Stellen Sie sich vor, ein Beamter liest Artikel 116 des Grundgesetzes, schlägt die Akte zu – und stuft das Gelesene als verfassungsfeindlich ein. Genau das geschieht derzeit in Deutschland. Der Verfassungsschutz wirft der AfD vor, einen „ethnischen Volksbegriff“ zu verwenden – und wertet das als Beleg für rechtsextremes Gedankengut.
Dumm nur: Der „ethnische Volksbegriff“ steht im Grundgesetz. Genauer gesagt in Artikel 116 Absatz 1. Dort ist von „deutscher Volkszugehörigkeit“ die Rede – als Voraussetzung für die deutsche Staatsangehörigkeit.
Wer das für extremistisch hält, erklärt nicht nur die AfD zum Verdachtsfall. Er erklärt das Grundgesetz zur Gefahr.
Zur Erinnerung: Artikel 116 GG definiert, wer „Deutscher“ im Sinne des Grundgesetzes ist. Dort heißt es: „Deutscher ist (…) wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt oder als Flüchtling oder Vertriebener deutscher Volkszugehörigkeit oder als dessen Abkömmling (…) Aufnahme gefunden hat.“
Was damit gemeint ist, lässt sich kaum missverstehen: Es geht um Abstammung. Um ethnische Herkunft. Um Menschen, die formell keine Staatsbürger waren, aber als Deutsche galten – weil sie aus deutschen Familien stammen. Wer etwa 1950 als Kind eines Volksdeutschen aus Ungarn nach Bayern kam, wurde unter Berufung auf seine ethnische Zugehörigkeit eingebürgert.
Der Begriff ist nicht nur eindeutig ethnisch – er war sogar gewollt ethnisch. Und steht bis heute im Grundgesetz. Wer also den „ethnischen Volksbegriff“ pauschal als verfassungsfeindlich erklärt, müsste Artikel 116 für rechtsextrem halten. Genau das aber tut der Verfassungsschutz – implizit, aber folgenschwer.
Ein Kronzeuge namens Brodkorb
Mathias Brodkorb war Kultus- und Finanzminister in Mecklenburg-Vorpommern – für die SPD. Er war lange zuständig für Rechtsextremismusprävention, gilt als intellektuell redlich, keineswegs als AfD-nah. Heute ist er Kolumnist beim „Cicero“ – und Autor eines kritischen Buchs über den Verfassungsschutz. Wenn so jemand Alarm schlägt, sollte man zuhören.
Brodkorb hat in einem viel beachteten Text darauf hingewiesen, dass der Verfassungsschutz seiner Logik nach auch die Väter des Grundgesetzes beobachten müsste. Denn die Definition in Artikel 116 – „deutsche Volkszugehörigkeit“, „Abkömmling“ – sei ethnisch-kulturell geprägt. Genau das reiche dem Bundesamt heute, um eine Partei zum Fall für den Geheimdienst zu machen.
Der Vorwurf an die AfD: Sie spreche nicht vom „Staatsvolk“, sondern vom „ethnischen Volk“. Und das sei ein Anzeichen für Verfassungsfeindlichkeit. Brodkorb entlarvt das als hermeneutischen Trick: Wer ohnehin davon ausgeht, dass die AfD verfassungswidrig denke, kann in jeder harmlosen Aussage einen Beleg für diese Annahme finden. Der Beweis wird ersetzt durch eine Vorannahme.
Ein Muster, das an Verschwörungstheorien erinnert – nur umgekehrt: Hier ist es der Staat, der überall „Codes“ und „Signale“ zu erkennen glaubt.
Der Schutz wird zur Bedrohung
Der Verfassungsschutz hat kein unabhängiges Urteil gefällt, sondern einen politischen Akt gesetzt – kurz vor dem Abgang der Innenministerin Nancy Faeser (SPD), ohne festen Behördenleiter, inmitten eines Umfragetiefs der Regierungsparteien. Das wirkt nicht wie staatliche Neutralität, sondern wie parteipolitische Strategie.
Über tausend Seiten soll das Gutachten umfassen – doch veröffentlicht wird es nicht. Man beruft sich auf Geheimhaltung. Dabei, so Brodkorb, stammen fast alle verwendeten Quellen aus öffentlich zugänglichem Material. Der Trick: Man schweigt sich aus – und entzieht sich damit jeder Kontrolle.
Dass der Verfassungsschutz in der Vergangenheit mehrfach rechtswidrig handelte, ist dokumentiert. Er wurde von Gerichten zurückgepfiffen – im Fall Ramelow, im Fall Gössner, im Fall zahlreicher Linken-Politiker. Die Vorstellung, er sei unfehlbar oder gar „objektiv“, ist reines Wunschdenken. Er ist eine weisungsgebundene Behörde. Ihr Chef ist der Bundesinnenminister. Und genau das macht die Sache so brisant: Wo politische Interessen mit geheimdienstlichen Mitteln durchgesetzt werden, gerät das Gleichgewicht der Demokratie ins Wanken.
Demokratische Selbstbestimmung – oder Gesinnungskontrolle?
Das Grundgesetz kennt keine Pflicht zum postnationalen Weltbürgertum. Es schützt das Recht „des deutschen Volkes“ (sic!), sich über Einwanderung, Staatsbürgerschaft und nationale Identität eine eigene Meinung zu bilden. Auch dann, wenn sie dem politischen Mainstream widerspricht.
Ex Kultur-Staatsminister Julian Nida-Rümelin, ebenfalls SPD, nennt das demokratische Selbstbestimmungsrecht sogar ein Menschenrecht: Die Bürger müssen über das Wer, Wie und Ob von Migration diskutieren dürfen – offen, kontrovers, angstfrei.
Doch genau das wird nun kriminalisiert. Wer die Wortwahl des Grundgesetzes übernimmt und vom „deutschen Volk“ spricht, wird zum Verdachtsfall. Wer Artikel 116 ernst nimmt, wird unter Beobachtung gestellt. Wer das Grundgesetz beim Wort nimmt, steht plötzlich im Verdacht, es zu gefährden.
Der Staat als Risiko
Brodkorb hat recht: Die Beweisführung des Verfassungsschutzes ist kein Beweis, sondern eine Konstruktion. Und die Konstruktion ist gefährlich – nicht nur für eine Partei, sondern für das ganze System.
Denn entweder folgt nun ein Parteiverbotsverfahren – mit allen Risiken des Scheiterns. Oder der Staat lässt es dabei bewenden, dass eine zugelassene Partei dauerhaft vom Inlandsgeheimdienst verfolgt wird. Beides beschädigt das Vertrauen in die Demokratie. Und beides führt in eine neue Qualität der Repression: Nicht das, was man tut, zählt – sondern das, was man angeblich meint.
Wer so denkt, braucht keine Justiz mehr, sondern nur noch Gesinnungsprüfer. Und irgendwann ein neues Grundgesetz – eines ohne Artikel 116.
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