Am Vorabend des Besuchs von Bundesaußenministerin Annalena Baerbock haben in Israel erneut etliche Menschen für ein Geisel-Abkommen im Gaza-Krieg demonstriert. Seit den Massenprotesten vom vergangenen Wochenende, als Hunderttausende nach dem Fund von sechs Geisel-Leichen gegen die Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu auf die Straße gingen, hat die Zahl der Teilnehmer der täglichen Demonstrationen jedoch deutlich abgenommen. Netanjahu gibt sich unnachgiebig. Es sei kein Deal in Sicht, sagte er dem US-Sender Fox News. Was Baerbock bei ihren heutigen Gesprächen mit Regierungsvertretern in Israel bewirken kann, bleibt abzuwarten.
Baerbock beginnt Gespräche in Israel
Angehörige der Geiseln werfen der Regierung von Netanjahu vor, ein Abkommen zu sabotieren. «Dies ist die letzte Chance», skandierten die Demonstranten am Abend in Tel Aviv. Dort will Baerbock am Vormittag zunächst ihren Kollegen Israel Katz treffen. Anschließend will sie Verteidigungsminister Joav Galant sprechen. Bei ihren Gesprächen dürften die stockenden Bemühungen der Vermittler USA, Katar und Ägypten im Mittelpunkt stehen, eine Waffenruhe und die Freilassung der Geiseln in Gaza zu erzielen. Die US-Regierung hatte am Mittwoch mitgeteilt, 90 Prozent des Abkommens seien vereinbart.
Netanjahu machte jedoch erneut klar, dass er an einer dauerhaften Präsenz israelischer Truppen am sogenannten Philadelphi-Korridor im Süden Gazas festhalten werde. Dies ist derzeit der Hauptstreitpunkt bei den indirekten Verhandlungen. Bei dem Philadelphi-Korridor handelt es sich um einen etwa 14 Kilometer langen Streifen an der Grenze des Gazastreifen zu Ägypten, dessen Kontrolle nach Netanjahus Darstellung gewährleisten soll, dass die Hamas keine Waffen in den abgeriegelten Küstenstreifen schmuggeln kann. Es sei eine Position, die bei vielen Israelis Anklang finde, schrieb das «Wall Street Journal».
Bericht: Netanjahu lassen Proteste unbeeindruckt
In Israel seien zwei Stimmungen vorherrschend: der Wunsch, dass die verbleibenden Geiseln in der Gewalt der Hamas freikommen, und Misstrauen gegenüber Netanjahu. Gleichzeitig befürchteten viele, dass ein Abkommen mit der Hamas dazu führen könnte, dass sich die Terrororganisation wieder neu gruppiere und erstarke, schrieb die Zeitung. Sie zitierte eine Umfrage des Jewish People Policy Institute, wonach 49 Prozent der jüdischen Israelis der Ansicht seien, Israel dürfe die Kontrolle über den Korridor nicht aufgeben, selbst wenn dies auf Kosten eines Geisel-Deals ginge. 43 Prozent meinten, Israel solle dies tun.
Die Mehrheit in Netanjahus Koalition aus rechten, ultranationalistischen und religiösen Partnern stimme mit seiner Haltung bei den Verhandlungen überein und betrachte die Protestierenden auf der Straße nicht als ihre Wähler, schrieb das «Wall Street Journal». Sie wüssten, dass vielleicht die meisten Demonstranten dieselben seien, die vergangenes Jahr gegen die Pläne zur Justizreform protestierten. «Es ist ihnen egal, ob es die Mehrheit ist», sagte Dahlia Scheindlin, Expertin für öffentliche Meinung in Israel, der Zeitung. Wer die Koalitionsregierung unterstütze, stimme auch Netanjahus Haltung in Gaza zu. Entsprechend umgekehrt sei es bei denen, die ohnehin gegen Netanjahu seien, schrieb die US-Zeitung.
UN beklagen humanitäre Lage im Gazastreifen
Während das Gezerre auf der innen- und außenpolitischen Bühne weitergeht, ist die humanitäre Lage im Gazastreifen nach Angaben der Vereinten Nationen nach wie vor «mehr als katastrophal». Mehr als eine Million Palästinenser hätten im August keine Lebensmittelrationen auf humanitärem Weg erhalten, sagte UN-Sprecher Stéphane Dujarric in New York. Die Zahl der täglich gekochten Mahlzeiten sei im Vergleich zum Juli um 35 Prozent auf 450 000 zurückgegangen. Er führte den drastischen Rückgang der gekochten Mahlzeiten teils auf die mehrfachen Evakuierungsbefehle der israelischen Armee zurück.
Dadurch seien mindestens 70 von 130 Küchen dazu gezwungen worden, ihren Betrieb entweder einzustellen oder zu verlagern. Die Partner der Vereinten Nationen verfügten außerdem den zweiten Monat in Folge nicht über ausreichende Nahrungsmittelvorräte, um den Bedarf im zentralen und südlichen Gazastreifen zu decken, beklagte Dujarric.
UN-Sprecher: Journalisten dürfen nicht über humanitäre Lage berichten
Er führte die andauernden Feindseligkeiten, die Unsicherheit, die beschädigten Straßen, den Zusammenbruch von Recht und Ordnung und die Zugangsbeschränkungen als Gründe für den kritischen Mangel an Hilfsgütern an. Er wies zudem darauf hin, dass es internationalen Medienvertretern auch elf Monate nach dem Beginn des Kriegs noch immer verboten sei, in den Gazastreifen einzureisen, um über die Auswirkungen des Kriegs zu berichten.
Im Westjordanland wende Israel im Rahmen einer großangelegten Antiterrorkampagne in den Städten Dschenin, Tubas und Tulkarm zudem «tödliche kriegsähnliche Taktiken, einschließlich Luftangriffe» an. Dies habe zu weiteren Todesopfern und Verletzten geführt, und weitere Straßen und Infrastrukturen seien zerstört oder beschädigt worden, sagte er.
Baerbock: Gewaltausbruch im Westjordanland bereitet große Sorgen
Auch Außenministerin Baerbock sagte, der neuerliche Gewaltausbruch im Westjordanland bereite der Bundesregierung große Sorgen. «Israel ist im Westjordanland Besatzungsmacht und gemäß Genfer Konvention dazu verpflichtet, Recht und Ordnung aufrechtzuerhalten, anstatt sie zu gefährden», sagte sie. «Das schließt ausdrücklich den Schutz der Bevölkerung vor Übergriffen von gewalttätigen, radikalen Siedlern mit ein.» Die Besatzung durch Israel beinhalte das Recht und die Pflicht, gegen alle Gewalttäter und Terrorakte vorzugehen. Sie fügte aber hinzu: «Terror bekämpft man nicht, indem man Straßen aufreißt, Wasserleitung und Stromnetze zerstört oder gar die Zufahrten zu Krankenhäusern blockiert.»
In Ramallah im Westjordanland will Baerbock am Nachmittag den Ministerpräsidenten der Palästinensischen Autonomiebehörde, Mohammed Mustafa, treffen. Die Behörde könnte aus Baerbocks Sicht in einer Nachkriegsordnung im Gazastreifen eine wichtige Rolle spielen. Bereits zum Auftakt ihrer zweitägigen Nahost-Reise, die sie zunächst nach Saudi-Arabien und Jordanien führte, hatte Baerbock Israels Regierung mit ungewöhnlich deutlichen Worten aufgefordert, sich nicht länger Verhandlungen über eine Zweistaatenlösung zu verschließen.
Diese sieht zwei unabhängige Staaten nebeneinander vor: Israel und einen palästinensischen Staat. «Diejenigen Mitglieder der israelischen Regierung, die die Zweistaatenlösung in Wort und Tat infrage stellen, gefährden die langfristige Sicherheit Israels», erklärte Baerbock.
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