Faschismus: Ein Wort, das viele Münder führen und das davon lebt, dass seine Bedeutung von seiner affektiven Anziehungskraft überlagert wird, denn die wenigsten wissen, was es mit „Faschismus“ auf sich hat.
Aus den Kommentaren zum Post von Michael Klein vom 5. Oktober 2025 mit dem Titel „Politischer Trojaner: Unter der grünen Fassade lebt der Faschismus“ hier und auf unserem Telegram-Kanal ist erkennbar geworden, dass es unter unseren Lesern viele verschiedene Vorstellungen davon gibt, was sich mit „Faschismus“ verbindet. Und das ist nicht überraschend; es findet seine Entsprechsung in dem, was man auch im Internet und in der Fachliteratur zu/über „Faschismus“ findet.
Je nach ideologischer Ausrichtung wird dies oder jenes oder etwa anderes als Beschreibung, wenn nicht Definition, von „Faschismus“ präsentiert, oft ohne Berufung auf Primärquellen und in vielen Fällen bloß unter Verweis auf die Interpretation einer anderen Person, die ihrerseits keine Primärquellen angegeben hat, sondern bloß darstellt, was sie – aus welchen Gründen auch immer – selbst mit „Faschismus“ verbindet oder verbunden wissen will.
So gibt es neuerdings eine ganze Reihe von Quellen, die „Faschismus“ als (immer oder notwendigerweise) „right-wing“ festschreiben wollen, ohne, dass erklärt würde, warum eine solche enge oder gar notwendige Verbindung bestehen sollte. Mit solchen Qualifizierungen kann man wenig anfangen, denn schon darüber, was wem warum „right-wing“ oder „left-wing“ vorkommt, gibt es ja keine Übereinstimmung. Man macht das Definitionsproblem durch die Hinzufügung solcher Adjektive also eher noch vager und fragwürdiger.
Was also ist die Bedeutung des Begriffs „Faschismus“?
Die besseren Quellen lehnen sich bei ihrer Beschreibung von „Faschismus“ an das an, was in den 1920er- und 1930er-Jahren in verschiedenen Ländern tatsächlich publiziert oder praktiziert wurde, insbesondere in Italien unter Benito Mussolini. Und ich persönlich fasse unter „Faschismus“ das korporative System, das Mussolini verfolgt hat (und andere Personen und Regime verfolgt haben) und das im Kern durch drei Merkmale charakterisiert ist:
- Der Staat wird dem Individuum in absoluter Weise übergeordnet. Das Individuum hat dem Staat (in welcher Form auch immer) und staatlichen Institutionen zu dienen, aber nicht umgekehrt. Der Staat ist Meister, die Individuen seine Diener. Das Individuum ist an sich nichts oder jedenfalls nichts, was Relevanz hätte jenseits seiner Rolle, die es im und für den Staat spielt:
„Der Faschismus begreift den Staat als absolut, im Vergleich zu dem alle Individuen oder Gruppen relativ sind, [sie sind] nur in ihrer Beziehung zum Staat zu begreifen … Der faschistische Staat ist selbst bewusst und hat einen Willen und eine Persönlichkeit … Es ist der Staat, der seine Bürger zu bürgerlicher Tugend erzieht, ihnen ein Bewusstsein für ihre Mission vermittelt und sie zu einer Einheit zusammenfügt, ihre verschiedenen Interessen harmonisiert … (Mussolini 1933: Die Lehre vom Faschismus, S. 242).
Im Original:
„Fascism conceives of the state as an absolute, in comparison with which all individuals or groups are relative, only to be conceived of in their relation to the state … the Fascist state is itself conscious, and has itself a will and a personality … It is the state that educates its citizens in civic virtue, gives the a consciousness of their mission, and welds them into unity, harmonizing their various interests … (Mussolini 1933: The Doctrine of Fascism, S. 242).
Manche Leute stellen hier eine notwendige Verbindung zu „Nationalismus“ her, aber das beschriebene Verhältnis zwischen Staat und Menschen, die die Gesellschaft ausmachen, muss nicht notwendigerweise als „Nation“ gefasst werden. Mussolini hat das – ebenso wie andere Führer faschistischer Regime – getan, aber m.E. ist dies dem zeitlichen Kontext geschuldet und keine logisch oder empirisch notwendige Art und Weise, in die das beschriebene Verhältnis zwischen Staat und Individuen eingekleidet werden muss – wie eine ganze Reihe von historischen Beispielen zeigt, so z.B. der Stalinismus.
„Nationalismus“ ist dann lediglich eine mögliche Form, in der der Anspruch eines Regimes, möglichst absolute Macht über die Individuen zu haben bzw. Gewalt über sie ausüben zu können, zu rechtfertigen oder zu begründen versucht wird. Man kann sich andere Entwürfe vorstellen, durch die ein Regime versuchen kann, diesen Anspruch zu begründen (wenn nicht: zu legitimieren). Man denke nur an Friedrich Engels und seine Rede vom „lumpigen Individuum“; er gilt nicht als „Nationalist“ (und gewöhnlich gilt Engels auch nicht als „right-wing“, sondern ganz im Gegenteil). Jedenfalls ist Faschismus unzweifelhaft eine Spielart des Kollektivismus;
-
Konsumsteuerung in der ehemaligen DDR Der Staat interveniert in das wirtschaftliche System, um „Ordnung in das Feld der Wirtschaft zu bringen“, wie Mussolini selbst sagte. Der Staat soll auf eine koordinierte, geplante Weise das Wirtschaftsgeschehen bestimmen, so dass eine staatlich gelenkte Wirtschaft entsteht, die auf bestimmte Ziele hin ausgerichtet sein soll, die natürlich der Staat vorgibt (also wenig bis nichts mit den realen Bedürfnissen der Leute oder ihren Wünschen zu tun hat).
Das freie Marktgeschehen ist Faschisten ein Dorn im Auge, nicht nur, weil es Individuen die Möglichkeit gibt, eben das: individuelle Wünsche oder Bedürfnisse, zu befriedigen, sondern weil das Regime danach strebt, alle seine Politiken aufeinander abzustimmen, nicht nur innerhalb des Feldes der Wirtschaft im engen Sinn, sondern auch in allen anderen Feldern, wie z.B. dem Feld der Wissenschaft bzw. von Forschung und Entwicklung, dessen Ziele vom Regime in die Ziele, die es für das Wirtschaftssystem festlegt, integriert werden sollen. Mussolini schreibt:
„Der faschistische Staat hat sich sogar [!] die wirtschaftlichen Aktivitäten der Nation einverleibt, und übt durch die von ihm geschaffenen korporativen Sozial- und Bildungseinrichtungen Einfluss auf jeden Aspekt des nationalen Lebens aus und beinhaltet, im Rahmen der jeweiligen Organisationen, alle politischen, wirtschaftlichen und spirituellen Kräfte der Nation“ (Mussolini 1933: 243).
Im Original:
„The Fascist state has drawn into itself even [!] the economic activities of the nation, and, through the corporative social and educational institutions created by it, its influence reaches every aspect of the national life and includes, framed in their respective organizations, all the political, economic, and spiritual forces of the nation“ (Mussolini 1933: 243).
Auch das kennt man hinreichend aus kommunistischen Regimen (weshalb die Verbindung von Faschismus und „right-wing“ einmal mehr untauglich ist). Der Begriff des totalitären Staates bezeichnet diese Durchdringung des Staates aller gesellschaftlichen Organisationen m.E. am besten. Sofern man kommunistische und faschistische Regime überhaupt voneinander zu unterscheiden können glaubt, muss man jedenfalls festhalten, dass sie gleichermaßen totalitäre Regime sind.
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Ich bin übrigens keineswegs die Einzige, der eine Unterscheidung schwerfällt; beispielsweise hat George Bernhard Shaw Mussolinis Regime für ein sozialistisches gehalten: er hat sich im Jahr 1927 dahingehend geäußert, dass Sozialisten (wie er) erfreut darüber sein sollten, in Mussolini endlich einen Sozialisten zu finden, der so denkt und spricht, wie es verantwortliche Führer tun (Shaw, zitiert nach Griffiths 1980: 259).
- Im Zuge des 2. Punktes werden im Faschismus sogenannte Partnerschaften zwischen Staat und Unternehmen hergestellt. Privateigentum und private Unternehmen sind erlaubt, aber werden eingebunden in ein dichtes Netzwerk von „Syndikaten“ und Vereinigungen wie z.B. Handelsvereinigungen, Versicherungsvereinigungen usw. All diese Vereinigungen werden unter einen Dachverband gefasst, der als staatlicher Aufseher über private Vereinigungen und Unternehmen fungiert und ihnen Vorgaben machen kann.
Gaetano Salvemini, der Autor des Buches „Under the Axe of Fascism“ (1936), hat darauf hingewiesen, dass man den Menschentyp, den eine solche Organisation erfordert, ein „homo corporativus, or „corporative man“ sei (Salevemini 1936: 155):
„Der korporative Mensch ist frei, seine eigenen Interessen zu verfolgen, aber seine Interessen sind nicht rein egoistisch, denn er lässt sich vom ‚korporativen Gewissen‘ leiten …“ (Salevemini 1936: 156).
Im Original:
„The corporative man is free to pursue his own interests, but his interests are not purely selfish, because he is guided by the ‚corporative conscience‘ …“ (Salevemini 1936: 156).
Salevemini (1936: 202) hält fest, dass durch dieses System von Netzwerken Möglichkeiten geschaffen wurden, private Interessen einer kleinen Gruppe von Nutznießern aus diesem System zu bedienen, z.B., indem Gewerkschaftsfunktionäre eingeschüchtert oder gekauft wurden, also Korruption befördert wurde.
Manche sprechen im Zusammenhang mit den Punkten 2 und 3 von „ökonomischem Faschismus“, aber m.E. greift diese Bezeichnung mit Bezug auf Punkt 2 eindeutig zu kurz. Sie mag zur Bezeichnung dessen, was unter Punkt 3 beschrieben wurde, dienen, aber ich meine, dass diese Spezifizierung nicht notwendig – und sogar irreführend – ist, denn die Punkte 2 und 3 („ökonomischer Faschismus“) ergeben sich aus Punkt 1, ebenso wie Politiken mit Bezug z.B. auf Meinungsfreiheit: nicht nur privates Eigentum oder privates Unternehmertum werden staatlich kontrolliert, sondern auch alles andere Private, eben weil Faschismus auf eine in umfassender Weise nach staatlichen Zielen geregelte Gesellschaft hinwirkt, in der „Störfaktoren“ – d.h. Ungeregeltes, Idiosynkratisches, eben Individuelles – möglichst ausgeschaltet werden sollen, weil „Störfaktoren“ in einem Bereich das gesamte, schön geplante System stören oder in Frage stellen können.
Und dementsprechend schränken faschistische Regime die freie Rede ein – die Beschwerden, die in Italien unter dem Mussolini-Regime zu äußern erlaubt waren, nahmen nach Salvemini die Form der berühmt-berüchtigten kommunistischen „Selbstkritik“ an –, unterminieren die Pressefreiheit, enthalten der Öffentlichkeit Neuigkeiten systematisch vor und verwenden Einschüchterungstaktiken (Salvemini 1936: 77; 97; 98; 117; 120: 218; 240; 243; 397: 400-402).
Und jetzt kann sich jeder selbst fragen, welche Regime in Vergangenheit oder Gegenwart die Merkmale erfüll/t/en, die Angehörige von Regimen, die gemeinhin als „faschistisch“ bezeichnet werden, selbst oder Menschen, die unter diesen Regimen gelebt haben oder Sozialwissenschaftler, die sich tatsächlich mit zeitgenössischen Quellen beschäftigt haben, genannt werden.
Ich vermute, dass die Antwort für Demokraten einigermaßen erschreckend ausfallen wird.
Literatur:
DiLorenzo, Thomas J., 1994: Economic Fascism.
Mussolini, Benito, 1933: The Doctrine of Fascism (übersetzt vom Italienischen ins Englische von Jane Soames). The Living Age (Littell’s Living Age), November 1933: S. 235-244.
Salvemini, Gaetano, 1936: Under the Axe of Fascism. London: Victor Gollancz.
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Author: Dr. habil. Heike Diefenbach
Michael Klein