Die Generation von Friedrich Merz ist die erste Generation von Deutschen, die sich in der Schule bewusst mit dem Holocaust auseinandergesetzt hat, auseinandersetzen musste. Die Elterngeneration war zu jung, um Täter zu sein, aber in den frühen Nachkriegsschulen wurde das Thema weitestgehend ausgeklammert.
Meine Mutter (*1936) hat einmal berichtet, dass sie sich zum ersten Mal überhaupt bewusst mit dem Schicksal der Juden befasst hat, als sie Anne Frank gelesen hat. Meine Mutter erlebte mit neun Jahren auf der Flucht Schlimmes, bis hin zu Scheinerschießungen in den tschechischen Lagern, wo sich deutsche Familien reihenweise das Leben nahmen. Auch meine Großmutter hielt das Gift schon bereit, aber die Neunjährige spürte wohl instinktiv die Gefahr und wehrte sich mit Händen und Füßen – so wird es in der Familie erzählt.
Meine Eltern haben in der Schule wenig über die Vernichtung der Juden erfahren. Der Onkel brachte Bilder mit aus dem Krieg, auf deren Rückseite die Tante in sauberer Schreibschrift „Juden in Polen“ geschrieben hatte.
In den sozialen Medien wird heute viel darüber diskutiert, wie heuchlerisch die Tränen des Bundeskanzlers gewesen sein sollen. Dabei wird leicht vergessen, dass sie in dieser Generation nachvollziehbar sind. Die heute immer öfter als „Boomer“ beschimpfte Generation hatte die Aufarbeitung größtenteils allein zu schultern.
Und sie haben es sich nicht leicht gemacht. Sie saßen im Geschichtsunterricht mit dem Wissen, dass jetzt etwas auf den Tisch kommt, was die Großeltern-Generation zu verantworten hatte und mit dem sich ihre Eltern nicht befassen sollten bzw. mussten. Es übersprang einfach eine Generation.
Merz und Co. wurden damit als Schüler allein gelassen. Die Großeltern wollten überwiegend nicht reden. Die Eltern konnten nicht, weil sie so wenig darüber wussten und sich überhaupt zum ersten Mal damit befassten, als im deutschen Fernsehen Ende der 1970er Jahre die jüdische Familie Weiß ihrer Vernichtung zugeführt wurde: „Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiß“ mit Meryl Streep in einer der Hauptrollen.
Was die Generation Merz in der Schule erlebte, war alles andere als eine nüchterne Betrachtung der Vernichtung. Ich selbst erinnere mich an meine Realschulzeit, als alle Schulklassen in die große Aula geführt wurden, die Mädchen anfingen zu weinen, die Jungs sich die Bilder wegbissen, während auf der großen Leinwand die Augenhöhlen der Juden aus den gigantischen KZ-Leichenbergen auf einen hinunterschauten – metergroß, die Leinwand der Aula hatte Maße wie im örtlichen Kino.
Der Sinn und Zweck dieser Vorführung vor Elfjährigen war klar: Diese Bilder sollten sich einbrennen. Es war eine Art bewusste und von den Organisatoren als positiv empfundene Gehirnwäsche. Man dachte damals wirklich, dass ein „Nie wieder!“ nur möglich sein könnte, wenn man es den Kindern auf diese Weise in die Köpfe ballert. Auch hier kann man nicht von einer Vergewaltigung sprechen, denn das, was den Familien auf der Leinwand widerfahren war, überragte diese kleinen Vergewaltigungen wie ein Wolkenkratzer eine Wellblechhütte.
All das ist 80 Jahre her. Wer damals neun Jahre alt war, ist heute neunzig. Der Vernichtung der Juden in Europa kann man in einer Aufarbeitung in keiner Generation gerecht werden. Ein paar der Schuldigen sind aufgehängt worden. Die große Masse der Mitläufer kam ungeschoren davon. Juden in Deutschland mussten mit jenen weiterleben, die sie ans Messer geliefert und so ins Gas gejagt haben.
Die Generation Merz war ebenso wenig verantwortlich wie die Generation der heute 30-Jährigen. Aber die Generation Merz musste es ausbaden. Es war ihre Abstammung, die sie zum Tätervolk machte. Das funktionierte nur über die Identifikation mit Volk und Vaterland: Wir sind Deutsche, also tragen wir Verantwortung.
Helmut Kohl wusste um diese Schwierigkeit einer Aufarbeitung, die den Opfern und Überlebenden irgendwie ein Zeichen gibt. Mit Blick auf den Holocaust kann ja von so etwas wie Genugtuung nicht die Rede sein. Kohl sprach von der Gnade der späten Geburt. Was hatte Kohl in der Schule gelehrt bekommen? Der Gedanke ist nicht abwegig, dass der Wille, ein vereintes Europa zu schaffen, bei Kohl auch davon getrieben war, die Deutschen von der singulären Last einer Kollektivschuld zu befreien.
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Der rechte Aktivist Martin Sellner hat sich gestern ebenfalls zum Auftritt von Friedrich Merz geäußert. Und er tat es auf eine Weise, die Vertreter der Generation Merz bis tief ins Mark getroffen haben muss. Martin Sellner schrieb:
„Was für eine Witzfigur, das ist ja unerträglich, der soll ein Land repräsentieren, der steht einer der größten und stolzesten Nationen vor, steht in einer Reihe mit Kanzlern und Kaisern als Staatschef, das gibt es ja nicht, was ist das für ein erbärmlicher Witz, leben wir in einer Simulation oder was, das kann doch keiner ernst nehmen und meinen, ich meine, wann wird dieser schlechte Witz aufgelöst?“
Darüber war ich kurz sprachlos – oder ratlos. Und man soll mir gern nachsagen, meine Sprachlosigkeit sei in der Aula der Realschule in Braunschweig entstanden. Aber selten war ich so versöhnt mit dieser Schocktherapie. Unabhängig davon, welcher Generation wir angehören – dieser Post von Sellner scheint mir vollkommen missglückt zu sein.
Und er ist zudem widersprüchlich. Denn er beschwört zum einen eine Kontinuität mit Deutschland und den Deutschen. Auf der anderen Seite soll man den Holocaust bitte nicht mitdenken. Das ist die gelebte Schuldkult-Philosophie.
Sellner schreibt von „einer der größten und stolzesten Nationen“, denen Merz vorstehe. Das wiederum kann ja nur historisch gemeint sein oder den Wunsch in die Zukunft projizieren.
Die Generation Sellner muss sich von der Generation Merz befreien. Und sie hat jedes Recht dazu. Sie kann und soll selbst entscheiden, wie sie in Zukunft leben möchte.
Aber ob man sich wie Sellner wünschen sollte, dass Merz in einer Reihe steht „mit Kanzlern und Kaisern“, dann doch lieber den flennenden Kanzler, als einen, der sich in der Tradition jener sieht, die es nicht verhindern konnten oder es bewusst so weit getrieben haben, dass das deutsche Volk im Mittelpunkt zweier verheerender Weltkriege stand und im Vorübergehen mal eben noch die industrielle Vernichtung von Millionen Juden organisiert hat.
Diese Vernichtung ist ein Fakt und kein Produkt einer Gehirnwäsche in irgendeiner Aula einer Braunschweiger Realschule. Diese Schullektion mag allenfalls dafür sorgen, dass ein Bundeskanzler die Fassung verliert und in Tränen ausbricht: Friedrich Merz ist in dem Moment ganz Realschüler. Und das ist nicht die schlechteste Falschaussage.
Der Moment der Tränen ist ein emotionaler. Er kann nicht verlogen oder eine Frechheit sein, solange es keine Fake-Tränen waren. Aber man kann es auch sehen, wie der Influencer und Freund Julian Adrat, der auf Merz schaut und befindet:
„Wer die Hamas füttern, während Geiseln verhungern, wer Waffenlieferungen für Israel boykottiert, aber die ‚Drecksarbeit‘ machen lässt, der muss sich nicht wundern, wenn seine Tränen einen Beigeschmack haben.“
Da ist Adrat dann wieder ganz Generation Sellner. Und beide keine Fake-Realschüler wie Merz. Aber was bringt Euch zum Weinen?
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Author:
Alexander Wallasch