• 6. Juli 2025

Prinzipien sozialer Gerechtigkeit: Überblick und Begriffsklärung

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Anlässlich der Anzahl der Begriffe, die derzeit im Zusammenhang mit Entwürfen von einer sozial gerechten oder von einer fairen Gesellschaft, kursieren und vor allem der mehr oder weniger willkürlichen Art und Weise, in der sie benutzt werden, halten wir es für erforderlich, diesbezügliche Begriffsklärung herbeizuführen.

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Ich habe dies in versucht, möglichst knapp in Tabellenform zu tun:

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eigene Zusammenstellung; Darstellung in Tabellenform: Michael Klein – mit Dank!
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Zur Tabelle einige Anmerkungen:

SEDO

Als Prinzipien sozialer Gerechtigkeit oder Gerechtigkeitsprinzipien sind Prinzipien bezeichnet, nach denen in einer Gesellschaft Güter zugänglich gemacht oder verteilt werden sollen – sie heißen deshalb auch Verteilungsprinzipien – und, per Implikationsbeziehung, nach denen die Beziehungen zwischen den Menschen in dieser Gesellschaft reguliert werden sollen. Im Englischen spricht man diesbezüglich von „principles of justice“ bzw. von „principles of social justice“ oder „principles of distribution“, manchmal von „fairness principles“.

Bereits seit den 1950er-Jahren haben sich vor allem Psychologen und Sozialpsychologen mit der Frage beschäftigt, nach welche Prinzipien Menschen unter welchen Umständen für sie gerechte oder faire Güterverteilungen vornehmen , und in der Folge haben sich drei grundsätzliche Typen von diesbezüglichen Prinzipien herauskristallisiert, nämlich das Gerechtigkeitsprinzip (im engeren Sinn; englisch: „equity principle“), das Gleichheitsprinzip (englisch: „equality principle“) und das Bedarfs- oder Bedürfnisprinzip (englisch: „need principle“) (s. z.B. Cook & Hegvedt 1983; Deutsch 1975). Sie sind, wie Folger et al. (1995) es formuliert haben, die „three faces of social justice“, d.h. die drei Gesichter sozialer Gerechtigkeit.

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Die vergangenen Jahrzehnten waren geprägt von der Formulierung vieler Ansprüche aufgrund der verschiedensten Kriterien oder Merkmale, und es hat sich mit ihnen bzw. an ihnen entlang eine ideologisch geprägte Diskussion um soziale Gerechtigkeit entwickelt, die mit der wissenschaftlichen Arbeit, die mit Bezug auf Prinzipien sozialer Gerechtigkeit geleistet wurde (und wird), oft sehr wenig oder gar nichts zu tun hat. Dies betrifft auch die Benutzung von Begriffen, die oft willkürlich oder nach „Wohlfühl“-Potenzial erfolgt oder im Zuge eines Versuches, den wissenschaftlichen Diskurs sozusagen umzuschreiben, ihn zu dominieren oder gänzlich vergessen zu lassen. Dies wäre vielleicht akzeptabel, wenn die ideologisch geprägte Diskussion um soziale Gerechtigkeit samt der gewählten Begrifflichkeiten Sinn machen, zumindest in sich stimmig wäre, aber das ist nicht der Fall.

Insbesondere „Gleichheit“ wird oft pauschal und ohne irgendeine Begründung als ein wünschenswerter Zustand in einer Gesellschaft dargestellt, obwohl der Begriff sehr weitgehend inhaltsleer ist, lediglich darauf abzielt, Emotionen zu wecken, was ihn als bloßen Kampf- oder Wohlfühlbegriff markiert. Relevant wird der Begriff „Gleichheit“ mit Bezug auf soziale Gerechtigkeit erst dann, wenn die Vorstellung von „Gleichheit“ spezifiziert wird, und dabei gibt es prinzipiell zwei Formen von sozialer Gleichheit, Chancengleichheit und Ergebnisgleichheit. Die Rede von „dem“ Gleichheitsprinzip als solchem ist also sinnlos; „das“ Gleichheitsprinzip gibt es nur in spezifischen Varianten.

Das Bedarfs- oder Bedürfnisprinzip besagt, dass jede Person von einem Gut so viel erhalten soll, wie sie braucht. Wenig überraschend bestehen Konflikte mit Bezug auf dieses Prinzip weit überwiegend darin, dass es unterschiedliche Auffassungen darüber gibt, wer was oder wie viel wovon braucht. Während es vergleichsweise große Übereinstimmung darüber gibt, dass das Prinzip das zum physischen Überleben Notwendige abdecken sollte, sind hierüber hinausgehende Bedarfe oder Bedürfnisse umstritten.

Dem Bedarfs- oder Bedürfnisprinzip zu folgen, setzt voraus, dass ein Surplus besteht bzw. von Manchen geschaffen und dauerhaft aufrechterhalten werden kann, der dann auf Andere gemäß deren Bedarfen/Bedürfnissen verteilt werden kann. Je breiter das Repertoire an gesellschaftlich akzeptierten Bedarfen/Bedürfnissen ist, desto mehr Menschen können dieselben anmelden bzw. desto weniger Menschen werden keine Bedarfe oder Bedürfnisse anmelden. Der für die Befriedigung von zunehmenden Bedarfen/Bedürfnissen erforderliche Surplus wird vorhersehbar von immer weniger Menschen geschaffen werden müssen. Das Prinzip der Bedarfs- oder Bedürfnisprinzip bietet aus sich selbst heraus keinen Anreiz zur Produktivität bzw. zur Schaffung von Gütern, die dann verteilt werden können.

Man könnte vielleicht meinen, dass dem Bedarfs- oder Bedürfnisprinzip automatisch entsprochen sei, wenn eine Gesellschaft dem Prinzip der Ergebnisgleichheit folgen würde, denn dann wäre ja sichergestellt, dass jeder denselben Anteil eines oder (theoretisch) jeden Gutes erhält. Aber erstens haben Menschen unterschiedliche Bedürfnisse, wenn man sie nicht auf das zum physischen Überleben Notwendige reduzieren möchte, und zweitens ist es durchaus möglich, dass eine ergebnisgleiche Gesellschaft so unproduktiv ist, dass sich das Wohlstandsniveau aller Personen in dieser Gesellschaft unterhalb des Wohlstandsniveaus derer bewegen kann, die in einer nicht-ergebnisgleichen Gesellschaft Zuwendungen auf der Basis des Bedarfs- oder Bedürfnisprinzips erhalten.

Das Prinzip der Ergebnisgleichheit bietet nicht nur keinerlei Anreiz zur Leistung bzw. zur Produktivität, die durch Leistung geschaffen wird, sondern es prämiert auch diejenigen Personen, die besonders wenig leisten, denn alle erhalten ja denselben Anteil des Gutes, das sozusagen um so billiger zu erhalten ist, je weniger Einsatz man zu seiner Produktion gebracht hat. Gesellschaften, die dem Prinzip der Ergebnisgleichheit folgen, sind daher Armutsgesellschaften oder werden sehr schnell zu solchen: niemand hat einen Anreiz, produktiv zu sein, und gleichzeitig hat jeder einen Anreiz zum Trittbrettfahren.

Noch ein Wort zum Neid als einer psychologischen Grundlage des Ergebnisgleichheitsprinzips: Neid ist in aller Regel negativ konnotiert, so dass es – erwartungsgemäß – Autoren gibt, die Neid als Grundlage des Ergebnisgleichheitsprinzips ablösen wollen. Bislang ist mir kein disbezüglich annähernd erfolgreicher Versuch bekannt; insbesondere gibt es keinen plausiblen Vorschlag dazu, welche positiv konnotierte psychologische Motivation dem Streben nach Ergebnisgleichheit zugrundeliegen könnte. Oder es wird versucht, Neid in einem politischen oder ideologischen statt einem wissenschaftlichen Rahmen als etwas Positives, weil Angebrachtes („apt“), umzuwandeln und so der Frage aus dem Weg zu gehen. So schreibt Walters (2023: 339) nachdem er sich für seine eigene Position ohnehin unnötigerweise an diversen logischen Schlussformen versucht hat:

„… you ought to concede that the political debate should now proceed from the question of whether positional goods are worthy of envy and not the charge that demands for equality are motivated by envy“,

d.h.

„… man sollte einräumen, dass die politische Debatte nun von der Frage ausgehen sollte, ob Positionsgüter des Neides würdig sind, und nicht vom Vorwurf, dass Forderungen nach Gleichheit durch Neid motiviert werden“,

erwartungsgemäß ohne selbst ein Kriterium dafür vorzuschlagen, warum oder wann ein Gut als des Neides „würdig“ gelten soll. (Für mich persönlich verschiebt sich das Neid-Motiv damit in das Gier-Motiv oder das Motive des „entitlement“, d.h. Sich-Berechtigt-Fühlen zu allem und jedem.) Das klingt wie ein Ratschlag aus einem Strategie-Papier von oder für Gewerkschaften, beantwortet aber nicht die Frage nach der psychologischen Grundlage des Strebens nach Ergebnisgleichheit.

Dem Prinzip der Ergebnisgleichheit folgende Gesellschaften sind kollektivistische Gesellschaften, weil in ihnen individuellen Unterschieden hinsichtlich Leistungsbereitschaft und Leistungsfähigkeit ebenso wenig wie individuellen Wünsche und Bedürfnisse mit Bezug auf Lebensgestaltung Rechnung getragen wird.

Das einzige Prinzip sozialer Gerechtigkeit, das produktiv ist, d.h. eine Grundlage bietet, auf dem ein Anreiz für Menschen besteht, sich an der Produktion von Gütern nach Kräften und dauerhaft zu beteiligen, ist das Gerechtigkeitsprinzip (im engeren Sinn, d.h. als „equity“-Prinzip). Es hat eine klare Definition, die von John Stacey Adams im Jahr 1963 vorgenommen wurde, und zwar wie folgt:

Quelle: Adams 1963: 273

Vereinfacht besagt, besteht Verteilungsgerechtigkeit nach Adams dann, wenn die Auszahlung, die eine Person A für eine von ihre erbrachte Leistung erhält, derjenigen Auszahlung entspricht, die eine andere Person, Person B, für die von ihr, Person B, erbrachte Leistung erhält. Es geht also im Kern darum, dass Personen, die gleiche oder vergleichbare Leistungen erbringen, die gleichen oder vergleichbare Auszahlungen erhalten, während Personen, die unterschiedlich hohe Leistungen erbringen, unterschiedliche Auszahlungen erhalten, nämlich solche, die der jeweiligen Leistung angemessen sind. Bei diesem Prinzip geht es also nicht darum, dass jemand für seine Leistung angemessen, im Sinn von: Wert der Leistung, ausbezahlt wird, sondern darum, dass er im Verhältnis zu anderen Personen bzw. zu deren Leistungen angemessen bezahlt wird.

Eben weil das so ist, hat jeder einen Anreiz zur Leistung oder genauer: dazu, mehr zu leisten (als Andere), weil er von größerer Leistung direkt in Form der Auszahlung, die er erhält, profitiert. Wenn mehr Menschen mehr leisten, steigt die Produktivität, d.h. es werden mehr Güter geschaffen, die zur Verteilung überhaupt zur Verfügung stehen. Notwenigerweise ist eine Gesellschaft, die auf dem Gerechtigkeitsprinzip beruht, eine individualistische Gesellschaft: Leistungen werden individuell um individueller Auszahlungen willen erbracht, die auf der gesellschaftlichen Ebene (ggf. Um-/)Verteilung von Gütern erlaubt, aber nicht um der Verteilung an Andere willen erbraucht werden.

Dies ist der Hintergrund, vor dem die Aussage von Margaret Thatcher „The problem with socialism is that you eventually run out of other people’s money“, d.h. „Das Problem mit Sozialismus ist, dass einem irgendwann das Geld anderer Leute ausgeht“, zu verstehen ist.

Es ist keine Aussage, die auf ideologischer Basis getroffen worden wäre, sondern eine, die auf logischer Basis beruht: Wenn Verteilungsprinzipien allein den Aspekt der Verteilung von Gütern beachten, aber außer Acht lassen, welche Anreize eben durch die Verteilungsregel mit Bezug auf die Produktion von Gütern gesetzt (oder nicht gesetzt) werden, greifen sie notwendigerweise zu kurz; sie formulieren dann nur die Verteilung von Gütern, deren dauerhafte Bereitstellung von irgendwoher einfach vorausgesetzt wird.

Es sei betont, dass eine auf dem Gerechtigkeitsprinzip basierende Gesellschaft immer auch eine Variante des Gleichheitsprinzips erfordert, nämlich das Prinzip der Chancengleichheit, damit sie funktionieren kann. Chancengleichheit ermöglicht die größtmögliche Produktivität, denn bei Vorhandensein von Chancengleichheit ist die Erbringung von Leistung und Verbesserung der eigenen Lebenssituation jedem möglich, oder umgekehrt formuliert: niemand wird von der Leistungserbringung entmutigt oder ausgeschlossen. Deshalb sind auf dem Gerechtigkeitsprinzip basierende Gesellschaften auch Gesellschaften, die (über kurz oder lang) soziale Mobilität ermöglichen müssen.

Es ist also nicht so, dass sich die drei „Gesichter sozialer Gerechtigkeit“ gegenseitig gleichermaßen ausschließen. Das Gerechtigkeitsprinzip involviert Chancengleichheit und vermutlich auch die Berücksichtigung von Bedarfen/Bedürfnissen, die sich eine Gesellschaft, die auf dem Gerechtigkeitsprinzip basiert (bis zu einem gewissen Grad) wird leisten können. Dagegen sind das Gerechtigkeitsprinzip und das Prinzip der Ergebnisgleichheit logisch miteinander unvereinbar. Empirisch könnte es sein, dass in einer auf dem Gerechtigkeitsprinzip basierenden Gesellschaft für bestimmte Güter Ergebnisgleichheit hergestellt wird. Wie gesagt bricht dies jedoch die „Logik“ beider Prinzipien, was über kurz oder lang zu Konflikten über die grundsätzliche Ausrichtung der Gesellschaft führen dürfte.

Ebenso sind das Prinzip der Ergebnisgleichheit und das Bedarfs-/Bedürfnisprinzip nicht miteinander vereinbar. Wie oben schon beschrieben wurde, ist das Bedarfs-/Bedürfnisprinzip nicht automatisch erfüllt, wenn eine Gesellschaft dem Prinzip der Ergebnisgleichheit folgt; vielmehr geht das Prinzip der Ergebnisgleichheit über Bedarfe und Bedürfnisse von Menschen, die, wenn sie über das zum physischen Überleben Notwendige hinausgehen, von Mensch zu Mensch verschieden sind, hinweg.


Literatur:

Adams, John Stacey, 1963: Towards an Understanding of Inequity. Journal of Abnormal and Social Psychology 67(5): 422-436.

Adams, John Stacey, 1965: Inequity in Social Exchange, S. 267-299 in: Berkowitz, Leonard, (Hrsg.): Advances in Experimental Social Psychology (Volume 2). New York: Academic Press.

Cook, Karen S., & Hegvedt, Karen A., 1983: Distributive Justice, Equity, and Equality. Annual Review of Sociology 9: 217-241

Deutsch, Morton, 1975: Equity, Equality, and Need: What Determines Which Value Will Be Used as the Basis of Distributive Justice? Social Issues 31(3): 137-149

Folger, Robert, Sheppard, Blair H., & Buttram, Robert T., 1995: Equity, Equality, and Need: Three Faces of Social Justice, S. 261-289 in: Bunker, Barbara Benedict, & Rubin, Jeffrey Z., (Hrsg.): Conflict, Cooperation, and Justice: Essays Inspired by the Work of Morton Deutsch. San Francisco:  Jossey-Bass/Wiley.

Walters, Jordan David Thomas, 2023: The Aptness of Envy. AJPS (American Journal of Political Science 69(1): 330-340

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Author: Dr. habil. Heike Diefenbach
Michael Klein

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