Zehn Tage nach der Tötung zweier hochrangiger Feinde Israels in Teheran und Beirut ist weiterhin unklar, ob und wann der Iran und die libanesische Hisbollah die angedrohten massiven Vergeltungsschläge gegen Israel ausführen werden. Während die Bevölkerung in Israel sichtlich unbeeindruckt ihren Alltagsgeschäften nachgeht, sind die Streitkräfte des Landes seit Tagen in höchster Alarmbereitschaft. Die USA, Israels wichtigster Verbündeter, brachten zusätzliche Kriegsschiffe und Kampfflugzeuge in die Region.
Zugleich laufen Medienberichten zufolge hinter den Kulissen enorme Bemühungen, um die explosive Lage durch diplomatische Anstrengungen zu entschärfen. Im Mittelpunkt stehen dabei die seit Monaten feststeckenden indirekten Gespräche zwischen Israel und der radikalislamischen palästinensischen Hamas, um ein Ende des seit zehn Monaten dauernden Gaza-Kriegs einzuleiten und die Freilassung von mehr als 100 Geiseln in der Gewalt der Hamas zu erreichen. Dabei vermitteln die USA, Ägypten und Katar.
Vor dem «Jetzt-oder-nie-Moment»?
Eine geplante Gesprächsrunde am kommenden Donnerstag in Kairo oder in Doha könnte dabei entscheidend werden. Ihr gehen offenbar von Emissären der Vermittlerstaaten geführte intensive Verhandlungen zu Einzelaspekten der angestrebten Vereinbarung voraus, so etwa zur Frage der künftigen Sicherung der Grenze zwischen dem Gazastreifen und Ägypten.
«Die Ergebnisse der kommenden Woche», schrieb der israelische Journalist Barak Ravid im Portal «axios.com», «werden zeigen, ob die Region (…) in einem sich ausweitenden, immerwährenden Krieg versinkt oder ob es zum ersten Mal seit dem 7. Oktober (dem Beginn des Gaza-Kriegs) zu einem signifikanten Kurswechsel kommt.» Israelische Offizielle beschrieben gegenüber Ravid die Runde am Donnerstag als einen «Jetzt-oder-nie-Moment».
Die Hamas im Gazastreifen wird vom Iran unterstützt. Die proiranische Schiiten-Miliz Hisbollah schießt seit Beginn des Gaza-Kriegs mit Raketen und Drohnen auf den Norden Israels – aus Solidarität mit der Hamas, wie sie behauptet. Substanzielle Schritte zur Beilegung des Gaza-Kriegs erhalten dadurch zusätzliches Gewicht, dass der Iran und die Hisbollah in der Vergangenheit mehrfach betonten, die Feindseligkeiten gegen Israel herunterschrauben zu wollen, sobald Israel den Krieg in Gaza beendet.
Die Gefahr eines Flächenbrandes in der Region droht, seitdem vor zehn Tagen zwei führende Köpfe der Hamas und der Hisbollah bei Angriffen getötet wurden. Der Auslandschef der Hamas, Ismail Hanija, starb bei einer Explosion in seinem Zimmer in einem Gästehaus der iranischen Regierung in Teheran. Fuad Schukr, eine Art Militärchef der Hisbollah, war wenige Stunden zuvor durch einen Luftangriff in Beirut ums Leben gekommen. Seine gezielte Tötung reklamierte Israel für sich. Zum Mordanschlag auf Hanija äußerte es sich nicht. Teheran und die Hamas sehen allerdings die Urheberschaft Israels als gegeben an. Für beide Tötungen haben der Iran und die Hisbollah massive Vergeltung angedroht.
Spiel mit dem Feuer
Israel und seine Verbündeten gehen davon aus, eine große Zahl von Raketen, Marschflugkörpern und Drohnen mit modernen Abwehrsystemen weitgehend abfangen zu können. Sollten dennoch viele Menschen getötet werden, könnte Israel seinerseits mit massiver Vergeltung reagieren. Dies wiederum könnte eine unkontrollierbare Eskalation und einen großen Nahost-Krieg auslösen, auch wenn dies keine der Seiten beabsichtigt.
Größtes Hindernis bei den Gaza-Verhandlungen war zuletzt die unnachgiebige Haltung des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu. Durch immer neue Forderungen hatte er zuletzt Schritte zu einer Einigung blockiert und damit selbst die USA und die Spitzen des eigenen Sicherheitsapparates vor den Kopf gestoßen. Letztere nehmen auf der Grundlage der Anweisungen Netanjahus für Israel an den Gesprächen teil. Der Premier regiert in einer Koalition mit rechtsextremen und ultra-religiösen Parteien. Diese drohen mit einem Platzen der Regierung, sollte Netanjahu gegenüber der Hamas Zugeständnisse machen.
Proteste gegen «Sesselkleber» Netanjahu
In Tel Aviv und anderen israelischen Städten demonstrierten indes Tausende Menschen für ein Gaza-Abkommen, das zur Freilassung von 115 Geiseln in der Gewalt der islamistischen Hamas führen soll. «Das ist unsere letzte Chance, um einen Deal zu erreichen, der Leben rettet», sagte die Mutter eines Entführten auf der Kundgebung in Tel Aviv. «Netanjahu setzt weiter das Leben der Geiseln aufs Spiel, um seinen Thron behalten zu können», zitierte sie die Zeitung «Haaretz». Weitere Proteste gab es nach Medienberichten in Jerusalem, Haifa, Beerscheba sowie in Caesarea vor der privaten Villa Netanjahus.
Die islamistische Hamas und andere Gruppen aus dem Gazastreifen hatten am 7. Oktober des Vorjahres den Süden Israels überfallen, mehr als 1.200 Menschen getötet und weitere 250 als Geiseln verschleppt. Das beispiellose Massaker war Auslöser des Gaza-Kriegs, in dessen Zuge Israel danach trachtet, die Hamas und andere militante Gruppen im Gazastreifen zu zerschlagen.
Während einer kurzen Waffenruhe kamen mehr als 100 Geiseln frei, unter ihnen vor allem Frauen und ältere Menschen. Die Freigelassene berichteten von zum Teil unmenschlichen Bedingungen in der Geiselhaft, von Entbehrungen, Gewalttätigkeiten und psychologischem Terror. Die Hamas hat nach israelischer Zählung noch 115 Geiseln in ihrer Gewalt, von denen Israel 41 für tot erklärt hat. Überdies dürften viele weitere Geiseln, deren Schicksal unbekannt ist, nicht mehr am Leben sein.
Dutzende Tote nach Angriff auf Flüchtlingsunterkunft
Bei einem verheerenden israelischen Luftangriff auf ein Schulgebäude in der Stadt Gaza kamen am Samstag nach palästinensischen Angaben Dutzende Menschen ums Leben. Ein Sprecher des von der Hamas kontrollierten palästinensischen Zivilschutzes sprach von mindestens 93 Toten in dem als Flüchtlingsunterkunft genutzten Gebäude. Das israelische Militär bestätigte den Angriff, der einer Kommandozentrale der Hamas galt, die sich in dem angegriffenen Objekt befunden habe. Dabei seien mindestens 19 Kommandeure und Kämpfer der Hamas und des Islamischen Dschihad getötet worden.
Der Angriff sei in den frühen Morgenstunden erfolgt, als viele ihr Morgengebet verrichteten, berichteten Augenzeugen. Der Gebetsraum der Al-Tabain-Schule sei wiederum von den Militanten genutzt und deshalb angegriffen worden, erklärte die israelische Armee. Die Luftwaffe habe kleinkalibrige Raketen verwendet, weshalb die Opferzahl gar nicht so hoch sein könne. Die Angaben keiner der Seiten ließen sich unabhängig bestätigen.
Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell zeigte sich entsetzt über den Angriff. «Mindestens zehn Schulen wurden in den vergangenen Wochen ins Visier genommen. Es gibt keine Rechtfertigung für diese Massaker», schrieb er auf der Plattform X. Die US-Regierung zeigte sich «zutiefst besorgt» über die Berichte zu zivilen Opfern. «Wir stehen in Kontakt mit unseren israelischen Gesprächspartnern, die gesagt haben, dass sie hochrangige Hamas-Funktionäre ins Visier genommen haben, und wir bitten um weitere Einzelheiten», teilte ein Sprecher des Nationalen Sicherheitsrates mit.
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