• 8. September 2025

Folie à Deux – Wenn der Wahnsinn kollektiv wird

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Sep. 8, 2025

Ein Gastbeitrag von Bodo Neumann

Das psychiatrische Phänomen der Folie à deux – auf Deutsch „Wahnsinn zu zweit“ – beschreibt eine seltene Form von induzierter Wahnstörung. Das Konzept des „Folie à deux“ wurde von den französischen Psychiatern Ernest-Charles Lasègue und Jules Farlet 1877 publiziert. Dabei übernimmt eine psychisch gesunde Person die wahnhaften Überzeugungen einer psychisch kranken Person, in der Regel im Rahmen einer engen sozialen Beziehung.

In heutigen Klassifikationssystemen wie dem DSM-5 wird der Begriff „Shared psychotic disorder“ nicht mehr als eigenständige Diagnose geführt, sondern unter wahnhafte Störungen oder andere spezifizierte Schizophrenie-Spektrum und andere psychotische Störungen subsumiert. Dennoch ist das Konzept in der forensischen Psychiatrie und bei der Beurteilung von Beziehungsdynamiken weiterhin wichtig.

Was wie eine Randerscheinung psychiatrischer Einzelfälle anmutet, kann als Metapher im Sinne einer Folie à plusieurs, also ein „Wahnsinn der Vielen“ genutzt werden, um aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen zu verstehen, insbesondere in politisch-ideologischen Milieus, die sich stark auf emotionale Bindung, Gruppenzugehörigkeit und moralische Absolutheit stützen.

Politisch- ideologische Milieus

In den letzten Jahren zeigen sich als Beispiel in Teilen des gesellschaftlich dominierenden linksideologischen Spektrums Tendenzen, die über berechtigte gesellschaftliche Kritik hinausgehen. Aus Idealen wird Ideologie, aus Differenzierung wird Polarisierung, aus Reflexion wird moralischer Rigorismus. Wo früher diskutiert wurde, wird heute diffamiert und stigmatisiert. Wer widerspricht, wird nicht inhaltlich korrigiert, sondern etikettiert, als rechts, regressiv oder strukturell unterdrückend.

In solchen sozialen Konstellationen entfaltet sich eine Dynamik, die dem psychiatrischen Modell der Folie à deux auf unheimliche Weise ähnelt: Eine dominante ideologische Denkfigur, etwa die Vorstellung, dass alle gesellschaftlichen Strukturen auf Machtverhältnissen beruhen, wird unhinterfragt von einem Umfeld übernommen, das sich emotional, intellektuell oder sozial an dieses Denken gebunden fühlt.

Was ursprünglich mit progressiven Idealen begann: soziale Gerechtigkeit, Gleichstellung, Antidiskriminierung, kann in bestimmten Kontexten in dogmatische, ideologisch aufgeladene Positionen kippen. Dabei zeigen sich Mechanismen, die stark an Folie à deux erinnern:

Induktion durch dominante Denkmuster

In vielen akademischen, kulturellen und medialen Milieus entstehen Weltbilder, die eine klar dualistische Sichtweise vertreten: Unterdrücker vs. Unterdrückte, gut vs. böse, wir gegen sie. Einzelne Theorien oder Narrative, etwa aus postkolonialer oder queerfeministischer Theorie, entwickeln sich zu unhinterfragbaren Glaubenssätzen, die nicht mehr der Überprüfung durch Fakten oder offenen Diskurs standhalten.

Übernahme durch soziale Nähe

Menschen, die sich in diesen Milieus bewegen, sei es durch politische Zugehörigkeit, Bildungseinrichtungen oder aktivistische Bewegungen, übernehmen diese Sichtweisen oft nicht aus Überzeugung, sondern aus sozialem Druck, Konformitätswunsch oder moralischer Erpressung. Die Zugehörigkeit zur „richtigen Seite“ wird wichtiger als die Differenzierung. Abweichende Meinungen gelten schnell als Verrat oder „problematisch“.

Isolation vom Diskurs

Kritik wird häufig nicht inhaltlich, sondern moralisch zurückgewiesen („Das darfst du nicht sagen“ statt „Warum denkst du das?“). Der öffentliche Diskurs verengt sich, während innerhalb der ideologischen Gruppe die Überzeugung wächst, im alleinigen Besitz der Wahrheit zu sein. Diese Dynamik ähnelt der Folie à deux: Die ursprüngliche Idee, etwa berechtigte Kritik an gesellschaftlichen Ungleichheiten wird zur fixen Idee, die andere Realitätsperspektiven ausschließt.

Die Folgen

  • Polarisierung: Gesellschaftlicher Dialog wird unmöglich, da Sprache und Begriffe unterschiedlich interpretiert werden.
  • Selbstverengung: Die Bewegung entfernt sich von der Lebensrealität großer Teile der Bevölkerung.
  • Reaktanz: Die Übertreibungen erzeugen Gegenreaktionen, die den politischen Diskurs insgesamt verhärten.

Mentizid- die Zerstörung des Geistes

Doch das Phänomen bleibt nicht bei der bloßen Übernahme von Ideen. Es entwickelt sich weiter in Richtung einer tiefergreifenden geistigen Transformation bis hin zu dem, was der niederländische Psychiater Joost Meerloo in seinem Buch „The Rape of the Mind: The Psychology of Thought Control, Menticide, and Brainwashing“ bereits Mitte des 20. Jahrhunderts als Mentizid bezeichnete: die „Zerstörung des Geistes“. Mentizid ist der Prozess, durch den Menschen systematisch verlernen, frei zu denken, nicht durch Gewalt, sondern durch schleichende Konditionierung, Wiederholung, Angst und Gruppendruck.

Mentizid ist kein plötzlicher Zustand. Er entsteht über die Zeit durch Überforderung, ständige Konfrontation mit Widersprüchen, die nicht rational aufgelöst, sondern moralisch neutralisiert werden. In linksideologischen Kontexten äußert sich das etwa in Form von:

  • Sprachregulation (z. B. „sensible Sprache“ als moralische Pflicht),
  • Denkverboten („Das darfst du nicht sagen“),
  • konstruierter Schuldzuweisung („weiße Vorherrschaft“, „toxische Männlichkeit“),
  • identitätspolitischer Aufladung (Wer bist du, dass du dazu überhaupt etwas sagen darfst?).

Statt zu argumentieren, wird bewertet und moralisiert. Statt Unterschiede auszuhalten, wird nivelliert oder ausgegrenzt. Diese Form des ideologischen Gruppendenkens ist nicht mehr Ausdruck kritischer Haltung, sondern Ausdruck kognitiver Abschottung. Der Mentizid manifestiert sich also als freiwilliger Verzicht auf kritisches Denken, im Namen der Zugehörigkeit zur „richtigen Seite“.

Das indoktrinierte Gehirn

Dazu kommt eine neurobiologisch messbare Folge, die Michael Nehls, Mediziner und Molekulargenetiker, in seinem Buch „Das indoktrinierte Gehirn“ beschreibt: Die dauerhafte ideologische und emotionale Überforderung, die aus dem ständigen Abgleich mit der „richtigen Haltung“ resultiert, beeinträchtigt langfristig den Hippocampus, jenen Teil des Gehirns, der unter anderem für Gedächtnisbildung, Orientierung und Informationsbewertung zuständig ist.

Studien zeigen, dass chronischer Stress, insbesondere durch soziale Anpassung und moralischen Druck, zu einem messbaren Rückgang der Hippocampus-Aktivität führen kann. Die Fähigkeit, neue Informationen zu bewerten, Widersprüche zu verarbeiten oder selbstständig zu urteilen, wird eingeschränkt. So entsteht ein Zustand, der an eine kognitive Lähmung erinnert: Man fühlt, was man denken soll, aber man denkt nicht mehr selbst.

Folie à plusieurs- ‘Wahnsinn der Vielen‘

In einem solchen Zustand lässt sich kaum noch zwischen Überzeugung und Suggestion unterscheiden. Ähnlich wie in der klassischen Folie à deux verschwimmt die Grenze zwischen dem ursprünglich kranken Gedanken (dem ideologischen Induktor) und dem Denken der umgebenden Personen oder Gruppen (den Induzierten). Die Übernahme erfolgt nicht durch Überzeugungskraft, sondern durch Nähe, Gruppendruck und emotionale Bindung.

Besonders brisant wird diese Dynamik in akademischen, kulturellen und aktivistischen Kreisen. Hier entstehen regelrechte Diskursblasen, in denen Kritik als Verrat gilt und moralische Reinheit höher bewertet wird als rationale Konsistenz. Die Überzeugung, auf der „richtigen Seite der Geschichte“ zu stehen, immunisiert gegen Selbstreflexion. Und genau das ist der Nährboden für kollektive Realitätsverzerrung, ein gesellschaftlicher Wahn im Sinne einer Folie à plusieurs, also ein „Wahnsinn der Vielen“.

Ein Beispiel dafür ist die Art, wie mit Begriffen umgegangen wird. Sprache wird nicht länger als Mittel der Kommunikation verstanden, sondern als Werkzeug der Macht. Begriffe wie „Rassismus“, „Diskriminierung“, „Privilegien“ oder „strukturelle Gewalt“ werden ausgedehnt, um eine alles umfassende Erklärungsmatrix zu schaffen. Kritik an dieser Matrix wird als Reproduktion eben jener Machtstrukturen interpretiert als ein zirkuläres Denken, das sich jeder Überprüfung entzieht. Dadurch entsteht eine geschlossene Ideologie, in der nur noch Bestätigung, aber kein Zweifel mehr möglich ist.

Wie kann dieser Zustand aufgelöst werden?

Der gefährlichste Aspekt dieser Entwicklung ist nicht die Ideologie selbst, sondern ihre Selbstverständlichkeit: Wer einmal vollständig in diese Denkweise integriert ist, erkennt sie nicht mehr als Modell, sondern hält sie für die Wirklichkeit selbst. Die Folie à deux wird so zur psychologischen Entsprechung einer ideologischen Totalität. Man glaubt, man sei kritisch, dabei hat man sich längst der Kritik entzogen. Man meint, man sei reflektiert, doch reflektiert nur im Rahmen des eigenen Weltbilds.

In der klinischen Psychiatrie besteht der erste Schritt zur Auflösung einer Folie à deux in der Trennung der beteiligten Personen. Nur durch Abstand kann die induzierte Person zur eigenen Wahrnehmung zurückfinden. Übertragen auf gesellschaftliche Kontexte bedeutet das: Räume der kognitiven Entkopplung schaffen. Bildung, Debatte, echte Meinungsvielfalt, nicht als Feigenblatt, sondern als strukturierte Irritation ideologischer Selbstgewissheit.

Zugleich braucht es die Rückbesinnung auf eine offene Aufklärung, die nicht moralisiert, sondern differenziert. Die nicht ideologische Reinheit, sondern argumentative Qualität in den Mittelpunkt stellt. Und vor allem: eine Kultur des Zweifels, nicht des Gehorsams.

Abschließende Betrachtung

Was einst als notwendige linke Kritik an Ungerechtigkeit begann, droht in Teilen zur dogmatischen Weltanschauung zu verkommen, gespeist aus moralischem Eifer, struktureller Selbstvergewisserung und einem unterschwelligen Mentizid, der kritisches Denken unterwandert. In dieser Dynamik spiegeln sich klassische Merkmale einer Folie à deux: emotionale Abhängigkeit, Realitätsverzerrung, Abwehr von Außenreizen und der Verlust geistiger Autonomie.

Wenn Gesellschaften jedoch ihre Fähigkeit verlieren, zwischen Engagement und Ideologie, zwischen Empathie und Dogma, zwischen Gerechtigkeit und Kollektivzwang zu unterscheiden, dann ist nicht nur der Einzelne betroffen, dann steht das Fundament der offenen Gesellschaft selbst zur Disposition.

Deshalb ist die zentrale Aufgabe heute nicht der „Kampf gegen Rechts“ oder für „Unsere Demokratie“, sondern der Kampf um den Verstand, um seine Offenheit, seine Autonomie, seine Widerstandskraft gegen den geistigen Sog geschlossener Systeme. Nur wer das erkennt, schützt nicht nur die Demokratie, sondern auch die Würde des Denkens selbst.

„Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“:

Mit dem Wahlspruch der Aufklärung ist Immanuel Kant der liberale Geist und Philosoph der Aufklärung, der die moderne Philosophie maßgeblich prägte aktueller denn je, gerade in einer Zeit in der die gesinnungsideologische Verblendung auf dem Vormarsch ist.

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Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.

Bodo Neumann ist promovierter Diplompsychologe. Er verfügt über langjährige Beratungs- und Forschungserfahrungen, die er einsetzt für Menschen in Veränderungssituationen, die ihre Signatur-Stärken entfalten wollen und somit lernen, ihre Erfolgspotentiale zu erkennen und zu entwickeln. Sein neuestes Buch Charachtertest Corona finden Sie hier.

Bild: Shutterstock

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