maximally quadriplegia). M9 experienced severe, most probably total, incapacitation for at least a decade prior to death. In the prehistoric context, this individual’s condition would have rendered him completely dependent on others for survival” (Oxenham et al. 2009: 107).

D.h.

Man Bac, M9, Quelle. Tilley & Oxenham, 2011

“Diese Mitteilung dokumentiert einen der frühesten nachweisbaren Fälle menschlicher Lähmung, die mit einer schweren Wirbelsäulenpathologie einhergeht. Eine Reihe von Skelettabweichungen wird für einen jungen erwachsenen Mann (M9) aus einer südostasiatischen neolithischen [jungsteinzeitlichen] Gemeinschaft beschrieben. Die Differentialdiagnose deutet darauf hin, dass M9 an einer schwerstbehindernden angeborenen Fusion der Wirbelsäule (Klippel-Feil-Syndrom, Typ III) litt, was zu in der Kindheit einsetzender Lähmung mindestens des unteren Körpers (maximal zu Quadriplegie [d.h. einer Lähmung oder Teillähmung beider Arme und beider Beine]) führte. M9 litt für mindestens ein Jahrzehnt vor seinem Tod an schwerer, höchstwahrscheinlich totaler Invalidität. Im prähistorischen Kontext dürfte der Zustand dieses Menschen sein Überleben völlig von anderen abhängig gemacht haben” (Oxenham et al. 2009: 107).

Mindestens zehn Jahre lang muss dieser Mann also ständig von anderen Menschen gepflegt und versorgt worden sein, bevor er vor 3.700 bis 4.000 Jahren in dem, was heute Nord-Vietnam ist, im Alter von 20 bis 30 Jahren gestorben ist. Und die Pflege und Versorgung dieses jungen Mannes muss sehr aufwändig gewesen sein (Tilley und Oxenham beschreiben in ihrem Artikel aus dem Jahr 2011, welche Arten von Pflege seine Behinderung erfordert haben müssen):

“In practical terms, the costs to a small community of supporting M9 involved not only the provision of resources necessary for his survival, but also compensation for the labour foregone of those involved in meeting care requirements. The Man Bac environment was relatively resource rich – a situation facilitating the full time support of a dependent individual and compensating for community members taken out of mainstream activity to provide dedicated care. Nevertheless, in a small subsistence community it is usual for all members to participate in the economy as soon as they are old enough to do so … In the case of M9, it is fair to assume that the adoption and maintenance of support behaviours, resulting in reduced productive capacity for the community over a period of years, would have required consent and cooperation from the group as a whole” (Tilley & Oxenham 2011 39).

D.h.

“In der Praxis erforderte die Fürsorge für M9 durch eine kleine Gemeinde nicht nur die Bereitstellung der Ressourcen, die für sein Überleben notwendig waren, sondern auch die Kompensation der Arbeitsausfälle derer, die die pflegerischen Aufgaben erfüllten. Man Bac war relativ ressourcenreich – eine Situation, die die Versorgung eines abhängigen Individuums in Vollzeit und die Kompensation von Gemeindemitgliedern, die aus dem normalen täglichen Arbeitsprozess herausgenommen wurden, um die erforderliche spezielle Pflege bereitzustellen, erleichterte. In einer kleinen Subsistenzgemeinschaft ist es jedoch üblich, dass alle Mitglieder der Gemeinschaft an der Wirtschaft teilnehmen, sobald sie alt genug sind … Im Fall von M9 darf man [deshalb] davon ausgehen, dass die Akzeptanz und Aufrechterhaltung von Unterstützungsverhalten, das zu einer verringerten Produktivkapazität für die Gemeinschaft über einen Zeitraum von Jahren führte, die Zustimmung und Mitarbeit der ganzen Gruppe erforderlich machte” (Tilley & Oxenham 2011 39).

M9 war der Anlass für die breite Berichterstattung über Fürsorge, die Menschen in vorgeschichtlicher Zeit anderen, diesbezüglich bedürftigen, Mitgliedern der Gruppe, in der sie lebten, bereitgestellt hatten, aber nicht nur dafür: M9 war auch Anlass für die Entstehung eines neuen Fachgebietes zwischen Archäologie und physischer Anthropologie, nämlich der “Bioarchaeology of Care”, d.h. “Bioarchäologie der Fürsorge (oder: Pflege)”, was insbesondere auf das Engagement von Lorna Tilley zurückgeht, die im Jahr 2013 ihre Doktorarbeit mit eben diesem Haupttitel – “Toward a Bioarchaeology of Care” – veröffentlichte.

“Care” wurde von Tilley in ihrer Doktorarbeit neutral als “health-related caregiving” (Tilley 2013: 1), d.h. als “gesundheitsbezogene Fürsorge/Versorgung” definiert:

“The terms ‘healthcare provision’, ‘health-related care’, ‘caregiving’ and ‘care’ are used interchangeably in this thesis, and are defined in terms of the provision of assistance to an individual experiencing short, medium or long term disability as an outcome of pathology” (Tilley 2013: 3).

D.h. ungefähr – ungefähr aufgrund der Tatsache, dass der englisch Begriff “care” am besten mit “Sich-Kümmern” übersetzt ist, aber ins Deutsche in den meisten Zusammenhängen nicht als “Sich-Kümmern” übersetzt werden kann, weil die entsprechenden Formulierungen völlig unüblich wären:

“Die Begriffe ‘Gesundheitsversorgung’, ‘gesundheitsbezogene Versorgung’, ‘Pflegen’ und ‘Pflege’ werden in dieser Arbeit austauschbar verwendet und sind definiert als die Bereitstellung von Hilfe für einen Menschen mit kurz-, mittel- oder langfristiger Behinderung als Folge einer Pathologie.” (Tilley 2013: 3).

Dementsprechend werden unter “care” alle Hilfeleistungen verstanden, die Menschen für andere Menschen, die kurz-, mittel- oder langfristig krank oder behindert sind, erbringen.

Tilley ging es darum, die Aufmerksamkeit für solche Hilfeleistungen unter Archäologen zu wecken, die sich für sie bislang nicht oder kaum interessiert hatten, sondern lediglich für die pathologischen Befunde, die die von ihnen analysierten menschlichen Überreste ergaben. Tilley hat eigens zur systematischen Erforschung von “care”, also gesundheitsbezogenen Hilfeleistungen, in der Achäologie den “Index of Care” entwickelt. Dabei handelt es sich um einen digitalen Arbeitsbogen, auf dem aufgefundene Pathologien bei menschlichen Überresten dokumentiert, als solche und in ihrem archäologischen Kontext beschrieben werden, darüber hinaus festgehalten wird, welche Arten von Hilfeleistungen die aufgefundenen Pathologien für wie lange Zeit vermutlich erfordert haben – Letzeres nennt Tilley die Erstellung eines “model of care”, sagen wir im Deutschen: Modell gesundheitsbezogener Hilfeleistungen –, und schließlich Vermutungen darüber festgehalten werden, wie das jeweilige Modell in das tägliche Leben der Gruppe eingebettet gewesen sein könnte oder – wenn der archäologische Kontext solche Vermutungen stützt – wahrscheinlich eingebettet war (Tilley & Cameron 2014: 6, Fig. 1). Die Benutzung dieses digitalen Arbeitsblattes illustrieren Tilley & Cameron (2014: 8, Fig. 2) selbst anhand von M9.

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Von all dem hat man in der Presse jedoch in aller Regel nichts gelesen. Vielmehr wurde in Berichten über gesundheitsbezogene Hilfeleistungen auf das Motiv der Anteilnahme abgestellt, die – implizit oder explizit – als das dargestellt wurde, was den Menschen der Spezies homo sapiens sapiens ausmache. Und sie war besonders berichtenswert, wenn sie – angeblich – bei Neanderthalern nachgewiesen worden war, waren Neanderthaler doch keine Menschen wie wir, also keine homo sapiens sapiens, und wurde ihnen (deshalb) die Fähigkeit zur Anteilnahme bzw. zum Handeln aus Anteilnahme bislang nicht zugestanden.

So las man beispielsweise in der WAZ vom 1. Juli 2024 in einem Artikel von Eileen Wagner die Schlagzeile: “Neanderthalerkind mit Down-Syndrom: Beweis für frühe Fürsorge”, und Conde-Valverde, deren Team die Überreste des Neanderthalerkindes in der Cova Negra-Höhle in Valencia analysiert hat, wird in diesem Artikel zitiert mit der Aussage:

“Das war nur möglich, weil die Gruppe der Mutter [aber nicht dem Vater?!] kontinuierlich geholfen hat. Möglicherweise praktizierten die Gruppenmitglieder eine gemeinschaftliche und uneigennützige Pflege, die der modernen menschlichen Fürsorge ähnelt” (Fettsetzung im Original).

Möglicherweise auch nicht. Deutlich erkennbar wird aus diesem Zitat die Verbindung von gesundheitsbezogenen Hilfeleistungen mit Uneigennützigkeit, menschlicher Fürsorge, wie “wir” sie heute (angeblich) praktizieren, und einem romantisch verbrämten Kollektivismus.

Bei der Morgenpost vom 5. Juli 2024 meint man – auf der Grundlage eines Artikels von derselben Autorin, Eileen Wagner, die hier als freie Mitarbeiterin fungiert – sogar berichten zu können: “Neanderthaler kümmerten sich rührend um Kind mit Down-Syndrom”, und in diesem Artikel wird die “rührend[e]” Versorgung des Kindes gleich zu Anfang und explizit dem “Prinzip ‘Survival of the fittest’” entgegengesetzt, das “[b]ei Affen und anderen Menschenarten” gelten solle bzw. gegolten haben solle.

Die Idee ist also die, dass Anteilnahme bzw. “rührend[e] Versorgung” aus Anteilnahme etwas ist, zu dem nur “wir”, d.h. Menschen der Spezies homo sapiens sapiens (und manchmal: Menschen dieser Spezies aus geschichtlicher Zeit), fähig sind und das “uns” deshalb als das, was wir sind, definiert. Das bedeutet: Anteilnahme wird als eine evolutionäre Leistung angesehen und speziell als eine kognitive oder psychologische Höherleistung im Vergleich zu allen Lebewesen angesehen, die nicht zur Spezies homo sapiens sapiens gehören – sei es in der Vergangenheit oder der Gegenwart. Wenn sich zeigen sollte, dass sich Neanderthaler angesichts von Krankheit oder Behinderung umeinander “rührend” gekümmert haben, dann relativiert dies nicht etwa die Interpretation von Anteilnahme als “unsere” Höch-/Höherentwicklung, sondern befördert umgekehrt Neanderthaler ins “richtig” Menschliche, indem es sie uns ähnlicher macht (und nicht umgekehrt “wir” Neanderthalern ähnlicher werden).

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Mit der Erzählung von der Anteilnahme gibt es allerdings sehr viele Probleme.

So kann man prinzipiell die Frage stellen, ob Fähigkeiten oder Eigenschaften schon allein deshalb als höherstehend oder irgendwie wertvoller angesehen werden können, weil “wir” sie aufweisen. Man kann einwenden, dass auch bei Primaten altruistisches Verhalten beobachtet wurde (Boesch & Boesch-Achermann 2000; Goodall 1990; Warneken et al. 2007) – hier gilt offenbar nicht grundsätzlich das Prinzip “survival of the fittest” –, so dass der Erzählung von der menschlichen Anteilnahme bereits bei Neanderthalern oder anderen Hominiden oder modernen Menschen der Vorgeschichte viel von ihrem Glanz genommen ist.

Man kann weiter darauf hinweisen, dass die Befunde an Knochen von Menschen, die nicht zur Spezies homo sapiens sapiens gehören, nicht so einfach und nicht auf dieselbe Weise zu interpretieren sind wie diejenigen an Knochen von Angehörigen der Spezies homo sapiens sapiens; u.a. sind frühere Hominide robuster gewesen, wie ihre dickeren kortikalen Knochenschichten belegen (Cunha 2016: 653-654), so daß sich die Frage stellt, ob Anomalien oder Pathologien sie in derselben Weise beeinträchtigt haben wie das bei modernen Menschen in der Regel der Fall wäre.

Und wenn sie von Anomalien oder Pathologien beeinträchtigt waren, haben sie dann, um mit diesen Anomalien überleben zu können, tatsächlich so starke Hilfe ihrer Gruppenmitglieder benötigt wie wir heute aufgrund unserer Maßstäbe für “normale” Funktionsfähigkeit von Menschen geneigt sind, anzunehmen? Von Primaten ist bekannt, dass sie schwere Wunden bis hin zu Verlusten von Gliedmaßen überleben können, ohne von anderen Tieren in ihrer Gruppe versorgt zu werden (Stokes & Byrne 2001), so dass man nicht automatisch aufgrund des Vorliegens schwerer Verletzungen oder Behinderungen bei Tieren oder bei Neanderthalern, die ohnehin robuster waren als moderne Menschen (s.o.), und vermutlich auch bei späteren vorgeschichtlichen Menschen schließen kann, dass die Betroffenen aufgrund dieser schweren Verletzungen oder Behinderungen Hilfe erhalten haben müssen.

Bestimmte Knochenfunde, die als Belege für gesundheitsbezogene Hilfeleistungen unter Hominiden angeführt werden, können angesichts dieser Tatsachen tatsächlich nicht als Belege hierfür angesehen werden. Dies ist z.B. der Fall mit Bezug auf den nach seinem Fundort benannten “Aubesier 11”-Unterkiefer eines ausgewachsenen Neanderthalers, der weitgehende pathologische Veränderungen aufweist, so dass der Mensch, zu dem er gehörte, kaum mehr im Stande gewesen sein kann, Nahrung zu zerkauen (Lebel & Trinkaus 2002: 659). Lebel et al. (2001: 11102) haben hieraus geschlossen, dass

“[t]hese human populations therefore had achieved a level of sociocultural elaboration sufficient to maintain debilitated individuals and to provide the motivation to do so”,

d.h.

“diese menschlichen Populationen hatten daher ein Maß an soziokultureller Entwicklung erreicht, das ausreichte, um geschwächte Individuen am Leben zu erhalten und die Motivation hierzu zu schaffen”.

Dieser Schluss ist aber keineswegs zwingend, wie Degusta (2002; 2003) aus vergleichender Perspektive gezeigt hat:

“This hypothesis is tested here by comparing the pathological processes seen in the Aubesier 11 hominid specimen with those evident in wild non-human primate skeletal material. A variety of wild non-human primates have similar pathological processes of equal or greater severity than that seen in Aubesier 11. There is also no evidence of any condition in Aubesier 11 which would have prevented that individual from providing for himself/herself. Therefore the Aubesier 11 partial mandible cannot be taken as evidence for an increased level of conspecific care in Middle Pleistocene hominids, contra Lebel et al. (2001)” (Degusta 2002: 1435).

D.h.

“Diese Hypothese [von Lebel et al. 2001 mit Bezug auf Unterhalt und Pflege von Kranken oder Behinderten wie oben zitiert] wird hier durch den Vergleich der pathologischen Prozesse in dem Aubesier 11-Hominid-Exemplar mit denen, die in wildem nicht-menschlichen Primaten-Skelett-Material zu sehen sind, getestet. Eine Vielzahl von wilden nicht-menschlichen Primaten haben ähnliche pathologische Prozesse von gleicher oder größerer Schwere als die in Aubesier 11. Es gibt auch keine Hinweise auf irgendeinen Umstand in Aubesier 11, der diese Person daran gehindert hätte, sich selbst zu versorgen. Daher kann der Aubesier 11-Unterkiefer nicht als Beleg für ein erhöhtes Maß an Artgenossen-Pflege bei Hominiden des mittleren Pleistozäns angesehen werden, anders als dies Lebel et al. (2001) behaupten” (Degusta 2002: 1435).

Der Schluss von Knochenfunden, die Anomalien oder Pathologien aufweisen, darauf, dass die entsprechenden Individuen von Anderen und in manchen Darstellungen – wie wir anhand der obenstehenden Zitate gesehen haben – “gemeinschaftlich”, “uneigennützig” oder “rührend” gepflegt wurden (bzw. gepflegt worden sein müssen), ist oft ein falscher oder voreiliger, jedenfalls kein notwendiger Schluss.

Regelrecht fahrlässig ist ein solcher Schluss, wenn er verallgemeinert wird, wenn also z.B. behauptet wird, dass Neanderthaler (oder wer wann auch immer) ihre Kranken oder Behinderten (dauerhaft) gepflegt hätten, und nicht deutlich gemacht wird, dass mit Bezug auf den in Frage stehenden Knochenfund “Neanderthaler” Mitglieder einer bestimmten Gruppe an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit gewesen sind, denn damit wird suggeriert, dass dies ein Verhalten gewesen sei, dass (mehr oder weniger) alle Neanderthaler (mehr oder weniger) gegenüber allen Kranken oder Behinderten gezeigt hätten – zu allen Zeiten der Existenz von Neanderthalern an allen Orten, an denen sie gelebt haben. Und das ist etwas, was wir nicht wissen können, aber sehr zweifelhaft erscheint. Immerhin haben Neanderthaler in Eurasien geschätzt über 200.000 Jahre hinweg in kleinen Verwandtschaftsgruppen verstreut gelebt, und auch dann, wenn in dieser Zeit kaum nennenswerte technologische Entwicklungen zu verzeichnen sind, dürften sich Verhaltensweisen bzw. Praktiken während dieser Zeit in Anpassung an die klimatischen Zyklen, die die Neanderthaler durchlebt haben (s. hierzu Bocquet-Appel & Degioanni 2013; Cooper et al. 2021; Fitzsimmons et al. 2013), verändert haben. (Solche Anpassungen mit Bezug auf Ernährungsgewohnheiten sind bereits nachgewiesen worden; s. El Zaatari et al. 2011).

So zweifelhaft Behauptungen über gesundheitsbezogene Hilfeleistungen in vorgeschichtlicher Zeit generell sind, so schwierig ist es in manchen Fällen von vorgeschichtlichen Knochenfunden, zu einem anderen Schluss zu kommen als dem, dass das Individuum, zu dem die Knochen gehörten, nicht (so lange) hätte überleben können, wenn es nicht Pflege oder Hilfe von Anderen erhalten hätte. Im zweiten Teil dieses Textes werden einige solcher Fälle vorgestellt werden. Auf dieser Basis ist es dann möglich, über die Frage nach der Anteilnahme bzw. dem Motiv für die Pflege zu spekulieren.


Literatur

Bocquet-Appel, Jean-Pierre, & Degioanni, Anna, 2013: Neanderthal Demographic Estimates. Current Anthropology 54(S8): S202-S213

Boesch, Christophe, & Boesch-Achermann, Hedwige, 2000: The Chimpanzees of the Taï Forest: Behavioural Ecology and Evolution. Oxford: Oxford University Press

Cooper, Alan, Turney, Chris S. M., Palmer, Jonathan, et al., 2021: A Global Environmental Crisis 42,000 Years Ago. Science Feb 19 2021; 371(6531): 811-818. Doi: 10.1126/science.abb8677.

Cunha, Eugénia, 2016: Compassion Between Humans Since When? What the Fossils Tell Us. Etnográfica [Online], vol. 20 (3) 2016. DOI: https://doi.org/10.4000/etnografica.4734

Degusta, David, 2003: Aubesier 11 Is Not Evidence of Neanderthal Conspecific Care. Journal of Human Evolution 45(1): 91-94

Degusta, David, 2002: Comparative Skeletal Pathology and the Case For Conspecific Care in Middle Pleistocene Hominids. Journal of Archaeological Science 29(12): 1435-1438

El Zaatari, Sireen, Grine, Frederick E., Ungar, Peter S., & Hublin, Jean-Jacques, 2011: Ecogeographic Variation in Neanderthal Dietary Habits: Evidence from Occlusal Molar Microwear Texture Analysis. Journal of Human Evolution 61(4): 411-424

Fitzsimmons, Kathryn E., Hambach, Ulrich, & Veres, Daniel, & Iovita, Radu, 2013: The Campanian Ignimbrite Eruption: New Data on Volcanic Ash Dispersal and Its Potential Impact on Human Evolution. PLoS ONE 8(6): e65839. doi:10.1371/journal.pone.0065839

Goodall, Jane, 1990: Through a Window: My Thirty Years with the Chimpanzees of Gombe. Boston: Houghton Mifflin

Lebel, Serge, & Trinkaus, Erik, 2002: Middle Pleistocene Human Remains from the Bau de l’Aubesier. Journal of Human Evolution 43(5): 659-685

Lebel, Serge, Trinkaus, Erik, Faure, Martine, et al., 2001: Comparative Morphology and Paleobiology of Middle Pleistocene Human Remains from the Bau de l’Aubesier, Vaucluse, France. Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America. 10.1073/pnas.181353998

Oxenham, Marc F., Tilley, Lorna, Matsumura, Hirofumi, et al., 2009: Paralysis and Severe Disability Requiring Intensive Care in Neolithic Asia. Anthropological Science 117(2): 107-112

Tilley, Lorna, 2013: Toward a Bioarchaeology of Care: A Contextualised Approach of Identifying and Interpreting Health-related Care Provision in Prehistory. February, 2013. A thesis submitted for the degree of Doctor of Philosophy of The Australian National University. https://openresearch-repository.anu.edu.au/items/46ca0970-f6e6-4130-b3a1-b79c66ea6fa1/full

Tilley, Lorna, & Cameron, Tony, 2014: Introducing the Index of Care: A web-based Application Supporting Archaeological Research into Health-related Care. International Journal of Paleopathology 6: 5-9

Tilley, Lorna, & Oxenham, Marc F., 2011: Survival Against the Odds: Modeling the Social Implications of Care Provision to Seriously Disabled Individuals. International Journal of Paleopathology 1(1): 35-42

Warneken, Felix, Hare, Brian, Melis, Alicia P., et al., 2007: Spontaneous Altruism by Chimpanzees and Young Children. PLoS Biology 5(7): e184. doi: 0.1371/journal.pbio.0050184.

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Author: Dr. habil. Heike Diefenbach
Michael Klein

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