Ein Gastbeitrag von Thomas Rießinger
Vielleicht irre ich mich, aber allem Anschein nach hat es kaum jemand bemerkt.
Friedrich Merz, der sich so gerne in außenpolitischen Gefilden bewegt, damit er nicht zur Kenntnis nehmen muss, dass sein eigenes Land von ihm und seinem Koalitionspartner zugrunde gewirtschaftet wird, durfte bekanntlich wie manch anderer auch nach Washington fliegen und sich dort wichtig fühlen. Das gönne ich ihm, auf die Kosten seiner Reise kommt es in Anbetracht der desaströsen Lage sowohl der Staatsfinanzen als auch der deutschen Wirtschaft nicht mehr an.
Wie zu erwarten, hat er sich später an sein geneigtes Publikum gewandt, um ihm seine Einschätzung der Situation und vor allem des Zusammentreffens mit Donald Trump mitzuteilen. Der Kanzler sprach, und alle, alle kamen. Und selbstverständlich kamen sie nicht nur, sondern bemühten sich, alles Berichtenswerte mitzuteilen. Im Stern können wir beispielsweise lesen: „Der Ukraine dürften „keine Gebietsabtretungen aufgezwungen werden“, sagte Merz am Montag (Ortszeit) nach Abschluss der Beratungen mit US-Präsident Donald Trump. Wenn Russland den Donbass von der Ukraine fordere, sei das mit einem Verzicht der USA auf Florida vergleichbar, sagte Merz.“ Ähnliches berichtet der Deutschlandfunk: „Bundeskanzler Merz hat bekräftigt, dass der Ukraine keine Gebietsabtretungen aufgezwungen werden dürften.“ Und: „Die gegenwärtigen Forderungen Russlands wären vergleichbar damit, dass die USA eine Fläche in der Größe des Staates Florida abgeben müssten.“
Man muss sich aber nicht auf die Berichte zweifelhafter Medien verlassen, sondern kann sich auch dem Originalton des Kanzlers Merz aussetzen, sofern man ihn erträgt. Nur ungern beziehe ich mich auf t-online, kann es aber nicht ändern, dass dort ein Video zu betrachten ist, in dem Merz seine Einschätzung vorträgt. Etwa ab der vierzigsten Sekunde des Videos sind seine Worte zu hören über „den dritten Aspekt, den ich ansprechen möchte: Der Ukraine, und darüber ist auch heute nicht gesprochen worden, dürfen keine Gebietsabtretungen aufgezwungen werden. Die russische Forderung, Kiew möge die freien Teile des Donbass aufgeben, entspricht nur, um es einmal von den Dimensionen deutlich zu machen, in der Dimension dem Vorschlag, als wenn die USA auf Florida verzichten müssten. Ein souveräner Staat kann so was nicht so einfach einmal entscheiden. Das ist eine Entscheidung, die muss die Ukraine im Laufe der Verhandlungen selbst treffen.“
Ich will mich hier nicht über den Satz auslassen, der Ukraine dürften keine Gebietsabtretungen aufgezwungen werden, denn sollte es zu solchen Abtretungen kommen, dann sind sie selbstverständlich aufgezwungen, freiwillig wird kaum ein Staat seine Territorien abgeben. Ebenso erscheint der letzte Teil eher eigenartig, denn was soll es bedeuten, dass ein souveräner Staat „nicht so einfach einmal“ über Abtretungen entscheidet? Während der Kaffeepause oder beim entspannten Plausch über das Wetter?
Doch viel interessanter ist Merzens Ausführung über die Dimensionen eventueller Gebietsabtretungen. Er spricht explizit nicht von der Forderung, Kiew möge den Donbass aufgeben, sondern davon, dass Kiew nach russischen Vorstellungen „die freien Teile des Donbass aufgeben“ müsse. Das ist etwas gänzlich Anderes, wie man sieht, wenn man einen Blick auf eine Übersicht von Reuters über die territorialen Verhältnisse im Donbass wirft. „Russia controls,“ so heißt es dort, „about 46,570 square km, or 88%, of the Donbas region of eastern Ukraine, including all of the Luhansk region and 75% of the Donetsk region. About 6,600 square km is still controlled by Ukraine but Russia has been focusing most of its energy along the front in Donetsk, pushing towards the last remaining major cities.“ Zur Sicherheit auch noch auf Deutsch: „Russland kontrolliert etwa 46.570 Quadratkilometer oder 88 % der Donbass-Region im Osten der Ukraine, darunter die gesamte Region Luhansk und 75 % der Region Donezk. Etwa 6.600 Quadratkilometer werden weiterhin von der Ukraine kontrolliert, aber Russland konzentriert den Großteil seiner Kräfte auf die Front in Donezk und drängt auf die letzten verbliebenen Großstädte vor.“
Geht es Merz tatsächlich nur noch um die verbliebenen 6.600 Quadratkilometer? Ja. Dazu passt nämlich seine Beispielrechnung, nach der die verlangte Gebietsaufgabe einem Verzicht der USA auf Florida gleichkäme. Die USA weisen eine Fläche von 9.525.067 Quadratkilometern auf. 170.304 Quadratkilometer davon bilden Florida, das sind knapp 1,8 Prozent. Die Ukraine dagegen hat 603.628 Quadratkilometer, während der Donbass in seiner Gesamtheit auf 53.200 Quadratkilometer kommt. Das entspricht fast 9 Prozent der ukrainischen Gesamtfläche – sehr weit entfernt von den 1,8 Prozent Floridas, die doch einen Vergleich der Dimensionen ermöglichen sollten. Aber die verbliebenen 6.600 Quadratkilometer stellen gerade einmal 1,1 Prozent der ukrainischen Gesamtfläche dar – nicht wirklich genau 1,8 Prozent wie im Falle Floridas, aber doch für einen Dimensionsvergleich wesentlich geeigneter als die vorher berechneten 9 Prozent.
Allem Anschein nach spricht also Merz in Bezug auf die russischen Forderungen nach Gebietsabtretungen im Donbass nur noch von den 6.600 Quadratkilometern, die noch nicht unter russischer Kontrolle sind. Die restlichen 46.570 Quadratkilometer spielen keine Rolle mehr, die sind schon weg. Vielleicht weiß er auch nichts davon.
Inhaltlich kann das jeder bewerten, wie er will. Doch sollte ich mich nicht irren, dann hat man in der deutschen Presse diesen kleinen Umstand nicht bemerkt. Aber dort bemerkt man ja auch nicht, dass Rechtsstaat und Demokratie verschwinden.
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Thomas Rießinger ist promovierter Mathematiker und war Professor für Mathematik und Informatik an der Fachhochschule Frankfurt am Main. Neben einigen Fachbüchern über Mathematik hat er auch Aufsätze zur Philosophie und Geschichte sowie ein Buch zur Unterhaltungsmathematik publiziert.
Bild: Screenshot Youtube
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