Früher war Deutschland die DIN-Nation der Zuverlässigkeit. Heute zählen wir uns lässig an die Weltspitze der Lachnummern: Die Bahn schafft Pünktlichkeit wie BER Baustellenfreiheit – und jetzt stolpert sogar das Auszählen.
In Mülheim an der Ruhr passierte, was in Filmen die Pointe wäre: In einem Briefwahlbezirk wurden die Stimmen vertauscht – die der SPD-Kandidatin Nadia Khalaf landeten beim CDU-Amtsinhaber Marc Buchholz, und umgekehrt. Nach der Korrektur liegt Buchholz nun mit mehr als 100 Stimmen vorne; zunächst war Khalaf am Wahlabend mit 67 Stimmen Vorsprung zur Siegerin erklärt worden. Amtlich wird das Ergebnis voraussichtlich am Donnerstag, 2. Oktober. Denn erst dann kommt der Wahlausschuss zusammen.
Die Stadt selbst räumt die Panne ein: Routineprüfung, vertauschte Stimmen, Korrektur. Klingt nach Beamtenpoesie – ist aber real. Betroffen war laut „Westdeutscher Allgemeiner Zeitung“ (WAZ) der Briefwahlbezirk 0602 in Holthausen-Süd; dort verschoben sich durch die Fehlzuordnung 120 Stimmen. Und plötzlich ist der Abend rot – oder eben schwarz. Je nachdem, wen man fragt.
Die Szene ist grotesk: Jubel hier, Kater dort – und am Morgen danach heißt es „Sorry, Zahlendreher“. Böse Zungen raunen seit Jahren, beim Zählen gehe nicht immer alles mit rechten Dingen zu. In diesem Fall spricht viel für pure Blödheit. Aber seit wann ist Blödheit eine Entschuldigung?
Genau deshalb fühlen sich jetzt jene bestätigt, die seit langem warnen: Es braucht keine finstere Verschwörung – schon die amtliche Schlampigkeit genügt, um Vertrauen zu zersetzen. Und wer kritische Fragen stellt, hat wieder einmal die Realität auf seiner Seite: Die Panne erledigt die Arbeit der Skeptiker von ganz allein.
Das Debakel im Detail: Die SPD verkündet am Sonntagabend 50,07 Prozent, 24.827 Stimmen; Buchholz 49,93 Prozent, 24.760 Stimmen. Dann die Rückwärtsrolle: Korrektur, CDU vorn, Stimmen im falschen Körbchen. Der Rest ist Verwaltungslyrik: „korrigiertes Endergebnis“, „Bestätigung durch den Wahlausschuss“. Wenn’s nicht so ernst wäre, man müsste lachen.
Früher war Deutschland das Land der Ingenieure. Heute das Land der Entschuldigungen. Früher exportierten wir Autos. Heute Ausreden. Früher vertrauten andere auf unsere Präzision. Heute sind wir ein Fall für Comedy-Autoren.
Die größere Pointe
Wir haben uns daran gewöhnt, dass Züge ausfallen, damit Statistiken glänzen; dass Großprojekte schon repariert werden müssen, bevor sie eröffnen; dass Behörden „vorläufige Endergebnisse“ ausrufen, die sich anfühlen wie Wetterberichte. Wer einmal ein Bürgeramt besucht hat, weiß: Deutschland ist heute das Land, in dem Termine länger dauern als Kriege. Die Republik der Zwischenstände. Mülheim ist kein Ausrutscher – es ist ein Symptom.
Und jetzt?
Jetzt wird erklärt, geprüft, bestätigt. Es wird niemandem weh tun, außer dem ohnehin minimalen Restvertrauen der Bürger. Früher kopierte die Welt unsere Solidität. Heute schüttelt sie den Kopf über unsere Ausreden – und versucht, uns nicht zu kopieren. Vom Vorbild wurden wir zum abschreckenden Beispiel. Wir schaffen das – zur Not rückwirkend.
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