Ein Gastbeitrag von Thomas Rießinger
Ich will nur auf ein kleines Problem hinweisen.
Noch ist Frauke Brosius-Gersdorf nicht zur Richterin am Bundesverfassungsgericht gewählt, wobei man nicht sicher sein kann, ob es dabei bleibt. Offiziell scheiterte ihre Wahl am 11. Juli an den neu aufgetauchten Plagiatsvorwürfen: Abgeschrieben soll sie in ihrer Dissertation haben, sogar aus der Habilitationsschrift ihres trauten Gatten – was die Sache noch vereinfacht –wobei nicht völlig klar ist, wer nun von wem abgeschrieben hat. Inhaltlich wäre das kein Beinbruch, da man von juristischen Doktorarbeiten ohnehin nicht viel erwarten kann, aber es lieferte der CDU einen willkommenen Grund, die Kandidatin abzulehnen.
Denn in Wahrheit ging es schon Tage vorher um etwas völlig Anderes. Brosius-Gersdorfs bekannt gewordene Positionen zu verschiedenen Themen erschienen erstens nicht kompatibel mit Grundsätzen der CDU – sofern es da noch jemanden geben sollte, der diese Grundsätze ernst nimmt – und ließen zweitens hin und wieder den Verdacht auf ein eher seltsames Verfassungsverständnis aufkommen. Dass man sich in Kreisen von Grünen und Linken jeder Art an so etwas nicht stört, nimmt nicht wunder, die interessieren sich schon lange nicht mehr für so etwas Überholtes wie das Grundgesetz. Aber zu viele in der CDU-Fraktion haben offenbar ein mittleres bis schweres Unbehagen verspürt bei dem Gedanken, eine Richterin zu wählen, deren Haltung zur Verfassung man, freundlich formuliert, als streckenweise seltsam verstehen könnte.
Einen Punkt will ich nun aufnehmen. Brosius-Gersdorf hatte in einem Aufsatz geschrieben: „Die Annahme, dass Menschenwürde überall gelte, wo menschliches Leben existiert, ist ein biologistisch-naturalistischer Fehlschluss.“ Und: „Es gibt gute Gründe dafür, dass die Menschenwürde-Garantie erst ab Geburt gilt.“ Man fragt sich, wo denn wohl die Menschenwürde sonst gelten soll, außer da, wo menschliches Leben existiert, und wer über die Ausnahmen entscheiden soll. Schon die Frage zu stellen heißt, vom Grauen gepackt zu werden, aber mit solchen Kleinigkeiten halten sich Linke nicht lange auf. Ins gleiche Horn bläst sie mit ihrer zweiten Äußerung, nach der die Menschenwürde-Garantie erst ab der Geburt gilt. Vorher also nicht. Auch kurz vorher nicht. Die Aussage ist eindeutig, oder doch zumindest fast, denn man kann noch, sofern man Jurist mit höchstrichterlichen Ambitionen ist, darüber diskutieren, ob schon der Beginn des Geburtsvorgangs die Menschenwürde in Kraft setzt oder sie erst bei abgeschlossener Geburt gelten soll.
Wenden wir uns nun den Konsequenzen dieser Haltung zu. Zu diesem Zweck gehe ich von vier schwangeren Frauen aus, die ich mit den Namen Schwangere A bis Schwangere D bezeichne. Sie alle sind am gleichen Tag schwanger geworden, bei mehr als 600.000 Geburten im Jahr, aber nur 365 Tagen, ist das keineswegs unwahrscheinlich. Als errechneten Geburtstermin nehme ich den 1. August an, das sind noch weniger als drei Wochen.
Nun verlaufen aber die Schwangerschaften bei den vier Frauen verschieden. Schwangere A beispielsweise hat in der 36. Woche eine Frühgeburt erlitten, die aber glücklicherweise gut verlaufen ist. Die Gründe dafür sind wie meistens etwas unklar, häufig liegen irgendwelche Infektionen der Mutter oder andere gesundheitliche Probleme vor, es soll auch psychosoziale Auslöser geben, und ganz besonders eifrige Adepten machen neuerdings auch den Klimawandel verantwortlich. Worauf es ankommt, ist: Von den vier zur gleichen Zeit erzeugten Kindern hat nach dem Brosius-Gersdorf-Prinzip nur Kind A bereits die Menschenwürde erlangt, die Geburt hat schon stattgefunden. Die anderen drei gelten noch nicht; mit denen kann man machen, was man will. Und das auf der Basis eines biologischen Zufalls, der bei der Schwangeren A zu einer Frühgeburt führte.
Wie sieht es mit der Schwangeren B aus? Bei ihr erscheint aus medizinischen Gründen der übliche Geburtsweg als zu gefährlich, weshalb sie sich für einen Kaiserschnitt entschieden hat. Man wird ihn eine Woche vor dem errechneten Geburtstermin durchführen, also am 25. Juli. Und genau ab diesem Tag wird, erfolgreiche Durchführung vorausgesetzt, Kind B die Menschenwürde erlangen. Nicht am 24. Juli und auch nicht am 1. August, sondern genau am 25. Juli. Ich darf erinnern: Kind A, von dem man annehmen sollte, dass es weder mehr noch weniger Rechte hat als irgendein anderes, verfügt dann schon seit ein paar Wochen über die Menschenwürde, und das auf der Basis eines biologischen Zufalls.
Ich kann mich jetzt kürzer fassen. Kind C wird auf die übliche Weise zum errechneten Termin geboren, dürfte sich also, wenn es das schon könnte, ab dem 1. August über die erlangte Menschenwürde freuen. Und Kind C verspätet sich um zwei Wochen, woraus folgt, dass es vor dem 15. August keinen Anspruch auf Menschenwürde erheben kann, bis dahin kann man mit ihm noch machen, was man will.
Vertritt man also das Brosius-Gersdorf-Prinzip, nach dem die Menschenwürde erst nach der Geburt gilt, so zeigen die Beispiele, dass dann die Zuteilung dieser Menschenwürde eine Frage des Zufalls ist. Es kann ein rein biologischer Zufall sein, vielleicht auch ein technischer, ein schicksalhafter, der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt. Und ist das einmal zugestanden, dann ist alles zugestanden. Denn Zufälle verschiedener Art gibt es immer, und man kann selbstverständlich auch die Menschenwürde mit ihnen verknüpfen, wenn man das schon bei den zufälligen Umständen einer Geburt kann. Jemand ist zufällig aufgrund eines Unfalls verkrüppelt und kann nicht mehr für sich selbst sorgen? Nun ja, ein unglücklicher Zufall, aber schließlich kann man festlegen, dass die „Menschenwürde-Garantie“ nur bei Nicht-Behinderten gilt. Und wenn man schon den Anfangstermin für die Menschenwürde auf Zufallsbasis festlegen kann – warum dann nicht auch ihren Endtermin, je nach Ergebnis einer Gesundheitsprüfung im höheren Alter? Jede Form der Willkür ist denkbar, wenn man findig genug ist. Man muss nur einmal mit der Willkür anfangen, dann geht alles wie von selbst.
Häufig wird derzeit gefordert, man müsse die Verteidigungsanstrengungen erhöhen, weil Putin uns alle gefährdet. Das mag wahr sein oder nicht. Aber wir brauchen keinen Putin, um das Land zugrunde zu richten.
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Thomas Rießinger ist promovierter Mathematiker und war Professor für Mathematik und Informatik an der Fachhochschule Frankfurt am Main. Neben einigen Fachbüchern über Mathematik hat er auch Aufsätze zur Philosophie und Geschichte sowie ein Buch zur Unterhaltungsmathematik publiziert.
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