Von Ekaterina Quehl
In der Folge Fifteen Million Merits der dystopischen Serie Black Mirror wird dem Zuschauer eine düstere Welt präsentiert, in der Jugendliche zu lebendigen Kraftwerken gemacht werden. Sie müssen den ganzen Tag Indoor-Rad fahren. Damit sie sich nicht zu Tode langweilen, dürfen sie sich dabei mit oberflächlichem Video-Entertainment oder Computerspielen beschäftigen. Ihre einzige Chance, dem Hamsterrad zu entkommen, ist es, in einer Talentshow zu gewinnen – sei es mit Tanzen, Singen, Stand-Up oder Porno – ein vulgärer Wettbewerb, der den allgegenwärtigen TV-Formaten wie „Deutschland sucht den Superstar“ oder „Das Supertalent“ ähnelt.
Als ein Mädchen ein wunderschönes, herzzerreißendes Lied auf der Bühne singt, bringt sie Tausende digitaler Zuschauer-Avatare zum Weinen. Allen wird klar, dass das Talent des Mädchens weit über die oberflächliche Show hinausgeht. Doch die Jury sieht darin eine Bedrohung, wertet es ab und drängt das Mädchen, statt zu singen, sich für eine Porno-Show zu entscheiden. Das Publikum, das noch vor wenigen Sekunden den Auftritt bejubelt hat, bejubelt jetzt die künftige Porno-Karriere des Mädchens. Sie steht auf der Bühne allein und scheint sehr verzweifelt. Sie gibt dem starken Druck der Masse nach und stimmt einer Pornokarriere zu. Kein Mensch schützt sie, kein Mensch mischt sich ein. Tausende schauen zu, wie ein Schicksal ruiniert wird.
Das, was in diesem Film zu sehen ist, sieht man auch täglich in unserer Gesellschaft – auf der Straße, in der U-Bahn, in Büros, in Schulen: Das Zuschauer-Prinzip, auch bekannt als Bystander-Effekt. Eine Gruppe junger Männer belästigt auf offener Straße ein Mädchen – und keiner greift ein. Ein aggressiver Mann schreit lautstark in einer U-Bahn und wird handgreiflich – alle starren auf ihre Handys. Kinder aus muslimischen Familien drangsalieren, belästigen und schlagen in der Schule andere Kinder – Lehrer schauen weg.
Das Zuschauer-Prinzip beschreibt die Passivität von Menschen in Notsituationen, wenn viele andere zuschauen. Die Verantwortung verdunstet kollektiv: „Wird schon jemand anders was sagen.“ Doch das gleiche Prinzip lässt sich auch insgesamt auf die mediale und politische Kultur übertragen, auf den Umgang mit anderen Meinungen, den Umgang mit der Debatte. Mehr noch. Das Prinzip entwickelt sich zu einer Anpassungsstrategie.
Denn wer heute in sensiblen Themen nicht aufsteht, sondern klug mit dem Wind segelt, minimiert seine Risiken. Er ist nicht von Jobverlust bedroht, riskiert keine Diffamierung, keinen sozialen Druck, keine Auseinandersetzung mit eigenen Freunden und in der eigenen Familie. So wird Schweigen kein psychologischer Effekt mehr, sondern reiner Opportunismus.
Wenn ein Iraker ein Mädchen vor einen Zug in den Tod stößt, geht es primär weder um das Opfer noch um den Straftäter, sondern darum, die Tat der Öffentlichkeit so zu präsentieren, dass das über Jahre sorgfältig aufgebaute Narrativ nicht durch ihre Worte ins Wanken gerät. Denn wenn es würde, wäre es ein Schaden für Ruf und Karriere. Für Menschen, die gelernt haben, sich moralisch zu bücken, um durchzukommen, wird Opportunismus zur Taktik und Aufrichtigkeit zu einem Gut, das man sich nicht leisten kann. Und die Mehrheit solcher Menschen wird gut ausgeschlafen sein, sich im Spiegel anschauen können und keine Psychotherapie benötigen.
Aber was ist mit den anderen?
Was ist mit denen, die ehrliche und aufrichtige Menschen sind und einen stabilen moralischen Kompass haben? Die aber so eng ins System eingebunden sind, dass Aufrichtigkeit zur existenziellen Bedrohung wird?
Journalisten, die genau wissen, welche Artikel sie nie schreiben dürfen. Polizisten, die genau wissen, dass ein Vergewaltiger ein Vergewaltiger ist und kein traumatisierter Flüchtling. Behördenmitarbeiter, die genau wissen, dass ein Asylbewerber, der das Asylsystem missbraucht, in Wirklichkeit kein Asyl braucht. Lehrer, die genau wissen, dass ihre deutschen Schüler freiwillig zum Islam konvertieren, weil sie Angst vor Gewalt ihrer muslimischen Mitschüler haben. Wissenschaftler, die genau wissen, dass der Juli 2025 nicht der heißeste Monat seit Beginn der Aufzeichnungen war. Für all diese Menschen ist Schweigen keine Strategie, sondern eine tägliche Selbstverleugnung. Ein psychischer Spagat zwischen dem, was sie denken, und dem, was sie sagen dürfen und wie sie sich verhalten müssen. Was macht dauerhafte Selbstverleugnung mit dem Einzelnen? Macht es sie zu einem schlechten Menschen?
Wer täglich gegen das eigene moralische Empfinden handeln muss oder Zeuge davon wird, verliert mit der Zeit nicht nur Energie, sondern auch ein Stück von sich selbst. Das macht auf Dauer krank und lässt den Körper im wahrsten Sinne verschleißen. Der innere Bruch wird irgendwann so groß, dass selbst das bloße Funktionieren, ohne selbst daran zu glauben, zur Qual wird.
Autoritäre und totalitäre Systeme gehen so mit ihren Bürgern um. Sie schreiben sich freiheitliche demokratische Prinzipien in die Verfassungen, bestrafen aber diejenigen, die versuchen, nach diesen Prinzipien zu leben. Es herrscht ein Klima der Angst, der Konformität, des Denunziantentums und der inneren Kündigung. Das ist kein Drama, das auf offener Bühne stattfindet, aber es ist eine schleichende und stille moralische Verwesung.
Menschen, die, wie ich, in einem solchen System aufgewachsen sind, werden wissen, dass für den Erhalt der eigenen Aufrichtigkeit eine stabile „Biosphäre“ sehr wichtig ist. Das kann ein Kreis aus Gleichgesinnten sein, der in der Regel aus eigener Familie und Freunden besteht, Zugang zu den Medien, die schreiben, was ist und dadurch bestätigen, dass man nicht verrückt geworden ist, sondern mit der „Welt da draußen etwas nicht stimmt“, persönliche Anker, die einen auch weiter in den Spiegel schauen lassen können. Doch wie ist es mit den Menschen, die in einer Demokratie aufgewachsen sind, sich aber auf dem Weg in die sogenannte „Unsere Demokratie“ befinden?
Viele Leser schreiben uns, wie es ihnen bei diesem Wandel ergeht. Dass sie ihre Kinder nicht mehr ohne Angst zur Schule schicken können. Dass ihre Arbeitgeber zunehmend ideologisch geprägt sind. Dass sie Freunde verlieren, weil sie Dinge ansprechen, die nicht mehr gesagt werden dürfen. Dass der Wohlstand stagniert. Viele verlassen Deutschland. Doch diejenigen, die bleiben, wollen immer anonym bleiben. Und vor ihnen liegt ein langer Weg der Anpassung an das Leben in einem Land, das einst eine Demokratie war.
Was in Black Mirror wie eine dystopische Zukunftsvision erscheint, ist eigentlich längst stille Gegenwart. Zwar haben wir keine Jury mit einem roten Buzzer, aber der Verhaltensmechanismus ist derselbe: Wer aufrichtig ist und Wahrheit spricht, wird nicht gefeiert, sondern diszipliniert. Und davor haben viele richtige Angst. Kann man es denjenigen übel nehmen, wenn sie zu stillen, klatschenden oder wegsehenden Zuschauern der Realitätsverweigerung werden? Im Black Mirror wäre es ohne ein Einverständnis des Publikums nicht möglich, dass sich ein talentiertes Mädchen unter großem Druck selbst aufgibt. In unserer Gesellschaft kann das System ohne stilles Einverständnis der Mehrheit noch an der Realität zerbrechen. Aber wie lange?
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Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Ekaterina Quehl ist gebürtige St. Petersburgerin, russische Jüdin und lebt seit über 20 Jahren in Deutschland. Pioniergruß, Schuluniform und Samisdat-Bücher gehörten zu ihrem Leben wie Perestroika und Lebensmittelmarken. Ihre Affinität zur deutschen Sprache hat sie bereits als Schulkind entwickelt. Aus dieser heraus weigert sie sich hartnäckig, zu gendern. Sie arbeitet für reitschuster.de.
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