Manchmal besteht der Skandal nicht in dem, was passiert – sondern in dem, was nicht passiert.
Sechs Todesfälle unter Kandidaten einer einzigen Partei vor einer Wahl – und kaum ein Aufschrei. Keine Sondersendung, keine Hintergrundrecherche in der ARD, kein „Faktencheck“ von Correctiv. Stattdessen: Stille. Oder bestenfalls Randnotizen. Dabei ist das, was sich vor der Kommunalwahl in Nordrhein-Westfalen abspielt, in jeder Hinsicht ungewöhnlich. Nicht nur wegen der Zahlen. Sondern wegen der Reaktionen. Oder eben: des Ausbleibens.
Dabei wären die Fakten bekannt: Vier verstorbene Direktkandidaten der AfD – und schon mussten in mehreren Wahlbezirken Briefwahlunterlagen eingezogen und neu gedruckt werden. Jetzt wurde bekannt: Auch zwei Reservelisten-Kandidaten sind gestorben. Einer an Nierenversagen nach Lebererkrankung. Einer durch Suizid. Die anderen vier – alle mit Vorerkrankungen – starben eines natürlichen Todes. Soweit die nüchternen Befunde.
Doch auch nüchterne Befunde haben Nebenwirkungen – wenn man sie kommentarlos stehenlässt.
Gottschalks Gelassenheit – und Brandners Brandrede
Die AfD selbst wirkt gespalten im Umgang mit dem Thema. Der nordrhein-westfälische Landesvize und Bundestagsabgeordnete Kay Gottschalk gibt sich abgeklärt. Er sieht keinen Grund zur Annahme, dass es sich nicht um einen Zufall handele. Was ihm vorliege, spreche nicht für einen übergeordneten Zusammenhang. Aber: „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“, sagt er im „Politico“-Podcast. Man wolle die Fälle prüfen – aber ohne ins verschwörungstheoretische Fahrwasser zu geraten.
Anders klingt das bei Stephan Brandner, ebenfalls AfD-Vizechef, aber auf Bundesebene, und ebenfalls Bundestagsabgeordneter. „Statistisch auffällig und schwer erklärbar“, nennt er die Häufung. Und fügt an: „Ich habe noch nie erlebt, dass in diesem Maße Politiker einer Partei vor einer Wahl versterben.“
Gottschalk will beruhigen, Brandner wirkt alarmiert. Der eine sieht keinen Anlass zur Sorge, der andere spricht von einer „statistisch auffälligen“ Häufung. Vielleicht meint Brandner damit genau das, was sich viele nicht auszusprechen trauen: Dass sechs Todesfälle innerhalb weniger Wochen auch dann besorgniserregend sein können, wenn es keinen äußeren Täter gibt – sondern ein Klima, das Menschen zermürbt.
Was macht das mit anderen Kandidaten – mit denen, die noch im Wahlkampf stehen? Wie fühlt es sich an, wenn in der eigenen Partei plötzlich Menschen sterben, einer sogar durch eigene Hand? Was passiert mit dem Mut, mit dem Durchhaltewillen, mit der inneren Stabilität? Auch das gehört zu dieser Geschichte – gerade wenn sie kein Skandal, sondern einfach nur tragisch ist.
Auch AfD-Parteichefin Alice Weidel sprach auf X von einer „statistisch fast unmöglichen“ Häufung – und bestätigte damit, wie stark die Irritation auch innerhalb der Partei ist.
Dass einer der sechs Fälle ein Suizid war, passt leider erschreckend gut in dieses Bild. Denn was, wenn der eigentliche Täter kein Mensch ist – sondern der Druck, der entsteht, wenn sich Kandidatur und Lebensrealität nicht mehr miteinander vereinbaren lassen?
Denn zwischen einem harmlosen Zufall und einer dunklen Verschwörung liegt eine Erklärung, die weder spekulativ noch spektakulär ist – aber umso näher: psychischer, sozialer und gesundheitlicher Druck.
Und gerade deshalb stellt sich eine Frage, die viele nicht einmal zu denken wagen: Wäre die Reaktion dieselbe, wenn es sich um sechs verstorbene Kandidaten der SPD gehandelt hätte? Oder der Grünen?
Würde man dann auch so nonchalant von „Zufall“ sprechen? Oder gäbe es längst Sondersendungen, Brennpunkte und eine eigens eingerichtete Taskforce?
Doch der Gedanke an einen Zusammenhang zwischen den Todesfällen jenseits jeder Verschwörung und „finsterer Kräfte“ – so einfach und so menschlich er auch ist – fällt heute schon unter Verdacht. Und das ist der eigentliche Elefant im Raum.
Dabei reicht oft ein nüchterner Blick auf die Realität: Wer sich heute offen zur AfD bekennt, zahlt fast immer einen Preis. Beruflich. Privat. Sozial. Eine alte Freundin muss allein dafür, dass sie offen Sympathien für die AfD bekundet, mit sozialer Isolation bezahlen – es geht so weit, dass Kinder und Enkel nicht mehr mit ihrer Mutter sprechen. Und der Fall meiner Freundin ist kein Einzelfall.
Wir leben in einer vergifteten Gesellschaft, in der gerade diejenigen Hass und Hetze verbreiten, die vorgeben, gegen Hass und Hetze zu kämpfen – ohne die eigene Schizophrenie zu bemerken. Ein Sinnbild dafür: Auf Anti-AfD-Kundgebungen stehen „Gegen den Hass“ und „Ganz Berlin hasst die AfD“ oft nur wenige Meter voneinander entfernt.
Dass dieser Hass nicht nur aufs Gemüt, sondern auch auf die Gesundheit schlägt, ist fast zwangsläufig.
Eine Kandidatur für die AfD ist in einem solchen Klima, das an die fanatische Kommunistenjagd der McCarthy-Ära erinnert, keine bloße Meinungsäußerung mehr, sondern eine Kampfansage – an ein System, das seinerseits zurückschlägt. Nicht mit Gewalt, aber mit Ausgrenzung. Nicht mit Waffen, aber mit Drohungen, Mobbing, Rufmord. Wer da mit angeschlagener Gesundheit oder labiler Psyche in den Wahlkampf zieht, lebt gefährlich – auch ohne Attentäter.
Wer immer wieder sieht, dass Themen verschwinden, dass Maßstäbe verrutschen, dass Kritik oder Hinweise auf Widersprüche als „Verschwörungsmythen“ diffamiert werden, der fragt sich irgendwann: Wenn schon so viel tabuisiert und verschwiegen wird – was wird dann noch alles verschwiegen? Und genau daraus entsteht das Misstrauen, das dann gerne klischeehaft als „Verschwörungstheorie“ etikettiert wird. Dabei ist es oft nur die logische Folge eines Vertrauensbruchs.
Dass in diesem Klima selbst bei nachweislich natürlichen Todesursachen Spekulationen entstehen, zeigt vor allem eines: Viele Menschen trauen diesem Staat inzwischen alles zu – nicht, weil sie paranoid sind, sondern weil ihr Vertrauen systematisch zerstört wurde.
Natürlich: Sechs Todesfälle bedeuten nicht automatisch einen Zusammenhang. Wer das behauptet, argumentiert unseriös. Aber wer sagt, das sei ein reiner Zufall – und keine genauere Betrachtung wert –, macht es sich noch einfacher. Der eigentliche Skandal ist nicht das traurige Ereignis, sondern der Umgang damit.
Denn wer das Vertrauen der Öffentlichkeit wiederherstellen will, muss mehr tun als beschwichtigen. Er muss aufklären, fragen, sortieren. Und vor allem: Er muss zeigen, dass alle Kandidaten, egal welcher Partei, dieselbe Würde verdienen. Auch im Tod.
Was bleibt, ist ein Bild des Zerfalls: Sechs Namen, sechs Todesanzeigen, sechs Mal die gleiche Frage – aber ein regelrechtes Wegsehen – ja, ein Weglaufen – vor Antworten. Und ein medialer Raum, der so still bleibt, dass es wehtut. Dabei wäre gerade jetzt die Zeit für Aufklärung. Für Empathie. Für Haltung. Nicht im neuen, ideologischen Wortsinn à la WDR-Restle – sondern im ursprünglichen, demokratischen (den ich mir nicht von den öffentlich-rechtlichen Kulturkriegern nehmen lassen möchte).
Vielleicht ist das Verstörendste an diesen sechs Todesfällen nicht, was sie auslösen – sondern was sie nicht auslösen. Keine gemeinsame Schweigeminute. Keine Geste der Anteilnahme. Kein Innehalten.
Dabei wären genau das die einfachsten Zeichen eines funktionierenden Gemeinwesens: Trauer, wo jemand stirbt. Respekt, wo jemand kandidiert. Anstand, wo der politische Streit endet.
Sechs Menschen sind gestorben. Sie hatten Familien, Freunde, Hoffnungen. Ihnen gilt – jenseits aller Debatten – mein Mitgefühl. Und ihren Angehörigen: Meine aufrichtige Anteilnahme. Ich wünsche ihnen Kraft in einer Zeit, in der selbst der Tod politisiert wird.
Anmerkung: Ich habe hier über das Thema Suizid berichtet. Es ist nicht ausgeschlossen, dass depressiv veranlagte Menschen sich nach Berichten dieser Art in der Ansicht bestärkt sehen, dass das Leben wenig Sinn habe. Sollte es Ihnen so ergehen, kontaktieren Sie bitte umgehend die Telefonseelsorge. Hilfe finden Sie bei kostenlosen Hotlines wie 0800-1110111 oder 0800-3344533.
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