Wer genau hinsah, konnte es schon ahnen, als die neue Bundestagspräsidentin Julia Klöckner von der CDU zur Verkündung des Wahlergebnisses ansetzte: Ihre Miene wirkte wie versteinert, sie kämpfe mit ihren Emotionen. Denn in der Tat war das, was sie nun gleich verkünden sollte, etwas, was die Republik erschüttert: Die Abgeordneten der neuen Koalition aus CDU, CSU und SPD ließen ihren designierten Kanzler nicht nur fallen – sie versetzten ihm einen Fußtritt. Merz bekam nur 310 von 316 erforderlichen Stimmen. 307 stimmten gegen ihn, 3 enthielten sich, ein Wahlzettel war ungültig. Neun Abgeordnete gaben ihren Stimmzettel erst gar nicht ab. Das bedeutet: Mindestens 18 Abgeordnete der neuen Koalition haben nicht für Merz gestimmt – denn zusammen bringen es die drei Parteien auf 328 Abgeordnete.
Ein historischer Affront – nicht hinter verschlossenen Türen, sondern mitten im grellen Licht der Republik.
Auch Merz nahm das Ergebnis mit versteinerter Miene zur Kenntnis. Seine Familie auf der Besuchertribüne wirkte entgeistert. Es herrschte Mucksmäuschenstille im Plenarsaal.
Merz ist damit bereits schwer beschädigt, bevor er im Amt ist. Wenn er denn überhaupt ins Amt kommt. Zunächst berichtete die „Bild“, es werde heute keinen zweiten Wahlgang mehr geben. Jetzt heißt es, um 15.15 Uhr soll ein zweiter Wahlgang stattfinden. Offenbar hoffen Merz und Klingbeil, das sie die Abweichler ausreichend „bearbeitet“ haben. Dass ein künftiger Kanzler seine eigene Mehrheit zusammenfalten muss wie einen widerspenstigen Koalitionsvertrag – das hat es so offen noch nie gegeben.
Wie der zweite Wahlgang ausgeht, bleibt offen. Die Auslandsreisen, die Merz als neuer Kanzler bereits geplant hat, sind nun mit einem Fragezeichen behaftet: Der CDU-Chef wollte am Mittwoch nach Paris und danach nach Warschau fliegen.
Die Fraktionen beraten nun, wie es weitergehen soll. Alles ist offen. Auch ein vollständiges Scheitern von Merz – was dann wohl den Weg ins Kanzleramt frei machen würde für einen von Merkels Ziehsöhnen und Ministerpräsidenten – Daniel Günther und Henrik Wüst. Das würde bedeuten – noch mehr Merkel als unter Merz, der bereits den Haus- und Hofjournalisten Merkels, Stefan Kornelius, als neuen Regierungssprecher ausersehen hatte, in einem Akt der Demut gegenüber „Mutti“. Der lange verstoßene Sohn wollte sich befreien – und kroch am Ende doch wieder unter den Rock der Übermutter. Aber, wie wir heute sahen, vergeblich.
Leider – oder vielleicht zum Glück für Merkel – fingen die Kameras im Bundestag nicht ein, wie die Alt-Bundeskanzlerin auf das Desaster ihres Möchtegern-Nachfolgers reagierte. Es wäre sehr spannend gewesen, zu sehen, ob sie sich ein Strahlen verkneifen konnte.
Bezeichnend ist, dass selbst von den Grünen Mitgefühl für Merz zu hören ist – was zeigt, wie sehr sich der verhinderte Kanzler an die Öko-Partei anbiederte. Renate Künast von den Grünen sieht Merz nach der Wahl-Schlappe zwar „massiv geschwächt“. Das Wahldebakel sei „ein Donnerschlag fürs ganze Land“, sagte Künast staatstragend im TV-Sender Phoenix. Der Ex-Grünen-Abgeordnete Volker Beck (64) schrieb auf „X“ (früher Twitter) voller Mitgefühl und Solidarität für Merz: „Da wollen einige wohl die Republik brennen sehen.“ Beck greift die Abweichler innerhalb der Koalition hart an: „Das ist unverantwortlich. Wenn demokratische Abgeordnete den Ernst der Lage verkennen.“ Von wegen Opposition!
Die Union verhandelt jetzt mit der umbenannten SED, damit sie diese rettet. Wie tief ist die Union nur gesunken! pic.twitter.com/j3UZXsO2eS
— Boris Reitschuster (@reitschuster) May 6, 2025
AfD-Chefin Alice Weidel forderte nach dem Wahldebakel den Rückzug von Friedrich Merz. Und sprach sich für Neuwahlen aus. Die werden mit an Sicherheit nicht grenzender Wahrscheinlichkeit nicht kommen – vor allem Merz hat durch den Bruch seiner Wahlversprechen und seinen Verrat an den Wählern so viel Porzellanschaden angerichtet, dass Neuwahlen zu einem Desaster für die Union führen würden – und die AfD dann wohl stärkste Partei wäre. Deshalb wird sich die Union selbst noch mit den Zähnen an den jetzigen Bundestag klammern.
Merz hat heute die Abrechnung erhalten für seinen Verrat an den Wählern – wenn auch die Abgeordneten, die gegen ihn stimmten, dafür wohl ganz andere Motive hatten. In den eigenen Reihen hat Merz sich zu viele Gegner gemacht durch seinen teilweise sehr ruppigen Umgang mit Parteifreunden, die deshalb eine offene Rechnung mit ihm hatten. Vielen in der SPD ist er dagegen zu konservativ.
Ich muss offen gestehen: Meine erste Reaktion, nachdem ich das Wahlergebnis gehört hatte, war Schadenfreude – Asche auf mein Haupt. Doch nach etwas Nachdenken wich die schnell. Denn was nun drohen könnte, ein Merkel-Liebling wie Günther oder Wüst als Bundeskanzler und eine noch grünere Union wäre eine noch größere Katastrophe für unser Land als Merz. Der Schaden, den sie in vier Jahren anrichten könnten, wäre immens. Und wohl irreparabel.
Bemerkenswert, dass in den Medien jetzt alle von einer „Staatskrise“ sprechen. Ich finde: Wenn Abgeordnete nicht nach Parteidisziplin entscheiden, sondern nach Gewissen, ist das eher ein Restzucken von Demokratie. Und dass Merz sich jetzt wegduckt und seit Stunden schweigt,…
— Boris Reitschuster (@reitschuster) May 6, 2025
Merz droht endgültig zu stürzen – und wenn er fällt, war das erst das Vorspiel. Dann öffnen sich die Türen für Günther, Wüst und Co. Und während die CDU noch die Scherben zählt, könnte die alte Herrin längst wieder lächeln. Diesmal muss sie sich das Strahlen wohl nicht mehr verkneifen. Auch nicht mehr öffentlich. Es war nicht der Gegner, der heute Merz besiegte – es war die Vergangenheit. Und sie empfängt uns mit offenen Armen: „Mutti“ Merkel.
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Bild: Screenshot Youtube
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