Der eisige Wind pfeift durch die Ritzen von Omas kleinem Häuschen, das ihr Großvater 1952 in Oberfranken, „Stein auf Stein“ gebaut hat. Im Wohnzimmer knistert der Kachelofen, das Herzstück des Hauses. Fritz, Omas Neffe, trägt einen Weidenkorb mit Holz und Kohlebriketts aus dem Schuppen. „Ohne den geht hier gar nichts mehr.“ sagt er und legt weitere Buchenscheite in den Ofen. Vielleicht brennt er bald zum letzten Mal, denn Oma kann sich den Einbau eines Feinstaubfilters nicht leisten. „Kochen mit Strom? Das kann sich Oma schon lange nicht mehr leisten.“ murmelt Tante Inge, die gerade die fränkischen Klöße aus der Küche bringt.
Gastbeitrag von Meinrad Müller
Die gerupfte Gans
Dann wird der Star des Abends aufgetischt: die Weihnachtsgans. Sie sieht so mager aus, als hätte sie schon zu Lebzeiten die Hälfte ihrer Federn verloren. „Die hat ja schon vor Wochen die Hälfte ihrer grünen Federn eingebüßt.“ murmelt Tante Inge trocken. Alle lachen, und ich denke: Selbst die Gans spiegelt die politische Krise wider. Dafür aber ist sie gefüllt, und das ist das Beste daran.
Doch es kommt noch besser: Werner beugt sich nach vorne und fragt: „Die Gans kommt doch sicher aus Schlesien, oder? An Weihnachten machen sie doch alle „rüber“. Ein Lachen geht durch die Runde, aber Jens kann es sich nicht verkneifen: „Diese Transportkosten, dieser CO₂-Ausstoß…“ Dabei schiebt er sich bereits den zweiten Kloß mit reichlich Soße in den Mund. Die Diskussion nimmt Fahrt auf, bevor die Gans überhaupt angeschnitten wird.
„Jemand hier, der mit langen Messern Erfahrung hat?“ fragt Oma und schaut in die Runde. Das Wohnzimmer wird schlagartig so still, dass man das Knistern der Holzscheite im Ofen hört. Fritz grinst: „Da hätten wir eine solche Fachkraft einfach einladen sollen, oder?“ Alle tun so, als hätten sie es nicht gehört.
Schuldfragen am Tisch
Kaum haben alle den ersten Bissen genommen, eröffnet Werner die unvermeidliche Diskussion: „Das ist eure Schuld, Jens und Tina! Ihr habt doch die CDU und die Ampel gewählt!“
Tina, die neben Jens sitzt, kontert: „Ach ja? Und wer hat sich fünfmal impfen lassen und hat jetzt die Folgen zu tragen? Du bist doch der lebende Beweis, dass das alles nicht funktioniert!“
„An die hohen Stromkosten denkt wohl niemand?“ ruft Oma und versucht, die Diskussion zu beenden. „Können wir nicht einfach Weihnachten feiern, solange ich hier am Waldrand noch wohnen darf?“
Doch Jens, der mit seiner Familie in der Stadt lebt, sticht in die Wunde: „Oma, wenn du damals nicht so stur gewesen wärst, hättest du das Haus längst sanieren können.“
Oma legt die Gabel ab. „Sanieren? Womit? Meiner kleinen Rente?“ Sie schaut in die Runde. „Ihr habt doch nicht an eure alte Oma gedacht, als ihr das Kreuz gemacht habt! Wenn ich tot bin, bekommt niemand das Haus. Sanieren lohnt sich nicht.“
Der Bus zum Arzt
Zwischen den Bissen erzählt Oma von früher: „Als Opa noch lebte, hatten wir den Käfer.“ Da konnten wir zum Arzt fahren, wann wir wollten. Jetzt? Ich muss anderthalb Kilometer laufen, um den Bus zu kriegen. Und der fährt nur zweimal am Tag!“ Soll ich auch die Einkaufstaschen schleppen? Gut, dass das der Pflegedienst jetzt übernimmt. Ihr jungen Leute habt ja keine Ahnung, was das alles für uns alte Leute bedeutet.“
Der Glühwein
Oma hebt ihr Glas: „Schön, dass ihr alle da wart. Wer weiß, wie lange das noch möglich ist – man wird ja nicht jünger. Aber eines sage ich euch: Nächstes Jahr richtet ihr das Weihnachtsessen aus. Aber zu einer veganen Gans komme ich nicht!“
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Author: Gast Autor
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