• 16. Juni 2025

Nathan Gelbart im Interview: „Die iranische Bevölkerung hasst die Mullahs“

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Juni 16, 2025
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Die iranische Führung will ein Volk von zehn Millionen Menschen vernichten. Ihr erklärtes Ziel ist die Vernichtung des Staates Israel. Sagt Rechtsanwalt und Nahost-Experte Nathan Gelbart. Im Interview:

Warum soll der Iran keine Atombombe haben? Pakistan und Nordkorea haben doch auch welche. Was macht den Unterschied?

Zunächst muss man feststellen, dass der Iran den Atomwaffensperrvertrag unterzeichnet hat. Das heißt, es ist ihm untersagt, und er hat es auch akzeptiert, – außer der Nutzung der Atomtechnologie für den zivilen Gebrauch – keine Atomwaffen herzustellen und Inspektionen zuzulassen. Das ist bereits das beste Argument. Nur hält sich der Iran leider nicht daran.

Darüber hinaus ist der Iran ein Staat und der einzige Staat weltweit, der es sich erlaubt, offen und unverblümt zu erklären: Unser Ziel ist die Vernichtung des Staates Israel. Und hier geht es nicht um einen sogenannten Regimewechsel des sogenannten Regimes in Jerusalem, sondern wenn man hier die Vernichtung eines Staates proklamiert, der 10 Millionen Einwohner hat, dann geht es hier um einen Genozid, um einen zweiten Holocaust und die Vernichtung von 10 Millionen Menschen. Und daher muss einem Staat wie dem Iran der Besitz von Massenvernichtungswaffen untersagt sein.

Nun gibt es einen Unterschied zwischen einer Maulhurerei und dem, was man tatsächlich anstrebt. Es ist grausam und furchtbar, dass sie das äußern, aber dann muss man das ja auch ernsthaft betreiben wollen. Will das die iranische Führung?

Grundsätzlich haben Sie natürlich recht. Aber im konkreten Fall trifft es einfach nicht zu, dass der Iran nur redet und nicht handelt. Man muss sich dabei mal die Entwicklung der letzten Jahrzehnte seit 1979 anschauen. Der Iran versorgt Proxys in einem Gürtel um Israel herum mit Massenvernichtungswaffen. Dazu gehören eben auch konventionelle Kurz- und Mittelstreckenraketen, die die Hisbollah besessen hat und vielleicht zum Teil auch noch besitzt.

Der Iran hat die Hamas massiv ausgebildet und auch mit Waffen versorgt, er hat die syrischen Milizen bewaffnet, im Irak eine Miliz geschaffen, die den Gürtel um Israel herum immer enger ziehen soll und auch konkret angreift. Wir haben das gesehen, als die Hisbollah am 8. Oktober bereits Israel massiv angegriffen hat. Der komplette Norden Israels musste evakuiert werden. Bis heute sind die Bewohner nicht zurück.
Und was am 7. Oktober in Südisrael passiert ist, das wissen wir beide. Das muss ich an dieser Stelle nicht wiederholen. Auch dahinter stand der Iran mit massiver Ausbildung und Versorgung der Hamas mit Waffengerätschaften.

Der Iran hat die israelische Botschaft in Buenos Aires in die Luft gesprengt. Der Iran hat ein jüdisches Gemeindezentrum in Buenos Aires in die Luft gesprengt. Der Iran hat 2017 israelische Touristen in Bulgarien massakriert. Es ist jetzt nicht so, dass der Iran ein Papiertiger wäre. Und jetzt muss man sich mal vorstellen, dass ein Staat wie der Iran im Besitz von Atomwaffen wäre. Er hätte sie auch eingesetzt. Und wenn wir diesen Showdown, den wir seit letztem Freitag mit dem Iran haben, in drei, vier oder fünf Monaten gehabt hätten, dann können Sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass diese Atomwaffen, so sie im Besitz der Iraner wären, auch eingesetzt worden wären.

Hat der religiöse Background der Mullahs etwas so Suizidales? Denn wenn ich die Atombombe auf Israel schmeiße, weiß ich, dass ich mich damit selbst vernichte.

Die Doktrin der schiitischen Mullahs im Iran ist geprägt von Fanatismus, von Dschihadismus, von einem Märtyrertum, das das eigene Leben als weniger wertvoll anerkennt als vermeintliche Ziele, die der Prophet Ali vorgegeben haben soll, zu erzielen und zu erreichen. Das ist das Gefährliche an dieser Ideologie. Sie ist nicht rational.

Sie wird auch in keinem anderen muslimischen Land dermaßen radikal propagiert wie im Iran. Und der Iran handelt auch danach. Es sind keine rationalen Entscheidungsträger, die irgendein rationales Ziel erreichen wollen, zum Beispiel die Verbesserung der Lebensverhältnisse für die iranische Bevölkerung. Die Lebensverhältnisse sind katastrophal, weil eine Inflation vorherrscht, eine Energieknappheit, eine Wirtschaftsrezession, die man schon als chronisch bezeichnen kann. Das alles ist den Mullahs egal. Und das alles ist die unmittelbare Konsequenz aus dem aggressiven Handeln gegen den Westen per se.

Vergessen Sie nicht: Der Iran sieht viele Staaten als seinen Feind an, nicht nur Israel, die gesamte westliche Welt. Und die Frage, die man sich auch stellen muss: Wofür benötigt der Iran ballistische Langstreckenraketen? Israel ist 1500 Kilometer entfernt. Dafür braucht man keine Langstreckenraketen. Die Langstreckenraketen entwickelt der Iran selbstverständlich dafür, um auch die Möglichkeit zu haben, Europa und die Vereinigten Staaten anzugreifen. Und deswegen muss man einfach vergegenwärtigen, dass Israel hier nicht nur seinen eigenen Krieg, sondern einen Krieg der gesamten westlichen Welt führt.

Linke würden hier sicher nachfragen: Soll ich Ihnen jetzt aufzählen, wer alles Langstreckenwaffen besitzt?

Da kommen wir wieder an den Beginn unserer Diskussion zurück. Natürlich gibt es – zum Teil auch demokratische Staaten, die Langstreckenwaffen besitzen. Und wenn es die geographisch-strategische Situation erfordert, dann ist das eben so, aber man kann davon ausgehen, dass sie diese nicht in der Absicht, ein Volk von 10 Millionen Menschen zu vernichten, einsetzen würden. Und der Iran proklamiert genau das. Es gibt keinen rationalen Grund für den Iran, Langstreckenraketen zu besitzen. Er hat keinen territorialen Konflikt mit Israel, noch mit sonst irgendeinem anderen Staat.

Wie stark wirkt hier die Propagandaarbeit? Auch nach dem 7. Oktober hieß es sehr schnell aus bestimmten Kreisen: Das ist doch alles von Israel inszeniert.

Man will halt nicht das glauben, was man nicht als Fakt anerkennen will. Und das passt eben in dieses perfide Bild der jüdisch-israelischen Weltverschwörung. Und man darf, gerade wenn man hier auf die Argumentation der Linken, zurückkommen will, die Sie angesprochen haben, eine Sache nicht vergessen: Die linke Anti-Atomkraftbewegung ist stark und vehement, aber hört dort auf, wenn es um Atomwaffen geht, die gegen Israel eingesetzt werden können. Da hört der Spaß dann auf. Da gibt es dann keine Kritik mehr.

Die internationale Frauenbewegung ist sehr aktiv, sehr vehement, wenn es um den Schutz von Frauenrechten geht. Geht es aber um den Schutz von jüdischen Frauen, dann hört auch das damit auf. Das heißt, wir haben hier ein ganz klares Auseinanderklaffen der Wertevorstellungen unserer Gesellschaft und insbesondere dort, wenn es um Juden und den jüdischen Staat Israel geht.

Na ja, jüdische Frauen müssen ja eher nicht geschützt werden, die wachsen ja in demokratischen Verhältnissen auf. Die einzigen jüdischen Frauen, die Feministinnen schützen müssten, sind wahrscheinlich die Orthodoxen, die unter einem orthodoxen patriarchalen System leiden.

Damit unterstellen Sie, dass orthodoxe Frauen zur Orthodoxie gezwungen werden.

Nein, Sie haben ja unterstellt, dass Jüdinnen in irgendeiner Form unterdrückt werden und sich die internationale Frauenbewegung nicht um die Jüdinnen kümmert.

Das kann ich Ihnen erklären. Ab dem 7. Oktober habe ich von keiner einzigen Frauenbewegung auch nur ein Wort der Kritik darüber gehört, dass Terroristen jüdische Frauen vergewaltigt und eingesperrt, gekidnappt und bei lebendigem Leibe verbrannt haben. Ich habe außer von Frau Schwarzer dazu von niemandem etwas gehört.

Die wurden ja nicht vergewaltigt und verbrannt, weil sie Frauen sind, sondern weil sie Juden sind.

Das ändert nichts daran, dass sie Frauen waren. Und wenn man sagt, ich unterstütze die Rechte von Frauen und bin gegen jegliche Gewalt gegen Frauen, dann ist das unisono. Sonst wird man eben unglaubwürdig, wenn man gerade Juden oder jüdische Frauen von dieser Schutzwirkung ausnimmt oder sich nicht darum schert, wenn jüdische Frauen massakriert werden.

Was macht es für einen Unterschied, welche Religion eine Frau hat? Aber wenn man gerade Frauen einer bestimmten Religionszugehörigkeit von seiner Kritik an den Tätern ausnimmt, dann spricht das Bände. Gerade wenn es um jüdische Frauen geht.

Netanjahu will den Regimewechsel im Iran. Es geht also schon über die Ausschaltung des Atomprogramms hinaus, meldet die Tagesschau. Wer ist eher weg, Putin oder Chamenei?

Der Revolutionsführer Ali Chamenei ist das geistige Oberhaupt der Islamischen Republik und ist derjenige, der dort das Sagen hat. Er ist mittlerweile 86 Jahre alt. Ob er sich noch im Iran aufhält oder nicht, ist umstritten. Es gibt viele Hinweise darauf, dass er möglicherweise das Land verlassen hat. Wenn dem so ist oder wenn er umgekommen sein soll, dann ist der Regimewechsel in greifbarer Nähe.

Und natürlich ist das ein Ziel der israelischen Aktion, und es wäre ja das viel geringere Übel. Die iranische Gesellschaft ist grundsätzlich eine demokratische Gesellschaft, im Gegensatz zu den sunnitischen Staaten. Dort können sie das Regime abschaffen, und sie haben am Ende meistens noch ein radikaleres Regimes als vorher.

Die iranische Bevölkerung hasst die Mullahs. Ein Großteil der Bevölkerung möchte dieses Regime nicht, möchte ein friedliches, demokratisches Zusammenleben der Nationen im Nahen Osten – auch mit Israel. Und deswegen kann man das so nicht vergleichen. Und ich bin sicher, dass wenn die Intensität der israelischen Angriffe weitergeht und auch die Erfolge sich weiterhin einstellen bei der Neutralisierung von führenden Persönlichkeiten der Befehlsriege, bei den Mullahs, sei es bei den Revolutionsgarden, der Armee, des Regimes oder auch bei der politischen Führung, dann könnte der Regimewechsel tatsächlich in greifbarer Nähe sein.

Die DDR konnte sich 40 Jahre halten, weil genug Leute mitgemacht haben. Deshalb ja die entscheidende Frage: Ist der Hass auf Israel größer als jener auf die Mullahs? Die Frankfurter Allgemeine Zeitung schrieb gerade die Schlagzeile: „Zuerst dachten wir, Israel greift nur das Regime an“, und weiter heißt es da: „Anfangs gab es unter Regimegegnern vielleicht noch heimliche Freude über den Tod der Militärführung. Doch längst ist das in Angst und Wut umgeschlagen.“ Das kennt man ja aus dem Iran, auch aus den Jahrzehnten zuvor, wenn es gegen Amerika ging.

Hier wird häufig vermischt zwischen einer Haltung, die man vielleicht als Journalist gerne sehen würde, oder den Tatsachen, die dafür sprechen. Ich glaube, und das ist nun mal so in Kriegszeiten: Die Wahrheit stirbt als erstes. Noch dazu in einem Regime, das das Internet sperrt, das jegliche Meinungsfreiheit unterdrückt. Ob das wirklich so gesehen wird, wird abzuwarten sein. Ich halte das für sehr fraglich. Es gibt viele Graffitis, die man sieht, wo die Israelis ermuntert werden, weiterzumachen und loszuschlagen, damit sich die iranische Bevölkerung dieses Regimes entledigen kann.

Wer hat die Graffitis gemacht, der Mossad oder die CIA? Was mich zu der Frage führt: Haben denn Mossad und CIA parallel Freiheitsbewegungen im Iran hochgepäppelt? Bisher sind ja keine Aufstände ausgebrochen, die das Regime nicht in den Griff bekäme. Also so erfolgreich scheint die Arbeit der ausländischen Geheimdienste auch nicht zu sein.

Also mir ist nicht bekannt, dass externe Akteure da einen Einfluss auf die Widerstandsbewegungen, soweit man sie überhaupt vernehmen konnte, im Iran hatten, und wenn, wäre mir das sicherlich nicht bekannt. Aber ich habe auch nicht den Eindruck, dass das so gewesen ist. Natürlich wird das mit großer Freude wahrgenommen, wenn im Iran die Menschen auf die Straße gehen und gegen dieses fürchterliche Regime ihren Protest zum Ausdruck bringen. Aber dass man da aktiv daran mitgewirkt hat, das wage ich zu bezweifeln.

Also das würde mich jetzt wundern, wenn es nicht getan worden wäre. Da gibt es doch ein elementares Interesse der Dienste.

Der israelische Geheimdienst wird auch ein bisschen überschätzt, da politische Massenbewegungen in einem feindlichen Land in Gang setzen zu können. Ich kann mir gut vorstellen, und dafür gibt es ja auch tatsächliche Belege, dass hier israelische Nachrichtendienste einen Einfluss darauf gehabt haben, dass iranische Führungspersönlichkeiten neutralisiert und umgebracht werden konnten durch Aktionismus in Zusammenarbeit wahrscheinlich auch mit Widerständlern aus dem Iran selbst. Also dass da Dutzende von Mossad-Agenten durch den Iran laufen und Drohnenabschussstationen zusammenbasteln, das wage ich zu bezweifeln. Der Iran ist kein einfach bereisbares Land, und ohne die Unterstützung von lokalen Mitstreitern wäre das alles so nicht möglich gewesen.

Der CDU-Politiker Roderich Kiesewetter sagt, der Iran unterstütze Russland im Ukrainekrieg. Eine Schwächung des Iran nütze auch der ukrainischen Sache. Kiesewetter fordert klare Bekenntnisse zum israelischen Angriff von der Bundesregierung.

Das unterstütze ich. Und es ist kein Geheimnis, dass der Iran Drohnen an die Russische Föderation liefert, die gegen vornehmlich Zivilisten in der Ukraine eingesetzt werden. Deshalb muss es im Interesse aller recht und gerecht denkenden Menschen, vor allem diejenigen, die den kriegerischen Konflikt zwischen Russland und der Ukraine als beendet sehen wollen, liegen, hier auch unterstützend einzuwirken, dass die Waffenlieferungen an die Russische Föderation ausbleiben, und das geht eben nur über eine Beendigung der Fähigkeiten des Iran, Drohnen auszuliefern.

Was sagen Sie zu folgender These: Israel musste den Gaza-Krieg führen, weil demnächst die Drohnentechnik die Iron-Dome-Kapazitäten unterwandert und die Terroristen freie Bahn gehabt hätten.

Also nach Erkenntnissen der Internationalen Atomenergiebehörde steht der Iran kurz vor der Fähigkeit, Atomwaffen herzustellen durch eine Anreicherung von Uran auf 60 Prozent. Die Anreicherung auf weitere 90 Prozent ist ein Kinderspiel, ebenso betreibt der Iran nachhaltig die Entwicklung von Zündsystemen, das ist ja die zweite Voraussetzung, um eine Atombombe herstellen zu können. Das hat mit Gaza nichts zu tun.
Israel sagt, das war unsere letzte Möglichkeit, hier noch einwirken zu können. Denn in dem Moment, wo der Iran über die Atomwaffen verfügt hätte, würde der Showdown mit dem Iran natürlich eine ganz andere Dimension annehmen und würde erst recht zu einem Atomkrieg führen können, der die ganze Region sogar in atomaren Schutt und Asche hätte setzen können. Und deswegen bezweifle ich nachhaltig, dass das irgendwas mit Gaza zu tun hat oder mit der Timeline der Kämpfe im Gazastreifen der israelischen Armee.

Der Kernpunkt ist demnach tatsächlich das Religiös-Suizidale der Mullahs?

Wie es von den Mullahs im Iran eben propagiert und praktiziert wird. Es gibt kein einziges muslimisches Land weltweit, das seine eigenen Bürger dermaßen malträtiert aus religiös-ideologischen Gründen, wie das die Mullahs im Iran tun. Amputationen, Vergewaltigungen, Steinigungen von Frauen, Verurteilungen willkürlicher Art, Hinrichtungen von Homosexuellen auf öffentlichen Plätzen. Ich glaube, in keinem muslimischen Land sieht man das mit einer derartigen Offensichtlichkeit wie im Iran.

Aber die Afghanen sind doch da auch nicht so schlecht drin.

Ja, die Taliban ziehen sich ihre Hosen auch nicht mit der Kneifzange an. Aber die tatsächliche Gefahr, die von den Taliban ausgeht, spielt sich in erster Linie in Afghanistan selbst ab. Das ist auch sehr traurig, aber man muss es einfach zur Kenntnis nehmen, wenn man sich die internationale Dimension dieser Gefahr anschauen möchte.

Nicht zuletzt auch zu Ihrer Situation: Antisemitismus in Deutschland und Europa. Selbst der Zentralrat der Juden tut sich schwer damit, endlich klar zu benennen, wo er tatsächlich hauptsächlich 2025 herkommt.

Der Zentralrat der Juden ist eine Körperschaft des öffentlichen Rechts. Er wird nachhaltig alimentiert, zu Recht alimentiert von der Bundesregierung und ist natürlich grundsätzlich immer sehr kooperativ, wenn es darum geht, sich mit Kritik an der Bundesregierung etwas zurückzuhalten.

Aber spätestens jetzt zeigt sich einfach eine Entwicklung, die bereits seit den letzten zehn Jahren eingetreten ist, über die man nicht mehr hinwegsehen kann. Wenn heute Juden auf offener Straße in Deutschland körperlich angegriffen werden, dann sind es keine Neonazis mehr, wie es vielleicht früher in Teilen von Brandenburg oder in Teilen Berlins der Fall war. Das sieht man heute faktisch gar nicht mehr. Es sind zu 99,9 Prozent der Fälle – das ist das, was meiner Kenntnis entspricht aus Gesprächen mit Staatsanwälten, mit Richtern, mit jüdischen Personen, die betroffen sind – es sind muslimische Täter mit vornehmlich arabischem Migrationshintergrund, von denen diese Angriffe ausgehen. Sei es, dass das Sprechen auf Hebräisch vernommen wird oder das Tragen jüdischer Symbole wie ein Davidstern oder eine Kippa. Die Luft für Juden in Deutschland – generell, in Europa, aber auch in Deutschland – ist deutlich dünner geworden.

Wünschen Sie sich als deutscher Jude von Ihren christlichen Mitbürgern, dass sie da ein bisschen mehr Courage und Mut zeigen?

Also erst mal gibt es auch einen hohen Zuspruch der christlichen Bevölkerung in diesem Land. Das muss man einfach sehen. Es stimmt nicht, dass es keinen Zuspruch gibt. Er ist da. Aber er äußert sich leider nicht konkret und sichtbar genug. Die Leute haben auch offenbar Angst, auf die Straße zu gehen, wenn man einem muslimischen Mob gegenübersteht, wo panisch geschrien wird, wo antisemitische Parolen gegrölt werden, wo Menschen, die eine andere Auffassung vertreten, nur mit Polizeischutz überhaupt ihre Meinung äußern können. Und das ist etwas, was natürlich viele daran hindert, ihre Unterstützung der jüdischen Bevölkerung oder auch des Staates Israel, die es durchaus gibt, auch nach außen hin zu artikulieren. In diesem Dilemma befinden wir uns gerade.

Viel mehr Deutsche haben heute muslimische Nachbarn als jüdische.

Selbstverständlich. Das war aber auch vor 2015 so. Auch vor 2015 gab es bereits eine signifikante muslimische Bevölkerung in Deutschland, und das hat natürlich seit 2015 ganz andere Dimensionen angenommen. Mittlerweile zählt Deutschland zu einem der europäischen Staaten mit der höchsten prozentualen muslimischen Bevölkerung nach Frankreich und Großbritannien, meine ich.

Und dass sich das natürlich auch auf der Straße auswirkt, das ist ja klar. Wir haben massive Defizite bei der Integration der muslimischen Zuwanderer. Sie kommen aus einem anderen Kulturkreis, sie haben vielfach ein anderes Verhältnis zu Demokratie, zu den Rechten von Minderheiten, von Juden, von Frauen, von Schwulen. Und hier kommen wir einfach aufgrund der Masse der Migranten mit der Integration nicht nach. Weil wir hier offenbar auch nicht in der Lage sind, aber auch, weil erkennbar die Bereitschaft zur Integration bei vielen muslimischen Migranten nicht in dem Umfang da ist, wie wir es uns eigentlich wünschen würden.

Das betrifft aber weniger unsere türkischen und türkischstämmigen Mitbürger, die vor 2015 gekommen sind. Und das sind vielfach auch Muslime.

Es ist schwer, da eine eigene Skala aufzustellen. Mein Eindruck ist, dass der Antisemitismus sich seit der massiven Zuwanderung seit 2015 sehr viel deutlicher nach außen artikuliert. Dass immer mehr Tabus fallen, wenn es darum geht, nicht nur den Staat Israel zu kritisieren, sondern Juden in Deutschland als vermeintliche Vertreter des Staates Israel offen anzugreifen, ihnen den Tod zu wünschen, sie ins Gas zu wünschen, Hamas zu verherrlichen. Das hatten wir alles vor 2015 in diesem Umfang nicht.

Wie Antisemitismus fördernd sind denn 50.000 Tote?

Es gibt ja leider viele kriegerische Konflikte, wo gerade nach einer Dauer von fast zwei Jahren zum Teil sogar deutlich mehr Todesopfer zu beklagen sind als 50.000. Wobei diese Zahl vom sogenannten Gesundheitsministerium der Hamas kommt, also auch nicht belastbar ist. Aber selbst wenn es so wäre, wir wissen nicht, wie viele Hamaskämpfer darunter sind. Und dafür, dass es zwei Jahre sind, ist es jetzt keine so erschreckende Zahl, obwohl es für jeden unschuldigen Zivilisten auf beiden Seiten ein Drama und zu bedauern ist. Das sage ich ganz offen und ganz klar.

Aber es gibt keinen anderen bewaffneten Konflikt auf unserem Erdball, wo eine der beiden Parteien derart durch den Dreck gezogen, beschimpft, beleidigt, der Tod gewünscht wird, wie wenn es um Israel geht. Und deswegen bezweifle ich Ihre Analyse, dass die Anzahl der Toten den Antisemitismus fördert. Die Anzahl der Toten hat sich Israel nicht gewünscht, und sie wäre deutlich höher gewesen, wenn die Hamas Ägypten angegriffen hätte. Da wären wahrscheinlich innerhalb von wenigen Tagen Hunderttausende von Zivilisten in Gaza ums Leben gekommen. Und der Gazastreifen wäre heute ein betonierter Parkplatz.

Danke für das Gespräch!

Nathan Gelbart ist als Rechtsanwalt in Berlin und Tel-Aviv tätig. Er studierte Rechtswissenschaften an den Universitäten Frankfurt am Main und Mainz. Seine Schwerpunkte liegen im Immobilien- und Presserecht. Als Autor schreibt er regelmäßig über Antisemitismus sowie über den Nahostkonflikt aus der Sicht des Völkerrechts.

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Author:
Alexander Wallasch

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