Ein Gastbeitrag von Thomas Rießinger
Manche Dinge wundern mich, andere nicht.
Dass Emmanuel Macron, der so gerne und so vergeblich mit der Ausstrahlung und der Macht Napoleons oder Ludwigs XIV. konkurriert, einen Palästinenserstaat anerkennen will, kann mich nicht überraschen – irgendwo muss er sich ja noch beliebt machen, und sei es bei den französischen Muslimen. Hingegen ist der kanadische Ministerpräsident Mark Carney bisher noch selten aufgefallen; im März 2025 hat er den unsäglichen Justin Trudeau abgelöst, sowohl im Amt des Premiers als auch im Vorsitz der Partei, die sich noch immer als liberal bezeichnet, obwohl sie spätestens seit Trudeaus Amtszeit von Freiheit so weit weg ist wie ein grüner Parteitag von Vernunft.
Vor einigen Tagen hat sich Carney, vielleicht ermutigt durch Macrons Ankündigung, zur Frage eines Palästinenserstaates zu Wort gemeldet. „Kanada beabsichtigt, den Staat Palästina in der 80. Sitzung der UN-Vollversammlung im September 2025 anzuerkennen“, teilte er dem Publikum mit. Kanada vertrete schon seit Jahren den Vorschlag einer Zweistaatenlösung im Nahen Osten, was bedeutet, dass Israel und ein unabhängiger Palästinenserstaat einigermaßen friedlich sich ihres nachbarlichen Daseins erfreuen. Tatsache sei aber, dass „die Aussicht auf einen palästinensischen Staat buchstäblich vor unseren Augen schwindet.“ Einer der Gründe für diesen Richtungswechsel sei die Hungerkatastrophe unter der Zivilbevölkerung in Gaza, die Israel zugelassen habe, und zusätzlich berichtet die Tagesschau, Carney knüpfe den Schritt „an Reformen der Palästinenser-Regierung sowie Wahlen 2026 unter Ausschluss der Terrororganisation Hamas“.
Bin ich der Einzige, der sich wundert? Vielleicht hat Carney die gleichen Quellen wie Friedrich Merz, das würde einiges erklären. Vielleicht hört er wie manch anderer nur auf die Hamas-Propaganda. Man sollte jedoch nicht ganz vergessen, dass die Terrororganisation Hamas sich gerne Hilfslieferungen unter den Nagel reißt, um sie dann teuer zu verkaufen. Man sollte auch nicht vergessen, „dass in diesen Tagen Hunderte Tonnen an Hilfslieferungen an der Grenze zu Gaza in der Sonne verrotteten, weil die Vereinten Nationen und andere Organisationen sie schlicht und einfach nicht abholten, zugleich aber die israelische Regierung lauthals anklagten, die Einwohner von Gaza auszuhungern“. Aber ein gewisses Maß an Vergesslichkeit will ich dem Premier gerne zugestehen, man kann ja nicht an alles denken.
Doch zwei Dinge stechen sehr ins Auge. Er fordert allen Ernstes „Reformen der Palästinenser-Regierung sowie Wahlen 2026 unter Ausschluss der Terrororganisation Hamas“. Das wäre eine schöne Idee, sie ist nur leider reine Traumtänzerei. Die Terrororganisation Hamas kann man nur ausschließen, indem man sie zerschlägt; von alleine pflegen Terroristen sich nur selten ausschließen zu lassen, zumal sie das klare und fanatisch verfolgte Ziel haben, Israel zu vernichten. Und noch schöner ist, dass Carney zwar die Unmöglichkeit einer Zweistaatenlösung sieht, das aber als Grund betrachtet, einen palästinensischen Staat anzuerkennen. Wenn wir annehmen, dass es nicht nur einen solchen Staat gibt, sondern auch der Staat Israel weiterhin existiert, dann propagiert Carney nichts anderes als eine Zweistaatenlösung, die doch eigentlich „buchstäblich vor unseren Augen schwindet“. Diese Argumentation erschließt sich vielleicht nicht jedem.
Das logische Problem lässt sich lösen. Zu einem Staat gehören üblicherweise ein Staatsvolk, eine Staatsgewalt und ein Staatsgebiet. Was das Staatsvolk angeht, könnte sich eine kleine Schwierigkeit ergeben, denn ein Volk der Palästinenser gibt es nicht. Das hat Jasir Arafat 1968 erfunden, um „auf diese Weise das Selbstbestimmungsrecht der Völker beanspruchen können. Ethnisch und kulturell unterscheidet sie nichts von Ägyptern, Jordaniern, Syrern, Irakern oder Libanesen, von denen nicht wenige um 1900 und in der Zwischenkriegszeit wegen der durch die Zionisten neu geschaffenen Arbeitsmöglichkeiten überhaupt erst in die ehemalige osmanische Provinz Palästina bzw. ins gleichnamige britische Mandatsgebiet eingewandert waren“. Nach einer Staatsgewalt dagegen muss man nicht lange suchen, man findet sogar zwei. Da haben wir zunächst den vor allem im Westjordanland tätigen Mahmud Abbas, seit November 2008 Präsident Palästinas – also des Staates, den jetzt auch Kanada anerkennen will – und somit inzwischen im siebzehnten Jahr seiner vierjährigen Amtszeit; für Wahlen fand sich einfach nie die nötige Zeit. Und im Gaza-Streifen regiert seit 2006 die Terrororganisation Hamas, die seither auch keine rechte Freude mehr an Wahlen gewinnen konnte. Aber immerhin: Besser zwei Staatsgewalten als gar keine und in Anbetracht der bekannten Neigung aller Beteiligten zur friedlich-freundlichen Konfliktlösung mögen manche an die Möglichkeit einer Regierung glauben – Carney beispielsweise, denn der erwartet ja auch „Reformen der Palästinenser-Regierung sowie Wahlen 2026 unter Ausschluss der Terrororganisation Hamas“.
Und das Staatsgebiet? Da ergeben sich zwei Möglichkeiten. Eine davon hat Razi Hamed, ein hochrangiger Hamas-Vertreter, klar und deutlich ausgesprochen: „The initiative by several countries to recognize a Palestinian state is one of the fruits of October 7. We proved that victory over Israel is not impossible, and our weapons are a symbol of Palestinian dignity.“ Zu Deutsch: „Die Initiative mehrerer Länder, einen palästinensischen Staat anzuerkennen, ist das Ergebnis des 7. Oktober. Wir haben bewiesen, dass der Sieg über Israel nicht unmöglich ist und dass unsere Waffen ein Symbol der palästinensischen Ehre sind.“ Die Waffen als Symbol der Ehre, das kennt man schon aus der Geschichte und es klingt nicht danach, als wollte man sich bei der Hamas von was auch immer ausschließen lassen. Der Sieg über Israel: Das ist die völlige Auslöschung des Staates Israel. Man muss zugeben, dass das Problem des Staatsgebietes in der Sichtweise der Terroristen damit gelöst wäre, doch nicht einmal Macron und Carney will ich diese Sichtweise unterstellen.
Die ortsnahe Identifizierung eines Staatsgebietes ist somit nicht möglich, da man in Hamas-Kreisen sich nicht mit kleinen Stücken zufrieden gibt, sondern gleich den ganzen Kuchen will. Aber die Welt ist groß. Schließlich haben Frankreichs Präsident und Kanadas Premierminister beschlossen, einen Palästinenserstaat zu fördern, da könnten sie den hohlen Worten ausnahmsweise einmal Taten folgen lassen. Warum nicht einen entsprechenden Staat auf französischem Territorium gründen? Anbieten würde sich der Raum um Marseille, denn für Marseille selbst geht man von einem muslimischen Bevölkerungsanteil von 30 bis 40 Prozent aus, was den kulturellen Anschluss deutlich vereinfacht. Allerdings ist es dort schon einigermaßen voll, die gesamte Region Marseille hat eine Bevölkerungsdichte von 478 Menschen pro Quadratkilometer, und man kann sich leicht vorstellen, dass der Zuzug der einen oder anderen Million zu Unbehagen führen könnte.
Vielleicht hat sich deshalb Premierminister Carney in die Bresche geschlagen, denn Kanada ist doch etwas leerer. Die durchschnittliche Bevölkerungsdichte liegt bei knapp mehr als vier Menschen pro Quadratkilometer, aber davon darf man sich nicht täuschen lassen, weil wie üblich die Bevölkerung nicht gleichmäßig verteilt ist. Während sich beispielsweise in der Provinz Ontario etwa 15 Menschen auf einem Quadratkilometer drängeln, braucht man im Terrotorium Yukon schon 10 bis 12 Quadratkilometer, um überhaupt auf einen Menschen zu stoßen. Da ist Platz. Und etwa zwei Drittel der ungefähr 43.000 Bewohner leben ohnehin in der südlich gelegenen Hauptstadt Whitehorse. Sollte es dann nicht möglich sein, in Yukon Raum zu schaffen für einen Palästinenserstaat, ohne anderen etwas wegzunehmen? Endlich hätten sie ihre ewigen Gegner hinter sich gelassen und könnten sich frei entfalten. Ihre unbestrittenen Talente und Erfahrungen im Tunnelbau, die bisher eher terroristisch genutzt werden, ließen sich vielleicht für den Bergbau einsetzen, denn noch immer werden in Yukon Gold, Silber und Industriemetalle gefördert. Auch die Mitarbeiter des UNRWA, des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten, sind selbstverständlich eingeladen, sich am Staatsaufbau zu beteiligen; nachdem sie sich so viele Jahre lang für ihre Schützlinge aufgeopfert haben, kann man sie nicht einfach ausschließen.
In einem Anfall von Selbsterkenntnis sagte einst Nikita Chruschtschow, der Generalsekretär der KPdSU: „Politiker sind überall gleich. Sie versprechen, eine Brücke zu bauen, auch wenn es keinen Fluss gibt.“
Daran hat sich nichts geändert.
Ballweg, Parfüm und eine Hundematte: Wie aus 19,53 Euro ein medialer Schuldspruch konstruiert wurde
„Nie wieder“ war gestern: Der Fall Leandros zeigt, wie moralische Säuberung wieder schick ist
Wurde der Ton beim Weidel-Interview manipuliert? ARD unter Verdacht – Tontechniker entlarvt?
Thomas Rießinger ist promovierter Mathematiker und war Professor für Mathematik und Informatik an der Fachhochschule Frankfurt am Main. Neben einigen Fachbüchern über Mathematik hat er auch Aufsätze zur Philosophie und Geschichte sowie ein Buch zur Unterhaltungsmathematik publiziert.
Bild: T. Schneider / Shutterstock.com
Bitte beachten Sie die aktualisierten Kommentar-Regeln – nachzulesen hier. Insbesondere bitte ich darum, sachlich und zum jeweiligen Thema zu schreiben, und die Kommentarfunktion nicht für Pöbeleien gegen die Kommentar-Regeln zu missbrauchen. Solche Kommentare müssen wir leider löschen – um die Kommentarfunktion für die 99,9 Prozent konstruktiven Kommentatoren offen zu halten.
Mehr von Thomas Rießinger auf reitschuster.de
Solidaritätsadresse für Brosius-Gersdorf: SPD verteidigt „Richterin“
Mit großer Geste prangert die SPD angebliche rechte Bedrohungen an – und entlarvt sich dabei selbst: als Partei, die demokratische Werte rhetorisch beschwört, aber realpolitisch mit Füßen tritt. Von Thomas Rießinger.
Angeblicher Eklat im Bayerischen Landtag: Mikro aus, Argumente egal
Die Landtagspräsidentin entzieht der AfD-Fraktionschefin das Wort – mit Verweis auf Gepflogenheiten, die sonst niemand so genau nimmt. Doch was genau war der Grund? Von Thomas Rießinger.
„3 Dinge“: CDU startet eine Optimismus-Kampagne
Statt Probleme zu lösen, übt sich die CDU in Selbstbeweihräucherung. Doch mit den Antworten wird unfreiwillig der tatsächliche Zustand Deutschlands vermessen. Von Thomas Rießinger.
Leandros lädt Weidel aus: Wie es wirklich war
Nach Leandros Aktion äußerst sich die Gastgeberin: Was als Versteckspiel von Weidel von Medien hyperventiliert dargestellt wird, entpuppt sich als mediales Theater – und Gesinnungseifer im Übermaß. Von Thomas Rießinger.
Leandros lässt Weidel ausladen – Ein Konzertbesuch wird zur Gesinnungsfrage
Eine Sängerin bestimmt, wer zuhören darf – und die Menge applaudiert. Der Vorfall erinnert an Zeiten, in denen politische Gesinnung über Zugehörigkeit entschied. Von Thomas Rießinger.
Als Vernunft noch kein Verdachtsmoment war
Was einst staatsmännischer Realismus war, gilt heute als rechts. Heute hat sich die demokratische Kultur in moralistische Zensur verwandelt. Was sagt das über unser Land? Ein Gedankenexperiment Von Thomas Rießinger.
Die Migrantenquote, die keiner erfüllen kann
Was passiert, wenn jede Schule nur 40 % Schüler mit Migrationshintergrund haben darf – aber der Gesamtanteil bei 45 % liegt? Eine Rechenübung zeigt: Das Problem ist unlösbar. Von Thomas Rießinger.
Menschenwürde per Zufall?
Gilt die Menschenwürde erst ab Geburt, wird ihr Schutz zu einer Frage von Timing, Technik oder Zufall. An vier Beispielen veranschaulicht Professor Rießinger, wie brüchig und willkürlich dieses Prinzip in der Praxis ist.
Sexueller Missbrauch in Freibädern: Realität wird zur Störung des Weltbilds
Sexuelle Übergriffe? Missbrauch? Gewalt? Nein, hier geht’s um Sensibilisierung, Sprachbilder und das Wetter. Neun Mädchen werden zu Kollateralschaden eines politischen Selbstbetrugs: Täter werden erklärt, nicht gestoppt. Von Thomas Rießinger.
Empörung im Propaganda-Sandkasten: Julia Ruhs warnt vor betreutem Denken
Wer Leser für Idioten hält und Journalismus als Erziehungsanstalt sieht, ist vom echten Handwerk so weit entfernt wie ein Faktenchecker von Fakten. Kein Wunder, dass ihm mündige Bürger Angst machen. Von Thomas Rießinger.
„Angemessenheitsprüfung“ – der Staat traut uns das eigene Geld nicht zu
Die EU verlangt von Anlegern nun einen Wissenstest, bevor sie ihr eigenes Geld anlegen dürfen. Der Staat traut seinen Bürgern nichts mehr zu – außer vielleicht, sich brav bevormunden zu lassen. Ein Kommentar von Thomas Rießinger.
Groß, größer, SPD – zumindest beim Fraktionssaal
Die SPD hat weniger Abgeordnete, aber mehr Platz – offiziell wegen „Ministerbesuchen“ und „historischer Bedeutung“. Demokratie? Nur, solange sie nicht der Konkurrenz nützt. Von Thomas Rießinger.
Frühstart-Rente: Ein Start in die Abhängigkeit?
Ein paar Euro pro Monat, jahrzehntelange Sperrfrist, ungewisse Zinsen – sollen Kinder wirklich für die Rente sparen, bevor sie rechnen können? Frühe Vorsorge oder politisches Placebo? Eine Analyse von Thomas Rießinger.