Die geburtenstarken Jahrgänge kennen die Gräuelgeschichten vielfach aus Erzählungen der Eltern und Großeltern. Jedenfalls dann, wenn diese die Kraft fanden, über die erschlagenen, ermordeten und vergewaltigten Familienangehörigen, Freunden und Nachbarn zu berichten. Die jetzt nachfolgenden Generationen kennen die Überlebenden nicht mehr persönlich.
Im August 1945, wenige Monate nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, fanden in den ehemaligen deutschen Ostgebieten umfassende und brutale Vertreibungen der deutschen Bevölkerung statt. Diese Gebiete umfassten Schlesien, Pommern, Ostpreußen und das Sudetenland. Eine Gruppe von weit über zehn Millionen Menschen.
Die Vertreibungen wurden von den Alliierten beschlossen und genehmigt. Von einer „ordnungsgemäßen und humanen“ Umsiedlung der deutschen Bevölkerung aus diesen Gebieten konnte keine Rede sein. Die Realität vor Ort lieferte Bilder aus der Hölle.
Im August 1945 starteten die systematischen Vertreibungen jener Deutschen aus den Ostgebieten, die es nicht mehr rechtzeitig schafften, dem Grauen durch Flucht zu entrinnen. Die Menschen wurden ohne Vorwarnung aus ihren Häusern vertrieben. Sie konnten noch froh sein, mitnehmen zu dürfen, was sie tragen konnten.
Ganze Familien, vom Greis bis zum Kleinkind, wurden zu Fuß oder in überfüllten Lastwagen und Zügen in Richtung Mitteldeutschland getrieben. Die Männer waren entweder im Krieg geblieben oder in Gefangenschaft geraten.
Es war nicht die Ausnahme, sondern die Regel, dass diese Vertreibungen mit Gewalt, Misshandlungen und Vergewaltigungen einhergingen. Todesmärsche Richtung Westen. Erschlagen, erschossen, zu Tode vergewaltigt, ertränkt und erwürgt. Hinzu kam Hunger, Krankheiten und Erschöpfung. Frauen, Kinder und ältere Menschen waren fast ausnahmslos von diesen Schrecken betroffen.
Die Ostdeutschen wurden vertriebenen, ohne dass sich die Organisatoren dieser gigantischen ethnischen Säuberungen auch nur einen Gedanken darüber gemacht hätten, wie das biblische Massensterben auf diesen Vertreibungen verhindert werden kann. In der Folge gab es kaum Nahrungsmittel, keinerlei medizinische Versorgung, geschweige denn geeignete Unterkünfte. Nur wenige überlebten die Strapazen. Und diejenigen, die überlebten, vergaßen niemals mehr die Bilder der Leichen am Wegesrand.
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Historiker erfanden den Begriff der „wilden Vertreibungen“, fast so, als könne es friedliche oder zivilisierte Vertreibungen geben. Es gab kaum Kontrollen und keine internationale Aufsicht.
Im Internet gibt es verschiedene Quellen, die Augenzeugenberichte und Dokumentationen über die Vertreibungen der Deutschen aus den Ostgebieten sammeln oder gesammelt haben. So bietet das Bundesarchiv Zugang zu einer Vielzahl von historischen Dokumenten, darunter auch Augenzeugenberichte und andere Primärquellen zur Vertreibung der Deutschen.
Die Berliner Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ bietet Interessierten ein Dokumentationszentrum nebst Museum, das sich mit den Vertreibungen befasst. Auch die Deutsche Digitale Bibliothek verschafft Zugang zu digitalisierten Dokumenten und einer Sammlung an Fachliteratur. Zudem gibt es eine Vielzahl von Foren und Gedenkseiten, die über Jahrzehnte hinweg Berichte, Fotos und Dokumente von Augenzeugen gesammelt haben.
Noch sind diese Geschichten nicht vergessen. Noch gibt es Menschen, die – oft aus persönlicher Leiderfahrung oder als Angehörige – das Erinnern an ihre Toten pflegen. Die so konservierten Augenzeugenberichte sind das Vermächtnis der Namenlosen, der vergewaltigten deutschen Frauen, der verhungerten und erfrorenen Kinder und der erschlagenen Alten.
Die Einstufung dieser Vertreibungen als Genozid ist umstritten. Es mag durchaus Aspekte der Vertreibungen geben, die auch Historiker in die Nähe eines Genozids rücken könnten, insbesondere hinsichtlich der Gewalt und der Tötungen. Fachleute sind sich indes überwiegend einig, dass es sich bei den Vertreibungen der Deutschen um einen barbarischen Akt der ethnischen Säuberung und der schweren Menschenrechtsverletzungen handelte.
Aktuell ist jenes Jahrzehnt der Deutschen angebrochen, in welchem die letzten Überlebenden dieser ethnischen Säuberungen aus Altersgründen versterben. Mit ihnen stirbt die persönliche Erzählung. Noch gibt es ein sehr kleines Zeitfenster, diese Erinnerungen zu konservieren.
Dafür steht uns heute ein breites Angebot an technischen Aufnahmemöglichkeiten und digitalen Verbreitungsorten zur Verfügung. Nutzen wir die Gelegenheit, bevor die direkte Erinnerung ganz verloren gegangen ist. Wir sind es den zehntausenden namenlos am Wegesrand verscharrten Kindern schuldig.
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Author:
Alexander Wallasch