• 7. Oktober 2024

Willkommen zu Hause – Willkommen in der inneren Emigration

ByJörg

Okt 7, 2024

Und es ist nicht schwierig, diese Entfremdung zu beschreiben: Zu viele neue Regeln des Zusammenlebens, zu vieles, das früher richtig erschien, soll plötzlich falsch sein: Falsches Essen, falsche Mobilität, falsche politische Einstellung, falscher Mensch. Und sowieso zu viele Ausländer auf den Straßen.

Man könnte hier auf die Idee kommen, dass die Heimatliebe in den Deutschen nicht so stark verankert sein kann, wenn sie so schnell so schwer zu erschüttern ist. Schnell?

Heute Vormittag telefonierte ich mit meinem ältesten Freund. Er arbeitet seit vierzig Jahren als Schäfer und hat schon lange seine eigene große Schäferei. Der Freund erzählte mir, dass er sich im November einen Traum erfüllen wolle: Er fliegt auf die Philippinen, will sich dort ein BMW-Motorrad kaufen und Land und Leute entdecken. Um irgendwelche Abenteuer – ich fragte natürlich nach – mit Frauen gehe es, wenn, dann wirklich nur am Rande.

Und ich glaube ihm. Denn mein Freund ist tatsächlich, was man eine ehrliche Haut nennt. Und er ist es uneingeschränkt. Er wolle auch keine Fotos mehr machen, alles bleibe im Kopf. Und was verloren gehe, sei eben nicht so wichtig gewesen.

Nun mag es daran liegen, dass ich selbst viele Kinder habe und mich gar nicht mehr daran erinnern kann, mal irgendwas mit mir allein ausgemacht zu haben. Meistens dreht sich bei uns alles darum, gemeinsame Probleme zu bewältigen. So ist es auch mit positiven Erlebnissen. Wenn mich jemand fragt, was unser Rezept ist, wie man in diesen Zeiten eine Familie zusammenhält, dann verweise immer zuerst auf unsere gemeinsamen Urlaube. Sie sind rückblickend der Kitt. Auf sie kann man zurückschauen wie auf etwas Außergewöhnliches, das lange nachhallt.

Ist Familie der Ursprung jedes Heimatgefühls? Da war ich mir heute früh im Gespräch mit meinem Freund gar nicht mehr so sicher. Denn ich entdeckte etwas, dass ich nicht besonders gut beherrsche: Mein Freund hat seine Heimat schon lange in sich selbst gefunden. Das muss er jahrzehntelang auf den Feldern, Wiesen und Deichen allein mit seinen Schafen gelernt haben: Er trägt Heimat ins sich, er ist in ihr zu Hause.

Der Gedanke hat mich nachdenklich gemacht. Ich empfand es zunächst so, als sei da auch viel Einsamkeit im Spiel. Aber der Freund klang dabei alles andere als einsam. Er bezeichnete sein Vorhaben als Erfüllung eines Lebenstraums. Und da wurde mir klar, dass das die Kür sein muss: Die Heimat in sich selbst gefunden zu haben. Das muss ein Verwandter des Satzes sein, mit sich im Reinen zu sein.

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Ich bin auch davon überzeugt, dass das noch etwas anderes ist, als das, was man „innere Emigration“ nennt. Das was ich bei meinem Freund entdeckt habe, kommt mir souveräner, selbstbewusster und stabiler vor, als eine innere Emigration, welche die Haltung von Menschen beschreibt, die sich in Diktaturen als Dissidenten in sich zurückziehen.

Eine Freundin meiner Mutter war die Tochter von Gerta Overbeck, Malerin und Mitbegründerin der Neuen Sachlichkeit. Ihre feinen aber dabei bodenständigen, bisweilen tiefgründigen Bilder begleiten mich schon ein ganzes Leben lang, denn einige davon hängen im Haus meiner Mutter. Aber es sind nicht die Frühwerke der Malerin, sondern Werke aus ihrer inneren Emigration vor den Nazis, einfache Hinterhofszenen, Häuser und Landschaften der Umgebung, mit denen auch ich hier aufgewachsen bin, die ich teilweise wiedererkenne.

Diese Bilder – meistens in viel kleineren Formaten als die Frühwerke der Künstlerin, die ihren Ruhm begründeten – bilden allesamt Heimat ab. Sie sind dennoch Spiegelbild einer Flucht vor der eigentlichen Heimat der Malerin. Sie sind zum Teil sogar von einer merkwürdigen Unbeseeltheit und Teilnahmslosigkeit gezeichnet. Spontan fällt mir die bemalte weiße Kachel mit dem blauen Pferdchen ein. Nur ein paar Striche und fertig. Mehr als Alltagsgrafik, aber außer einer leisen Tristesse ist das nicht mehr als eine bildgewordene innere Emigration.

Dann wäre da noch die 96 Jahre alte Tante. Sie ist geistig und körperlich noch gut auf der Höhe, wie man so sagt. Sie meint aber immer öfter, langsam keine Lust mehr zu haben. Sie kenne sich nicht mehr aus, dass sei nicht mehr ihr Land. Die Tante hat als junge Frau den Krieg erlebt, die furchtbaren Vertreibungen, den Wiederaufbau, die Wiedervereinigung. Sie lebt weiter in der gewöhnten Umgebung, in der Wohnung, die sie über ein halbes Jahrhundert mit ihrem Mann geteilt hatte, ihre Schwester wohnt ein Haus weiter.

Hat sich die Tante entfremdet, weil sich das Land zu schnell verändert hat? Oder ist das einfach der Zahn der Zeit samt aller Herausforderungen des Alterns? Passiert diese Entfremdung automatisch und unweigerlich? Dafür spricht, dass die Tante öfter davon erzählt, dass die meisten ihrer Freunde und Bekannten schon verstorben sind, sie sei irgendwie übriggeblieben.

Von der Tante würde ich dennoch Ähnliches sagen, wie über den besten Freund. Beide sind auf besondere Weise in sich verankert. Sie tragen, was andere im Äußeren und den Menschen suchen, in sich selbst. Klingt das nicht beneidenswert: in sich selbst zu Hause zu sein?

Wie eingangs geschrieben, lese ich es seit Jahren in den Kommentaren: „Das ist nicht mehr mein Land, das ist nicht mehr meine Heimat.“ Und ich weiß natürlich auch, was damit gemeint ist. Die Gänge in die Stadt werden seltener, die Entfremdung wird größer, Gewohnheiten gehen verloren, angefangen damit, dass der Zwangsgebührenfernseher kalt bleibt.

Hier ließe sich einwenden, dass man mit dem Fortschritt gehen muss. Aber die Digitalisierung, die Veränderung des Mobilitätsverhaltens oder die Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens an sich, sind das eine. Auf der anderen Seite steht eine ideologisch-politische Agenda, die von der Massenzuwanderung bis zur Klimaapokalypse suggerieren will, dass es sich um Veränderungen handle, denen gegenüber man sich nicht sperren könne und dürfe.

Aber mindestens die illegale Massenzuwanderung ist kein Naturereignis, sondern von Ideologen gemacht. Menschengemacht. Wer hier seine angestammte Heimat bedroht sieht, der neigt nach den vielen Jahren einer fortwährenden Zuwanderung zur Resignation: Das ist nicht mehr meine Heimat.

Wie wertvoll ist es dann, wenn man seine Heimat in sich trägt, samt Wertekanon und aller Liebe zum Eigenen? Wie man lernen kann, was dem einen gelingt und dem anderen weniger, dass bleibt allerdings ein Geheimnis – vielleicht sogar die Challenge des Lebens.

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Author:
Alexander Wallasch

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