Vor einigen Tagen haben wir eine kleine Reihe zum Thema “Individualismus” angekündigt. Das ist ein wichtiges Thema, denn Individualisms kann als Leitbild für die persönliche Lebensführung wie für das Zusammenleben von Menschen in einer Gesellschaft nicht nur dienen, sondern hat noch in den 1980er-Jahren als solches gedient – bevor er von einem kruden Kollektivismus in der Variante von sogenannter Identitätspolitik abgelöst wurde:
“In simple terms, identity politics seeks to rally special privileges for the ‘protection’ of a particular race, ethnicity, religion, class or gender on the pretext of correcting a supposed historical wrong against it … It is not how an individual thinks or acts, but which group one belongs to (in the collectivist scheme) which is gaining importance in politics”,
d.h.
“In einfachen Worten ausgedrückt versucht Identitätspolitik, spezielle Privilegien zum ‘Schutz’ einer bestimmten Rasse, Ethnizität, Religion, Klasse oder Geschlecht zu sammeln unter dem Vorwand, ein vermeintliches historisches Unrecht gegen diese Kategorien zu korrigieren … Nicht, wie ein Individuum denkt oder handelt, sondern welcher Gruppe (gemäß des kollektivistischen Schemas) es angehört, ist, was in der Politik an Bedeutung gewinnt”,
so hat Adil Rasheed von Al-Arabiya News “Identitätspolitik” auf den Punkt gebracht.
Menschen werden also auf wenige Merkmale reduziert bzw. auf ihre Eigenschaft als Träger dieser wenigen Merkmale reduziert, so dass sie in “Guppen” eingeteilt werden können (warum “Gruppen” hier in Anführungszeichen gesetzt steht, wird im weiteren Verlauf unserer kleinen Individualismus-Reihe deutlich werden). Der Widerstand gegen Identitätspolitik bzw. Kollektivismus war und ist seit Jahrzehnten groß, und neuerdings schickt sich der Individualismus an, Generation Z wieder als Leitbild für eine vernünftige, weil im Einklang mit der Realität stehenden, Lebensführung zu dienen.
In der Ankündigung unserer kleinen Reihe zum Individualismus wurde schon darauf hingewiesen, dass “Individualismus” viele Definitionen hat, die auf den ersten Blick teilweise recht unterschiedlich zu sein scheinen, aber es nicht sind insofern als sie auf verschiedene Aspekte abstellen, die sich aus dem Grundpostulat des Individualismus ergeben.
Die Bedeutung dieses Grundpostulates wird erkennbar, wenn man es negativ betrachtet bzw. sich klar macht, was dadurch von einer eigenen Existenz ausgeschlossen ist, nämlich alle Mengen, Typen, Klassen, Systeme, Konstrukte etc. Sie haben keine reale Existenz, weil es sich bei ihnen um abstrakte Größen handelt. Bestenfalls handelt es sich – wie beim Begriff der Menge – um eine Mehrzahl Einzelner zusammenfassendes Konstrukt.
So reden wir z.B. von Geröllhalden, aber in der Realität existieren nur viele einzelne Steine, die in Raum und Zeit auf eine bestimmte Weise angeordnet sind. Es ist diese spezielle Anordnung, die wir als “Geröllhalde” bezeichnen. Und diese spezielle Anordnung kann leicht aufgelöst werden, wenn wir die Anordnung der Steine, die sie ausmachen, verändern, z.B. aufzulösen, indem wir sie abtransportieren, um sie für den Bau von Häusern an verschiedenen Orten verwenden. In der Philosophie wird deshalb oft betont, dass der lateinische Begriff “individuum” “das Unteilbare” bedeutet: Was Existenz hat, ist das Unteilbare, d.h. das Einzelne, “… das nicht geteilt werden kann, ohne seine Eigenart …” – eben das, was als “Individualität” bezeichnet wird – ” …. und seine Eigenexistenz …. zu verlieren” (wie es in Kröners Philosophischem Wörterbuch aus dem Jahr 1991 auf Seite 332 heißt; s. Schischkoff 1991).
Was für Geröllhalden gilt, gilt auch z.B. für Kuhherden. Es gibt sie nicht in der Realität, denn sie sind teilbar in einzelne Kühe, die in relativer Nähe zueinander auf einem Gebiet stehen, das Menschen durch die Zuschreibung von Eigentumsrechten und entsprechenden Kennzeichnungen, z.B. einen Zaun oder eine Hecke, als ihr “Feld” definieren.
Ebenso haben Gruppen von Menschen keine eigene Realität; sie sind teilbar in einzelne Menschen, und nur diese einzelnen Menschen existieren real. Mögen sie auch zu Tausenden z.B. in einem Fußballstadion eng beieinander stehen, mögen sie auch (z.B. dort, im Fußballstadion) miteinander sprechen und aufeinander bezogen handeln – das ändert nichts an der Tatsache, dass nur einzelne Menschen sprechen und handeln können. Das ist die Voraussetzung dafür, dass überhaupt aufeinander bezogen gehandelt werden kann, so z.B., wenn Theo Michel, der sich in der Halbzeit ein Bier kaufen gehen möchte, dazu auffordert, ihm ein Bier mitzubringen.
Eine Mehrzahl von Menschen kann als solche nicht sprechen oder handeln. Z.B. besteht “die deutsche Mannschaft” aus Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit, die einen von verschiedenen Menschen miteinander vereinbarten Auswahlprozess durchlaufen haben und ausgewählt wurden, um in einer bestimmten Funktion als Spieler bezogen auf andere einzelne Spieler, die einen ähnlichen Auswahlprozess durchlaufen haben, zu handeln. Beim Fußballspiel schießt niemals z.B. “die deutsche Mannschaft” ein Tor, sondern immer eine bestimmte Person, die in ihrer Eigenschaft als Spieler auf bestimmte Weise bezogen auf andere Personen in ihrer Eigenschaft als Spieler gehandelt hat. Deshalb wird beim Torschuß häufig nicht nur der Torschütze gewürdigt, sondern oft auch derjenige, der dem Torschützen aufgelegt hat. Es ist immer der einzelne Mensch (hier: in seiner Eigenschaft als Spieler), der bestimmte Leistungen erbringt, niemals “die Mannschaft” oder “das Team”. Die Rede von der Leistung “der Mannschaft” ist immer ungefähr das gemittelte Gesamt der Leistung aller Spieler, aus denen “die Mannschaft” zusammengesetzt ist. “Die Mannschaft” spielt nicht und leistet nichts; sie kann es nicht, einfach, weil sie als solche nicht existiert.
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Wenn wir sagen: “Die deutsche Mannschaft hat ein Tor geschossen”, dann ist das eine Sprachkonvention, die wir benutzen, um das, was im voranstehenden Absatz beschrieben wurde, abzukürzen, aber keine Beschreibung der beobachtbaren Realität. Solange wir uns dessen bewußt sind, daß solche Rede bloß eine sprachliche Konvention ist, die nur in einem bestimmten Kontext sinnvoll, verständlich oder relevant ist (so ist die Rede von “Frauen” strenggenommen nur in einem gynäkologischen Kontext sinnvoll), gibt es keine Probleme damit, Menschen – um der Kürze des sprachlichen Austausches willen – zu Gruppen zusammenfassen und ihnen als Gruppen Handlungen zuschreiben. Die Gefahr liegt darin, Sprachkonvention dieser Art nicht nur für eine Realität zu halten, sondern den Konstrukten auch spezielle Eigenschaften, die die jeweiligen Konstrukt auszeichnen sollen, zuzuschreiben.
So hat z.B. Gustave Le Bon (1895) jeder Menschenmasse, die er im französischen Original als “foules” bezeichnet – was man als alternativ “Massen”, “Menschenmengen”, “Scharen” oder “Mobs” übersetzen kann –, eine spezifische “Psychologie”, unterstellt, die die Menschen, aus denen die jeweilige Menge zusammengesetzt ist, nicht oder nicht alle aufweisen. Le Bon war der Meinung, dass selbst intelligente und zivilisierte Menschen in einer Masse psychologisch in einen barbarischen Zustand zurückfallen, der die von Le Bon angenommene Massenpsychologie kennzeichnet; für Le Bon ist die Menschenmasse ein in einem barbarischen Geisteszustand befangenes psychologisches Kollektiv.
Wir alle dürften keine Schwierigkeiten haben, uns ein Beispiel einer Masse bzw. Massenverhaltens vor Augen zu führen, zu dem diese Beschreibung zu passen scheint, und besonders zu der Zeit, in der Le Bons Buch erschien, am Ende des 19. Jahrhunderts, waren revolutionäre Massen auf den Straßen unterwegs und haben bei dem, was man heute das “establishment” nennen würde, für Angst und Schrecken gesorgt. Es ist kein Zufall, dass die erste Beschäftigung mit “Massen” und Versuche, ihr “Verhalten” zu erklären – nicht nur durch Le Bon, sondern u.a. auch durch Hippolyte Taine (2011[1875-1893]) – in diese Zeit fallen. Le Bon hat u.a. im Jahr 1871 die Errichtung der Paris Commune miterlebt, in dieser Zeit einen freiwilligen Ambulanzdienst organisiert und seine diesebezüglichen Erfahrungen später in autobiographischen Schriften berichtet. Aber das eben ist das Problem; das Buch ist eine ideologische Schrift und eine Schrift, in dem persönliche Erfahrungen verarbeitet werden, aber keine wissenschaftliche Arbeit. Und daher ist es nicht überraschend, dass:
“… Psychologie des foules a été très attaqué, que ce soit pour ses postulats obscurs, ses preuves lacunaires, ou ses hypothèses psychologiques discutables” (Drury 2020: 9; Kursivsetzung i.O.),
d.h.
… Psychologie des foules […] stark angegriffen [wurde], sei es wegen ihrer obskuren Postulate, ihrer lückenhaften Belege oder ihrer fragwürdigen psychologischen Hypothesen” (Drury 2020: 9; Kursivsetzung i.O.).
Selbst dann, wenn man akzeptieren will, dass sich Menschen in einer Masse anders verhalten können als sie sich verhalten würden, wenn sie sich nicht in einer Masse befänden, muss man festhalten, dass dies erstens manche Menschen tun, andere aber nicht, und zweitens, dass
“[U]ne théorie qui considère que l’émotivité est primitive et la violence, inhérente à la psychologie d’une foule, ne saurait expliquer pourquoi, même en colère, la plupart des foules sont non violentes, ni, lorsqu’elles le sont, éclairer précisément leurs actions” (Drury 2020: 10)
d.h.
“… eine Theorie (wie die von Le Bon), die Emotionalität als primitiv auffasst und Gewalt als einer Menschenmasse inhärent, kann nicht angemessen erklären, warum die meisten psychologischen Massen, sogar dann, wenn sie wütend sind [also die Menschen, die die Masse bilden, wütend sind!], nicht gewalttätig sind, und sie kann die Handlungen Gewalttätiger in den Massen [ebenfalls] nicht genau erklären” (Drury 2021: 2).
Sie kann es deshalb nicht, weil sie auf der falschen Prämisse aufbaut, dass die “Masse” ein Eigenleben führe insofern sie die Individuen, die die “Masse” ausmachen, ihrer Individualität beraube. Wenige Jahrzehnte später hat der Psychologe Floyd Allport (1924a; 1924b) festgehalten, dass ein “Gruppengeist” nicht beobachtbar ist und deshalb spekulativ bleiben muss und die Annahme eines solchen ohnehin nicht nötig sei, um menschliches Verhalten auch in Gruppen oder in der “Masse” erklären zu können, denn der Geist sei eine Funktion eines Nervensystems, und deshab notwendigerweise nur in Individuen zu finden:
“There is no psychology of groups which is not essentially a psychology of individuals” (Allport 1924a: 4),
d.h.
“Es gibt keine Gruppenpsychologie, die nicht im wesentlichen eine Individualpsychologie ist” (Allport 1924a: 4).
Das individualistische Grundpostulat, wie es hier beschrieben wurde, ist philosophisch betrachtet dem Nominalismus (im Gegensatz zum sog. Realismus) verbunden, der den meisten Lesern aus dem Zusammenhang mit dem Universalienstreit ein Begriff sein dürfte. Vereinfacht gesagt ging es dabei um die Frage, ob Allgemeinbegriffe oder abstrakte Größen eine Existenz unabhängig von realen Einzelphänomen haben oder nicht. Oder anders ausgedrückt: haben sie eine Existenz vor den Dingen oder eine im Prinzip unabhängige Existenz von den Dingen, in denen sie sich zeigen oder niederschlagen (die Position der Realisten), oder sind sie einfach Begriffe, die den real existierenden Dingen entsprechend menschlicher Wahrnehmungen und Kategorisierungen “aufgesetzt” werden (die Position der Nominalisten)?
Nominalisten haben keine Schwierigkeiten damit, Eigenschaften wie z.B. “Weiblich-Sein”, “Rot-Sein” einem, mehreren oder vielen Einzelnen zuzuschreiben oder auf einem Feld stehende vier Kühe als “die Vier” zu bezeichen, aber sie betrachten “Weiblich-Sein”, “Rot-Sein”, “Vier-Sein” etc. nicht als in der Realität existierende Größen, die sich im Fall von Weiblich-Sein in bestimmten Menschen, genannt: Frauen, verkörpern oder niederschlagen – im Fall von “Rot-Sein” in bestimmten einzelnen Objekten, z.B. einer Rose, einem Pullover, einem Auto, und im Fall von “Vier-Sein” z.B. in Musketieren oder Kühen oder Autos, die aufeinander bezogen handeln oder in einem bestimmten Raum gleichzeitig anzutreffen sind. Vielmehr betrachten sie sie als Gebilde, die mental aufgrund von Wahrnehmungen geschaffen werden oder als sprachliche Übereinkünfte, denen jedoch außerhalb des Denkens nichts Wirkliches entspricht.
Man kann dagegen einwenden, dass “Wahrnehmung” und “Denken” ebenfalls keine eigenständige Realität zukomme, sondern Konstrukte sind. Und das ist richtig. Der entscheidende Punkt ist jedoch, möglichst nahe an der beobachtbaren Realität zu bleiben, d.h. so wenige Abstrakta oder Konzepte wie möglich zu postulieren – gemäß dem Grundsatz “entia non sunt multiplicanda paeter necessitatem”, der oft fälschlich William Ockham zugeschrieben wird, in dessen Schriften dieser Grundsatz so nicht zu finden ist, der aber im Sinn sehr Ähnliches geschrieben hat (s. hierzu De Waal 2010: 311, Fußnote 25). Und dies wird dadurch ermöglicht, dass man sich weniger abstrakter Begriffe bedient wie die oben stehenden, die klar als sprachliche Konventionen, als Namen für eine Reihe miteinander zusammenhängender beobachtbarer Phänomene, erkennbar sind, z.B. als Namen für in der Realität beobachtbare elektrischer Ströme im Gehirn, die mit bestimmten Funktionen desselben verbunden sind.
Wenn abstrakten oder Allgemein-Begriffen oder Eigenschaften wie “Rot-Sein” eine eigenständige Existenz zugeschrieben wird, dann besteht prinzipiell die Gefahr, dass damit eine bestimmte Qualität und ggf. eine eigenständige Wirkmöglichkeit verbunden wird. Auf diese Weise werden Phantasiegestalten geschaffen. Z.B. werden schwarze Katzen, die aufgrund ihrer Fellfarbe als mit magischen Kräften ausgestattet oder als magische Kräfte kanalisierend angesehen werden, in teuflische Katzen, d.h. Dämonen in Katzengestalt, oder in Hilfsgeister in Katzengestalt für Hexen oder Magier transformiert. Sie hören auf, Katzen mit einer bestimmten, an sich irrelevanten, Fellfarbe, zu sein. Vielmehr verkörpern sie nunmehr das Dunkle bzw. dunkle Kräfte, die sich in Katzen, aber nicht nur in Katzen, sondern z.B. auch in Raben, die wegen der Farbe ihrer Federn als Vorboten von Unglück oder Tod gelten, niederschlägt. Das Dunkle hat dann Katzen- oder Rabengestalt angenommen, und das Dunkel-Sein wird als entscheidend für das angesehen, was schwarze Katzen oder Raben “tatsächlich” sind, was ihre entscheidende Qualität ist.
Das Beispiel illustriert, dass der Realismus – im Gegensatz zum Nominalismus – jedem magischen Glauben – im engeren Sinn wie im weiteren Sinn, verstanden als irrtümliche und unplausible Zusammenhangsvermutungen, – Tür und Tor öffnet. Und das ist heute nicht anders als im Mittelalter.
Beispielsweise wird heute über “-ien” und “-ismen” gesprochen, als würden sie tatsächlich existieren. So ist derzeit viel von “Rassismus” die Rede, der angeblich überall in der Gesellschaft verbreitet sei und Menschen regelrecht – wie eine Krankheit – befalle, so dass ihr Handeln von “Rassismus” angeleitet sei, auch dann, wenn es ihnen selbst nicht bewußt sei. Es ist, als hätte “Rassismus” Beine und würde unter dafür anfälligen Menschen an den verschiedensten Orten umgehen, um sein Unwesen zu treiben.
Was es tatsächlich gibt, ist, dass Menschen andere Menschen z.B. aufgrund eigener Präferenzen, Vernunftgründen oder Gerechtigkeitserwägungen nicht gleich, sondern ungleich, behandeln. Was genau der jeweiligen Ungleichbehandlung zugrunde liegt, wissen wir in aller Regel nicht. Dennoch gibt es Leute, die meinen, diese Frage gar nicht erst stellen zu müssen, sondern die schlichte Beobachtung, dass jemand mit einer bestimmten Hautfarbe jemanden mit einer anderen Hautfarbe in einer bestimmten Situation anders behandelt als jemanden mit derselben Hautfarbe, als Ausdruck des Dings mit dem Namen “Rassismus” ansehen. Sie unterstellen, dass “Rassismus” auf die Hautfarbe von Menschen achte und es deshalb die Hautfarbe eines Menschen gewesen sein müsse, die den in Menschen verkörperten “Rassismus” einem bestimmten anderen Menschen gegenüber auf eine bestimmte Weise handeln ließ. Diese Leute meinen, dass sich der “Rassismus” im Denken und Handeln von Menschen ausdrückt, ganz so, wie sich der Teufel im Mittelalter Ausdruck durch “Verkörperung” z.B. in einem Ziegenbock mit schwarzem Fell, verschafft hat. Sie meinen, es sei der “Rassismus”, der einen Menschen sozusagen besetzt hat und als sein Vehikel benutzt, der bestimmt, wie andere Menschen zu behandeln seien.
Aber “Rassismus” ist kein Ding, sondern bloß eine Bezeichnung für eine auf der Rassenlehre aufbauende Hierarchisierung der in dieser Rassenlehre unterschiedenen Rassen. Man kann diese Rassenlehre vertreten oder nicht; man muss selbst dann, wenn man sie vertritt, nicht unbedingt eine Hierarchisierung von Rassen vornehmen. Selbst dann, wenn man eine solche Hierarchisierung vornimmt, muss man sie nicht den eigenen Handlungen zugrundelegen. “Rassismus” tut nichts und erklärt nichts; ihn zu Postulieren ist eine verbale Ersatzhandlung, die jemand anstatt einer Erklärung ausführt.
Reifikation, d.h. die Vorstellung, nach der ein abstrakter Begriff, ein Konzept, ein Ereignis eine reale Existenz habe und handeln könne, ist also kein seit dem Mittelalter überwundener Denkfehler. Vielleicht war er eine zeitlang in der Folge der Aufklärung mehr oder weniger überwunden, zumindest im öffentlichen Diskurs, tritt aber heute wieder in allen möglichen Zusammenhängen und gerade unter Menschen, die sich gerne einer irgendwie gearteten “Elite” zurechnen häufig auf.
In einer Variante von Reifikation werden abstrakten Begriffen, Konzepten, aber auch real existierenden Dingen, die kein Bewußtsein haben, Absichten und Handlungsfähigkeit unterstellt. So z.B. bei Jürgen Hardt, dem außenpolitischen Sprecher der CDU, der neuerlich öffentlich vorgetragen hat, dass es nicht die Regierung (bzw. Regierungen) – also tatsächlich: die Mitglieder des Regierungskabinetts im Zuge irgendeiner Art von Entscheidungsverfahren – gewesen seien, die extreme Maßnahmen wie das Einsperren von Menschen in ihren Häusern, in Reaktion auf das SARS-CoV-2-Virus beschlossen und getroffen haben; vielmehr sei es das Virus gewesen, das Regierungen zu diesen Maßnahmen gezwungen habe.
Wenn man sagen wollte, dass Hardt nicht tatsächlich meine, das Virus habe direkten Zwang auf die Mitglieder der Regierung ausgeübt, auf eine bestimmte Weise zu handeln, sondern er gemeint habe, dass das Virus Bedingungen geschaffen hätte, die die Mitglieder der Regierung dazu gezwungen hätten, auf eine bestimmte Weise zu handeln, ändert das nichts an dem magischen Denken, dass in dieser Vorstellung deutlich wird: erstens wird dem Virus nach wie vor Handlungsfähigkeit dahingehend unterstellt, dass es besagte Bedingungen geschaffen habe; zweitens wird nunmehr auch Bedingungen Handlungsfähgikeit unterstellt insofern behauptet wird, dass Bedingungen die Mitglieder der Regierung zu den Maßanhmen gezwungen habe, die die Mitglieder der Regierung also strenggenommen gar nicht selbst getroffen hätten, sondern eben doch das Virus, vermittelt über die Bedingungen, die das Virus geschaffen hat.
Das ist esoterisches Denken, das in diesem Fall so weit geht, dass nicht nur jemand versucht, sich die Welt zu erklären, indem er nicht mit Bewußtsein Ausgestattetem Handlungsfähigkeit zuschreibt und bestimmte Phänomene auf dessen Wirken zurückführt, sondern darüber hinaus die eigene Verantwortung für das eigene So-und-So-Handeln auf das Wirken von nicht mit Bewußtsein Ausgestattetem verschiebt. Dieses esoterische Handeln ist qualitativ dasselbe wie das, das der (Un-)Heiligen Inquisition des Mittelalters zugrunde gelegen hat, sie erst ermöglicht hat.
Der Individualismus steht also esoterischem Denken entgegen insofern er Handlungsfähigkeit (im Gegensatz zu bloßem Verhalten) nur bei mit Bewußtsein ausgestatteten, einzelnen Lebenwesen verortet und zugesteht, dass Entscheidungs- und Handlungsfreiheit prinzipiell besteht. Im folgenden Teil der Serie über Individualismus wird betrachtet, was Individualismus für (die Sicht auf) den einzelnen Menschen und seine Lebensführung bedeutet.
Literatur:
Allport, Floyd H., 1924a: Social Psychology. Boston: Houghton Mifflin Co.
Allport, Floyd H., 1924b: The Group Fallacy in Relation to Social Science. Journal of Abnormal and Social Psychology 19(1): 60-73
De Waal, Cornelius, 2010: The History of Philosophy Conceived as a Struggle between Nominalism and Realism. Semiotica 179: 295-313
Drury, John, 2020: Lire la “Psychologie des Foules” aujourd’hui: Commentaires et évaluation, S. 9-13 in: Le Bon, Gustave, Psychologie des Foules (1895). Préface et annotations scientifiques de John Drury. Paris: Enrick B.éditions.
Le Bon Gustave, 1895: La psychologie des foules. Paris: Félix Alcan.
Schischkoff, Georgi, (Hrsg.), 1991: Philosophisches Wörterbuch. Stuttgart: Alfred Kröner.
Taine, Hippolyte A., 2011[1875-1893]: Les Origines de la France Contemporaine. (Réédition.) Paris: Robert Laffont.
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Author: Dr. habil. Heike Diefenbach