Wer meint in der Welt, in der alle für „gleich“ erklärt werden – was immer das auch genau heißen mag –, oder in der Welt der unter Verletzung der Gerechtigkeitsregel Zwangsgleichgestellten habe Elitismus keinen Platz, der mag logisch besehen Recht haben, empirisch besehen irrt er sich aber kräftig.
Es mag sein, dass es in einer solchen Welt unpopulär oder sagen wir: strategisch äußerst unklug ist, Elitismus offen zu zeigen, aber das bedeutet nicht, dass er nicht tatsächlich verbreitet sein und in einer Weise ausgedrückt werden könne, von denen „Elitäre“ bzw. solche, die meinen, einer Elite anzugehören, anscheinend glauben, dass er in dieser Darstellung weniger offensichtlich sei. (Ein Umstand, der sie m.E. bereits als solcher als nicht zur geistigen Elite gehörig ausweist.) Diese Art, den eigenen Elitismus indirekt auszudrücken, ist die Rede vom „Populismus“ der Anderen.
Die Klage über den „Populismus“ der Anderen wurde Lesern oder Zuschauern so intensiv wie zu keiner anderen Zeit im Vorfeld und während der ersten Präsidentschaft von Donald Trump in mainstream-Medien verfüttert. Man würde meinen, dass die Rede vom „Populismus“ wegen erwiesener Untauglichkeit im politischen Kampf inzwischen passé ist, aber dies ist nicht der Fall.
„Populismus“ wird immer noch und immer dann von Linken oder Linksextremen aus dem Panoptikum der untauglichen Kampfbegriffe ans Tageslicht geholt, wenn es darum geht, den Erfolg von Personen oder Parteien zu „erklären“ – tatsächlich handelt es sich um den Versuch einer ex post facto-Plausibiliserung zur Reduktion kognitiver Dissonanz wie sie entsteht, wenn die beobachtbare Realität nicht mit der „Realität“, die man aufgrund von eigenen Vorurteilen gebildet hat, übereinstimmt.
Das neueste Beispiel hierfür kommt aus Italien. Dort gibt es das Blog „Il Fatto Quotidiano“, d.h. „der tägliche Fakt“ oder „die tägliche Tatsache“, aber mit dem Bericht von Fakten hat das Blog nur insofern zu tun als es den jeweiligen Autoren ermöglicht, ihre subjektive Interpretation von Fakten vornehmen zu können, auf dass ihnen diese Interpretation erlauben möge, ihre auf eigene Vorurteile gebaute subjektive Realität gegen die beobachtbare Realität zu verteidigen. Am gestrigen Tag hat ein Psychoanalytiker (!) namens Luciano Casolari in „Il Fatto Quotidiano“ einen solchen Versuch mit Bezug auf die anhaltende Popularität von Giogia Meloni bzw. ihrer Regierung unter den Italienern gemacht.
Der Psychanalytiker fragt sich, „Perché Meloni non scende nei consensi?“ etwas frei (aber treffend) übersetzt als „Warum sinken die Zustimmungswerte für Meloni nicht?“ und gibt auch gleich, ebenfalls in der Überschrift zu seinem Text, die Antwort: „C’entra il cervelletto e un certo meccanismo primitivo“, d.h. „Es hat mit dem Kleinhirn und einem bestimmten prmitiven Mechansimus zu tun“.
Er behauptet – ohne Angabe von entsprechenden Quellen – er sei einer Reihe von Erklärungen für die anhaltende Popularität von Meloni (bzw. ihrer Regierung) begegnet, von denen vor allem zwei vorherrschten: eine sei „l’immobilismo“, womit Casolari meint, dass sie Reformen ankündige, aber nicht durchführe, was für einen Teil der Bevölkerung („per una fetta della popolazione …“) beruhigend sei, der „seine Privilegien oder Positionsrenditen lediglich als kleine Steuerumgehungen oder Täuschungsmanöver zur Aufstockung des eigenen Einkommens sehen würde“ („… che non vede scalfire suoi privilegi e rendite di psizione qual piccole evasioni fiscali o sotterfugi vari per arrotondare“). Die zweite Erklärung sei, dass die Propaganda von Meloni bzw. ihrer Regierung sehr effeketiv darin sei, die bestehenden Probleme zu verbergen („… la seconda che la sua propaganda sia molto efficace a nascondere i problemi“).
Ohne sich weiter mit diesen Erklärungsversuchen aufzuhalten, schlägt er eine dritte Erklärung vor: welche politische Position man einnehme, sei nicht nur von rationalen Erwägungen anhängig, sondern sei vor allem instinkt- oder emotionsgeleitet („A mio avviso, in base a come funziona la mente umana, le prese di posizione politiche non avvengono solo sul versante razionale ma soprattutto su quello istintivo e parzialmente su quello emotivo“).
Er fährt fort, die Gliederung des Gehirns als evolutionär in drei Schichten unterschieden zu beschreiben, nämlich in ein „Reptiliengehirn“, das instinktive Antworten auf Erfahrungen wie Hunger, Durst, sexuelle Lust, Aggression und Fluchtimpuls und „dominanza e sottomissione“, d.g. „Dominanz und Unterwerfung“ verarbeitet, ein „emotionales Gehirn“, und ein typisch menschlich „rationales Gehirn“. Und Casolari glaubt, dass eine „sehr große Bevölkerungsgruppe“ politische Entscheidungen auf der Basis vornehmlich des Reptiliengehirns treffen würden. Das emotionale Gehirn käme ins Spiel, wenn jemand die Instinkte der „sehr großen Bevölkerungsgruppe“ sozusagen „abholen“ würde, indem er ein Gefühl von Schutz und Fürsorge vermittelt; mit einer solchen Person würden sich die „sehr große Bevölkerungsgruppe“ verbunden fühlen; sie würde zur „Bezugsfigur“, die kaum hinterfragt werde, eben weil das Hinterfragen auf rationaler Ebene stattfinden müsste, die „sehr große Bevölkerungsgruppe“ aber auf der Ebene des Reptilien- oder emotionalen Gehirns an die „Bezugsfigur“ gebunden sei.
Auf den Punkt gebracht: Wer Meloni bzw. ihre Regierung unterstützt ist mehr oder weniger irrational, ist in emotionaler Abhängigkeit von jemandem oder einer Gruppe von Leuten, die ihm Befriedigung seiner Grundbedürfnisse, um nicht zu sagen: Triebe, verspricht.
Aber der Psychoanalytiker Casolari hat Hoffnung, dass die Zustimmung zu Meloni oder ihrer Regierung endlich schrumpfen möge, nämlich dann, wenn sie einfach nicht mehr funktioniere und so die Aura der Fürsorglichkeit, der Fähigkeit, Schutz zu gewähren verschwinden würde:
„Es ist klar, dass, wenn Trump uns ärmer machen will, um die Amerikaner zu bereichern, es nicht Melonis Schuld ist, auch an den Kriegen und dem Völkermord in Palästina oder der Unfähigkeit Europas, ist sie nicht schuld – aber das Gefühl, beschützt zu werden, ist nicht mehr da. Ich weiß nicht, ob sich dieser instinktive Aspekt und dieses Gefühl verfestigen werden: Es hängt davon ab, wie sich die Dinge entwickeln werden. Diese Hypothese, die ich dem Leser vorschlage, scheint mir nicht ganz abwegig zu sein, wenn man sie mit der [Theorie der] affektiven Bindung in Verbindung bringt und mit der [Vorstellung von einer] in Abneigung umgeschlagenen Abhängigkeit vom Führer, die sich in der Vergangenheit bei verschiedenen aufeinanderfolgenden Ministerpräsidenten in Italien ereignet haben.“
Im Original:
„E’ chiaro che se Trump ci vuole più poveri per arricchire gli americani non è colpa di Meloni, così come le guerre e il genocidio in Palestina o l’inettitudine europea ma la sensazione di essere protetti non funziona più. Non so se questo aspetto istintivo e questa emozione si consolideranno: dipende da come tira l’alea del fato. Questa ipotesi che propongo al lettore mi pare non del tutto peregrina se si guarda alle parabole di attaccamento affettivo e dipendenza dal capo, tramutatesi in avversione, avvenute nel passato con diversi presidenti del Consiglio che si sono succeduti in Italia“.
Kurz: Casolari setzt seine Hoffnung darauf, dass die politischen und gesellschaftlichen Schwierigkeiten so groß werden, dass der „sehr große Bevölkerungsteil“, der seiner Meinung nach Meloni als „Führer“ wahrnimmt, der Fürsorge und Schutz verspricht, ihr wegen enttäuschter Hoffnungen seine Gefolgschaft verweigert.
Spätestens an dieser Stelle, angesichts der Wortwahl von Casolari, der in Meloni eine heilbringende Führerfigur sieht – oder besser: im Zuge einer psychologischen Verschiebung (wie Freud, der „Vater“ der Psychoanalyse sie postuliert hat (weswegen das Phänomen auch Casolari bekannt sein sollte) unterstellt, dass die „sehr große Bevölkerungsgruppe“ einen Führer in ihr sehen würde –, wird die Verbindung seines Gedankengutes zu dem, was von elitistischer Sichtweise aus als „Populismus“ vorgestellt wird, deutlich erkennbar.
Und das sieht auch Francesca Galici, die heute in „Il Giornale“ einen Text zu Casolaris Reptiliengehirn-Hypothese (und Melonis lapidare Antwort darauf) verfasst hat. Sie schreibt am Ende ihres Artikels
„Aber es ist ein Muster, das wiederholt wird, wenn die Mitte-Rechts-Parteien das Land regieren: auf der linken Seite entwickelt sich oft die Tendenz, die Wähler als ‚minderwertig‘ und zu einfach anzusehen.“
Im Original:
„Ma è uno schema che si ripete quando a governare il Paese sono i pariti di centrodestra: a sinistra si sviluppa spesso la tendenza a ritenere gli elettori ‚inferiori‘ e troppo semplici“.
Seltsamerweise scheint es der Mehrheit der Wähler manchmal zu gelingen, sich bei der Wahlentscheidung auf das Niveau des rationalen Gehirns hinaufzuschwingen, nämlich immer dann, wenn sie eine linke oder linksextreme Partei wählen. Linke/linksextreme Elitisten müssten erklären, wie dies möglich ist.
Aber sie haben ohnehin Unrecht: Wie das Beispiel der letzten nationalen Wahl in Großbritannien zeigt, bei der mit der Labour-Partei unter Keir Starmer eine linke bis linksextreme Regierung gewählt wurde, haben sich „große Bevölkerungsgruppen“ von den lediglich an Instinkt und Emotion appellierenden Versprechungen von Starmer beeinflussen lassen, der u.a. versprochen hat, keine Steuern zu erheben und den Schmugglerbanden das Handwerk zu legen, die für den stetigen Fluß illegaler Einwanderer von Europa über den Ärmelkanal sorgen. Beide (und noch viel mehr) Versprechen hat er nicht eingehalten. Zwar mag seine ständige Wiederholung sein Vater sei ein Werkzeugmacher gewesen, Starmer als Bezugsfigur für die „einfachen“ Menschen aufgebaut haben, aber es steht dennoch zu befürchten, dass – ganz wie Casolari das beschreibt – die Leute, die diese linke Regierung gewählt haben, enttäuscht sind, weil sie immobil ist und kein einziges Problem des Vereinigten Königreiches gelöst hat, sondern sie vergrößert hat, und dass sie inzwischen auch den Glauben an den „Führer“ Starmer und seine behauptete Fürsorglichkeit für „die Menschen“ verloren haben. Vielleicht werden sie es bei der nächsten nationalen Wahl schaffen, das rationale Gehirn einzuschalten und eine Mitte- oder Mitte-Rechts-Partei zu wählen ….
Und was Meloni betrifft – ihr ist es egal, wenn manche meinen, ihr Wahlerfolg oder die Zustimmung zu ihrer Politik sei dem „Reptiliengehirn“ der „sehr großen Bevölkerungsgruppe“ zu verdanken: Sie schrieb zu Casolaris Text: „A posto così“, d.h. „In Ordnung so“ oder einfach „Okay“ oder „Kein Problem“. Ein deutscher Muttersprachler würde in der entsprechenden Situation wahrscheinlich sagen: „Von mir aus.“
Zur Erheiterung der Leser sei noch angefügt, wie die These vom Reptiliengehirn Casolari in Kommentaren auf seinen Text auf die Füße fällt. So meint „lowland“ in seinem oder ihrem Kommentar:
„Ebbene si. Io ho gli occhi con le pupille ellittiche ed una pelle a squame, come nel telefim Visitor di alcuni anni fa, e mi nascondo con delle maschere lattice. Ma per favore, prima di scrivere certe stupidaggini, anche se in un blog, accendete il cervello, genialoni da salotto“.
D.h.
„Ja. Ich habe Augen mit elliptischen Pupillen und eine schuppige Haut, wie im Telefim Visitor von vor ein paar Jahren, und ich verstecke mich hinter Latexmasken. Aber bitte, bevor ihr so einen Unsinn schreibt, auch wenn es in einem Blog ist, schaltet euer Gehirn ein, ihr Salon-Genies“.
Merke: Es ist besser ein Reptiliengehirn zu haben, das funktioniert, als ein dreischichtiges, voll entwickeltes menschliches Gehirn, das zu gebrauchen man sich weigert!
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Author: Dr. habil. Heike Diefenbach
Michael Klein