Der Großvater legte beim Hinaufgehen immer die Arme auf seinen Rücken und ähnelte damit in der Haltung einem Eisschnellläufer, nur eben viel langsamer in der Fortbewegung. Die Großmutter hatte einen mit vielen kleinen Metallplaketten benagelten Spazierstock dabei – der Stock muss schon den ganzen Harz von Bad Harzburg bis Torfhaus durchwandert haben – den sie allerdings viel öfter über dem Arm trug, als sich tatsächlich darauf abzustützen.
In den kälteren Monaten trug sie dazu eine gestrickte Wollmütze auf dem Kopf, durch dessen Maschen ihr in einem Haarnetz verstecktes langes graues Haar zu sehen war. Mein Bruder und ich stritten neulich einmal darüber, welche Farbe die Mütze hatte, ich dachte lila, er war sich aber sicher, dass es eine senffarbene gewesen sei, wahrscheinlich besaß sie beide und trug sie nur abwechselnd nach Laune.
Der Weg hinauf in den Wald führte am alten Friedhof vorbei, ein Besuch bei der Urgroßmutter, die gut behütet nahe der dunklen Holzkapelle lag, war hier obligatorisch. Und weil man schon dort war, wurde etwas am Heidekraut gezupft und die welken Blumen aus der grünen Plastikvasen entfernt, das abgestandene Wasser roch nach faulen Eiern.
Weiter in den Wald hinauf musste eine Wildschutztür geöffnet und sorgsam wieder geschlossen werden, damit keine Tiere entwichen, sie fiel knarzend ins Schloß. Rehe waren aber kaum zu sehen auf dem Rundgang durch den Wald. Der ging einmal um den gesamten Ort herum, um dann oberhalb der Kirche wieder hinabzusteigen – nicht ohne dem kleinen „Liebespavillon“ mit romantischem Blick ins Tal einen Besuch abzustatten und die Krieger-Gedenkstätte beim Hinabsteigen zu besuchen.
Hier konnte man auf schiefernen Tafeln nachlesen, welche Männer aus welchen Familien der erste und welche der zweite Krieg geholt hatte. Die Oma kannte sie alle und erzählte abwechselnd, was ihr von den Familien in Erinnerung geblieben war. Dem einen war die Frau früh im Kindbett gestorben, der andere war früh Waise, weil der Vater im Stollen geblieben ist.
Heute geht man diesen Waldrundgang meistens allein, nirgends ist eine Menschenseele uunterwegs und auch der Ort liegt immer öfter still dort unten im Tal, kein Sägen, kein Hämmern, kein fröhliches Rufen.
Vor fünfzig Jahren – so lang ist das alles schon her – war hier ein reges Treiben. Die Großmutter erklärte uns früh, dass die Kurgäste die hier ebenfalls unterwegs waren, immer freundlich zu grüßen seien. Viele kamen aus dem entfernten Berlin. Und wir machten rege Gebrauch davon, bis die Oma mahnend meinte, dass wäre wohl doch etwas zu viel des Guten, einmal reiche doch, man müsse den Leuten das „Hallo“ nicht unbedingt zehn Mal hinterherrufen. Sicherheitshalber steckte jedem einen Stachelbeerbonbon aus der Jackentasche in den Mund, ich erwischte immer das Grüne, das saurer war als das rote, an dem der Bruder lutschte. Grinsend über diesen Vorteil steckt er die rote Zunge immer wieder in meine Richtung heraus und wedelte dabei mit den Armen.
Aber so oft hier „Hallo“ und „Guten Tag“ gewünscht wurde, war ein anderer Ruf noch deutlich häufiger. Der Wald ist heute licht, damals war er dicht. Und aus dem dichten Wald schossen kleine rote Gesellen mit buschigem Schwanz, wenn man nur ausdauernd genug „Nuss-Nuss-Nuss!“ rief.
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Wir hatten immer Sorge, bei kommenden Besuchen keine mehr anzutreffen, aber sie kamen doch immer wieder um die mitgebrachten Haselmüsse zu nehmen. Jeder Kurgast hatte welche dabei. Meistens warfen sie die Nüsse einfach nur hin. Nur die alten Hasen wussten, wie man sie sich von der Hand nehmen lassen kann, wenn man nur in die Hocke ging und geduldig genug lockte: „Nuss-Nuss-Nuss!“ Die Belohnung war eine ganz zarte unvergessliche warme Berührung. Nur ein leichtes Kratzen in der Handinnenfläche, ein Huschen, das war es schon und das kleine Eichhörnchen schon wieder entschwunden.
Heute, ein halbes Jahrzehnt später, sind die Pfifferlinge wieder da, aber die Eichhörnchen kamen nie zurück. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wann sie in so großer Zahl verschwanden. Es muss mit dem Wegbleiben der Kurgäste passiert sein, deren Kuren irgendwann einfach nicht mehr bezahlt wurden. Eine finanzielle Katastrophe für viele Bewohner war das.
In den Jahren danach hatte der Ort ein Identifikationsproblem: Was und wie wollte man sein? Das Wassertretbecken wurde nicht mehr gepflegt, wo man sich mitten im Wald früher noch anstellen musste. Und die einst sprudelnde Quelle des Kaisers war nur noch ein dünnes schmutziges Rinnsal. Sah der Wald früher aufgeräumt und wie gehakt aus, bleiben die gefallenen Bäume einfach liegen. Die Großmutter hatte immer einen leeren Beutel dabei um Tannzapfen aufzuklauben, die zuerst in den Ofen auf die brennende geknüllte Zeitung wanderten um dann knisternd das Holz zu entzünden.
Wir waren wohl sieben oder acht Jahre alt und dürften allein in den Wald. Und wir hatten uns einen Plan gemacht. Wir wollten unbedingt so ein Eichhörnchen besitzen, es mal knuddeln, es ganz aus der Nähe liebhaben. Der Bruder schlich in Großvaters Schuppen und versteckte einen der dicken Gartenhandschuhe unter dem Pullover und ich holte ein paar „Nuss-Nuss-Nuss!“-Nüsse von der Oma.
So schnell und aufgeregt flitzten wir damals selten am Friedhof vorbei in den Wald. Es muss wohl zur Kaffeezeit gewesen sein, denn wir brauchten nicht lange warten, bis keiner der Kurgäste mehr zu sehen war. „Nuss-Nuss-Nuss!“ , „Nuss-Nuss-Nuss!“ und noch einmal „Nuss-Nuss-Nuss!“. Und dann kam schon ein rotbraunes knuffiges Exemplar, dass besonders zutraulich war auf meine Hand und der Bruder griff beherzt zu.
Die Verwandlung war wirklich atemberaubend. Das Eichhörnchen wurde zum Löwen und biss mit seinen Nagezähne beherzt durch den Handschuh, der Bruder ließ sofort los, dass Hörnchen verschwand an der nächsten Tanne empor, der Bruder schrie spitzt auf und riss sich den Handschuh von der Hand. Im Daumenballen sah man zwei saubere kleine Löcher, es blutete, wir schauten uns mit aufgerissenen Augen und waren uns sofort einig: Das erzählen wir aber besser nicht der Großmutter.
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Author:
Alexander Wallasch