Von Ekaterina Quehl
In einem Film erkennt eine betrogene Ehefrau auf Fotos ihren Mann nicht – obwohl er eindeutig mit seiner Geliebten abgelichtet ist – von einem Privatdetektiv, den sie selbst engagiert hat: „Nein, nein! Sehen Sie genauer hin. Das ist doch nicht mein Ehemann!“ Und obwohl sie die Verfolgung des Ehemannes selbst initiiert hat, um die Wahrheit über ihren Ehemann herauszufinden, konnte sie eben diese Wahrheit nicht ertragen, als sie sie direkt vor Augen hatte.
An diesen Moment musste ich denken, als ich den „Focus“-Artikel „Syrer sollen Transfrauen belästigt haben: Trans-Verband sieht Deutsche als Hauptproblem“ las. Die Stärke der Verdrängung ist nicht zu unterschätzen, wenn die Realität zu schmerzhaft ist und nicht ins eigene Weltbild passt.
Schon beim Lesen der Überschrift spürte ich kognitive Dissonanz. Doch der Text selbst spiegelt, wie stark das Bedürfnis mancher Menschen ist, das eigene Weltbild als sinnvoll und moralisch stabil zu erleben. Auch wenn dabei die Realität auf der Strecke bleibt und die eigentlichen Opfer schutzlos.
Der Beitrag ist ein Paradebeispiel für eine spezielle Art der Verdrängung, für die es nicht einmal mehr notwendig ist, die Fakten zu verdrehen. Das Blatt berichtet über den Vorfall so, wie er tatsächlich passierte. Der Fokus liegt nicht auf dem Geschehen selbst, sondern auf dessen Umcodierung: Da Syrer nicht beschuldigt werden dürfen, weil sie im moralischen Koordinatensystem „Unserer Demokratie“ als Opfer gelten, werden Täterrollen auf ideologische Gegner projiziert.
In dem Orwell-Roman „1984“ beschäftigt das Wahrheitsministerium tausende Mitarbeiter. Deren Aufgabe ist es, die Vergangenheit so umzuschreiben, dass sie mit der Gegenwart kompatibel wird. Damit Kürzung der Schockoladenration in den Nachrichten als Erhöhung durchkommt, musste man alle Nachrichten über die tatsächliche Rationierung aus der Vergangenheit entfernen. In der Orwellschen Realität bedrohten Fakten das sorgfältig konstruierte Weltbild. In „Unserer Demokratie“ scheinen Fakten nicht mehr bedrohlich zu sein. Die Akteure bemühen sich nicht mal mehr um deren Verdrehung. In „Unserer Demokratie“ werden andere Instrumente benutzt, damit sie mit der Realität nicht konfrontiert werden muss.
In der Nacht am 16. Juli überfiel eine zehnköpfige Männergruppe in einem Berliner Nachtbus drei Transfrauen. Zwei von den mutmaßlichen Eingreifern wurden in der Nähe festgenommen. Beide waren Syrer. Und weil es sich bei dem Vorfall nicht um „gewöhnliche Sexualstraftaten“ handele, sondern um einen Angriff, der einen transfeindlichen Hintergrund hatte, ermittle jetzt der Staatsschutz. Beide Syrer wieder auf freiem Fuß.
Die Opfer haben der Polizei persönlich den Angriff geschildert. Ausnahmsweise spricht „Focus“ in diesem Fall nicht von „Einmännern“, sondern von Syrern. Das Blatt berichtet auch über den Vorfall faktenbasiert. Trotzdem werden Deutsche als Hauptproblem angesehen. Wie geht das?
Wie geschickt der „Fokus“ das macht, sieht man im zweiten Teil des Artikels, in dem der Pressereferent des „Bundesverband Trans“ zu Wort kommt. Zwar verdächtige die Polizei für den Angriff in Berlin zwei Syrer, dennoch sehe „Bundesverband Trans“ gerade „nicht Migranten beziehungsweise Menschen aus muslimisch geprägten Ländern, in denen eine queere Lebensweise oft nicht akzeptiert und gar bestraft wird, als Problem“. Transfeindliche Gewalt betreffe vor allem Schwarze, migrantisierte, muslimische oder geflüchtete Menschen. Statistiken würden das belegen. Wenn man diesen Aspekt nicht mitdenke, entstehe der falsche Eindruck, dass Queerfeindlichkeit nur in migrantischen Milieus vorkomme und nicht auch tief in der weißen, deutschen Mehrheitsgesellschaft verankert sei.
„Die Mehrheit aller Deutschen weise eine manifeste oder latente Transfeindlichkeit auf. Über ein Drittel (37 Prozent) vertrete ein geschlossen transfeindliches Weltbild“, so der Pressereferent. Selbst auf Anfrage von „Focus“, ob denn „Transfeindlichkeit in den muslimisch geprägten Herkunftsländern vieler Migranten ein Problem sei“, argumentiere der Pressereferent mit Statistiken, die belegen sollen, dass eben das öffentliche Interesse auffällig hoch sei, wenn die Täter keine deutsche Staatsbürgerschaft hätten – was auf gesellschaftlich verbreitete Vorurteile zurückzuführen sei.
Was wir hier beobachten, ist nicht bloß eine Fehlinterpretation, sondern ein psychologischer und kultureller Schutzmechanismus, dessen Wucht sich inzwischen nicht nur auf der Ebene der Kommunikation zeigt, sondern auf der kognitiven und emotionalen Ebenen greift. Die „tatsächliche“ Realität wird nicht uminterpretiert – sie wird systematisch in „Unsere Realität“ umcodiert. Fakten werden nicht verdreht, sondern rhetorisch so lange umgelenkt, bis sie nicht mehr im Widerspruch zum eigenen Weltbild stehen. Schuld und Verantwortung werden umverteilt – auf diejenigen, auf die man moralisch vorbereitet ist, sie verantwortlich zu machen.
So wird ein vollständiges Schutzsystem aufgebaut, das die kognitive Dissonanz ausschaltet, die entsteht, wenn das Täterprofil nicht mit dem eigenen ideologischen Koordinatensystem vereinbar ist – so wie in dem „Fokus“-Beitrag.
Im Roman „1984“ wird die Vergangenheit umgeschrieben, um das aktuelle Narrativ logisch erscheinen zu lassen. Heute geht man subtiler. In moderner Anwendung würde die Orwellsche Berichterstattung über die Schokoladenrationierung möglicherweise so aussehen:
„Obwohl die Versorgungslage angespannt bleibt, zeigt sich die Regierung entschlossen: Die Schokoladenration beträgt nun zwanzig Gramm – ein klares Zeichen der Verbesserung. Die bisherige Höhe von dreißig Gramm war ohnehin nicht für alle zugänglich. Insofern handelt es sich nicht um eine Kürzung, sondern um eine gerechtere Verteilung. Kritik an der angeblich gesunkenen Ration geht meist von privilegierten Gruppen aus, die ohnehin überdurchschnittlich Zugang zu Konsumgütern hatten.“
Am Ende bleibt das Bitterste nicht die Tat selbst, sondern der Umgang mit ihr: Die eigentlichen Opfer verschwinden hinter der Angst, das Falsche zu sagen. Es geht nur noch darum, wer in die moralische Erzählung passt. Wenn selbst Schutzverbände beginnen, Täter als Opfer zu behandeln und Opfer für politische Agenda zu nutzen, dann zeigt sich, wie stark der Drang ist, an einem bestimmten Weltbild festzuhalten – koste es, was es wolle.
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Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Ekaterina Quehl ist gebürtige St. Petersburgerin, russische Jüdin und lebt seit über 20 Jahren in Deutschland. Pioniergruß, Schuluniform und Samisdat-Bücher gehörten zu ihrem Leben wie Perestroika und Lebensmittelmarken. Ihre Affinität zur deutschen Sprache hat sie bereits als Schulkind entwickelt. Aus dieser heraus weigert sie sich hartnäckig, zu gendern. Sie arbeitet für reitschuster.de.
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