Ein Gastbeitrag von Thomas Rießinger
Es ist nur eine Fußnote in der Geschichte der Widerlichkeiten.
Vicky Leandros steht im dreiundsiebzigsten Lebensjahr, absolviert aber dennoch unverdrossen gelegentliche Auftritte, was ich ihr nicht verüble. Nun hatte Gloria von Thurn und Taxis die Sängerin eingeladen, bei ihren Schlossfestspielen aufzutreten, und die Einladung wurde angenommen. Doch noch weitere Personen erhielten eine Einladung, wenn auch nicht als Teil des Programms, sondern als schlichter Zuschauer und Zuhörer. Eine davon war Alice Weidel, Vorsitzende sowohl der Partei AfD als auch ihrer Bundestagsfraktion.
Wie uns die Bild-Zeitung und die Münchner Abendzeitung berichten, erfuhr Leandros „erst in der Nacht zuvor, dass auch die AfD-Bundessprecherin eingeladen war.“ Nun sollte man denken, dass ihr das herzlich egal sein konnte, denn es handelte sich um eine Besucherin unter vielen und sie selbst hatte mit der Einladung an Weidel ohnehin nichts zu tun. Aber weit gefehlt, so denkt es in Deutschland nicht, schon gar nicht unter Künstlern. „Alice Weidel ist bei meinem Konzert nicht willkommen“, erklärte sie der gastgebenden Fürstin telefonisch, ohne zu begreifen, in welche unheilvolle Tradition sie sich damit stellte. Die Fürstin kuschte, die Einladung an Weidel zog sie zurück. Und Leandros erklärte der Bild-Zeitung: „Ich stehe für Vielfalt, Toleranz, Menschenwürde, Menschenrechte und Internationalität. Ich bin mit fünf Jahren aus Athen nach Deutschland gekommen und wurde mit offenen Armen aufgenommen. So lebe ich auch. Ich habe Respekt vor jedem Menschen und lasse ihn so leben, wie es ihn glücklich macht.“
Man weiß gar nicht, wo man anfangen soll. Ganz ohne Frage steht sie nicht für Vielfalt, Toleranz und Menschenwürde. Denn Vielfalt herrscht nicht nur dann, wenn man Wert auf die Gesellschaft von Menschen verschiedener Nationalität legt, sondern sie kommt erst recht zur Geltung, wenn man auch vielfältige politische Auffassungen erträgt. Toleranz bezieht sich nicht nur auf das, was man gerade zu tolerieren wünscht – dann ist es auch gar keine Toleranz – sondern auch und ganz besonders auf all das, was man nicht mag, aber eben toleriert. Das hat sie nicht geschafft, deshalb ist sie weit entfernt von der Idee der Toleranz. Und in aller Öffentlichkeit zu erklären, dass man diesen oder jene nicht bei einem Auftritt dabei haben möchte, zeugt nicht von übergroßem Respekt gegenüber der Menschenwürde anderer. Ich will ihr gerne glauben, dass sie einst von Athen nach Deutschland kam und mit offenen Armen aufgenommen wurde. So schwer war das auch nicht, da ihr Vater, wenn man Wikipedia Glauben schenken darf, ein sowohl in Deutschland als auch in Griechenland erfolgreicher Sänger und Produzent war, es sich also in seinem und damit auch ihrem Fall keineswegs um die Art von Migration handelte, die heute von der AfD – und nicht nur von ihr – abgelehnt wird.
Doch nichts könnte falscher sein als Leandros’ Satz „So lebe ich auch.“ Nein, das tut sie nicht. Das Prinzip der offenen Arme gilt auch für sie nur solange, wie ihr das jeweilige Gegenüber behagt, alle anderen werden ausgeladen und ausgeschlossen. Offene Arme, wie man sie üblicherweise versteht, sehen anders aus. Und ganz sicher hat sie nicht „Respekt vor jedem Menschen“ und lässt „ihn so leben, wie es ihn glücklich macht.“ Respekt vor jedem Menschen schließt bedauerlicherweise auch den Respekt vor Alice Weidel ein, aber es ist kein Zeichen von Respekt, jemanden aus dem Publikum ausladen zu lassen – oder konnte sie das Übermaß an Respekt nicht ertragen? Zudem kann sie wohl kaum wissen, ob es Weidel nicht „glücklich“ gemacht hätte, Leandros’ Gesang zu lauschen. Man lässt jeden so leben, wie es ihn glücklich macht? Nein, nicht jeden, da darf man schon etwas wählerisch sein, wenn man Sängerin ist.
Es wurde noch schlimmer. Sie wolle nicht, schreibt die Bild-Zeitung, dass ihr Konzert politisiert werde. Deshalb hat sie ja auch mit der Zeitung gesprochen und offensichtlich politische Gründe für die Forderung nach einer Ausladung geltend gemacht. Die Anwesenheit von Weidel hätte ihr Konzert genauso wenig politisiert, wie beispielsweise die von Robert Habeck oder Friedrich Merz. Erst durch ihre – freundlich formuliert – nicht völlig durchdachten Äußerungen hat sie selbst für die Politisierung gesorgt. Hinzufügen musste sie noch: „Alice Weidel ist eine demokratisch gewählte Politikerin, dennoch habe ich mit ihr nichts gemeinsam.“ Diese Meinung steht ihr zu. Es dürfte aber noch ein paar andere Menschen im Publikum geben, mit denen sie politisch nichts gemeinsam hat. Die hätte sie alle ausladen müssen, selbstverständlich nach erfolgter und nicht bestandener Gesinnungsprüfung. Gedankliche Konsequenz scheint nicht ihre Stärke zu sein.
Und die Gastgeberin, die fürstliche Gloria? Es gibt eine lange Liste von Äußerungen der Fürstin, die Vicky Leandros eigentlich dazu hätten veranlassen sollen, sich selbst auszuladen, allerdings hätte sie dann auf ihr Honorar verzichten müssen. Im Jahr 2023 riefen sogar „100 Vertreter der Regensburger Kulturszene … in einem offenen Brief zum Boykott der Regensburger Schlossfestspiele auf, deren Schirmherrin von Thurn und Taxis ist“, insbesondere wegen ihrer rechtskonservativen Radikalisierung. „Sie wehrte sich mit dem Verweis auf freie Meinungsäußerung.“ Damals wusste sie noch, was das ist, inzwischen hat sie es wohl vergessen oder ist der Meinung, dass Meinungsfreiheit nur Fürstinnen zusteht. Aber geäußert hat sie sich, genau genommen hat sie die Einladung an Alice Weidel „verteidigt“ mit den Worten: „Sie müssen auch den ein oder anderen Exoten mit einladen, weil das macht die Sache interessanter.“ Die Vorsitzende der größten Oppositionspartei ist ein Exot, den man einladen muss, damit es nicht so langweilig wird. Wäre es ihr um exotisches Verhalten gegangen, dann hätte sie vielleicht besser Heidi Reichinnek von der Linken eingeladen, allerdings wäre dann nicht ganz klar gewesen, ob die Sängerin zu Wort kommt.
Es war Arthur Schopenhauer, der einst schrieb: „Der alleinige Zweck des Staates ist, die Einzelnen vor einander und das Ganze vor äußeren Feinden zu schützen. Einige deutsche Philosophaster dieses feilen Zeitalters möchten ihn verdrehen zu einer Moralitäts-, Erziehungs- und Erbauungs-Anstalt: wobei im Hintergrunde der Jesuitische Zweck lauert, die persönliche Freiheit und individuelle Entwicklung des Einzelnen aufzuheben, um ihn zum bloßen Rade einer Chinesischen Staats- und Religions-Maschine zu machen.“
Eine Moralitäts-, Erziehungs- und Erbauungsanstalt: So hätte man den Staat gern in Kreisen der Politik und des öffentlich-rechtlichen Rundfunks.
Und die Fürstin spielt mit.
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Thomas Rießinger ist promovierter Mathematiker und war Professor für Mathematik und Informatik an der Fachhochschule Frankfurt am Main. Neben einigen Fachbüchern über Mathematik hat er auch Aufsätze zur Philosophie und Geschichte sowie ein Buch zur Unterhaltungsmathematik publiziert.
Bild: Screenshot ARD, Youtube, Ekaterina Quehl
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