Jeder Mensch hat wohl irgendwelche Erlebnisse aus jungen Jahren, die ihn besonders prägen und nachwirken. Für mich war eines davon die Lebensmittel-Knappheit in der späten Sowjetunion, die ich als Gaststudent erlebte. In den Geschäften herrschte oft gähnende Leere. Mit dem ihnen typischen und von mir sehr geliebten Galgenhumor sagten manche Russen: „Wir haben die erotischsten Geschäfte der Welt – weil die Regale fast alle nackt sind.“ Je schwerer die Zeiten, umso bissiger der Humor – weil man sonst wohl die ganze Zeit weinen würde.
Jetzt sind auch deutsche Geschäfte sexy.
Zumindest das Aushängeschild der Galeria-Kaufhaus-Gruppe – ihr Geschäft am Münchner Marienplatz. Genauer gesagt: Die Lebensmittelabteilung im Untergeschoss dort.
Ich staunte nicht schlecht, wie „nackt“ die Regale waren. Fast alle Kühlaggregate sind ausgefallen – und man möchte gar nicht glauben, wie viele es davon in einem Supermarkt gibt. Wohin man blickte – gähnende Leere.
Dass mal die Technik ausfällt, kann in den modernsten Ländern und in den besten Geschäften vorkommen.
Die ausgedruckten Hinweisschilder und die Tatsache, dass die Nacktheit der Regale teilweise schamhaft verdeckt wurde durch Produkte, die gar keine Kühlung brauchen, war aber klarer Hinweis darauf, dass es sich offenbar nicht um ein akutes Problem handelte (und eine weitere Analogie zur Sowjetunion, wo auch oft versucht wurde, die Nacktheit zu kaschieren – aus psychologischen und propagandistischen Gründen).
Als Journalist hat man gelernt, den Dingen auf den Grund zu gehen (auch wenn das heute viele Kollegen vergessen zu haben scheinen).
Also kam ich mit einer Verkäuferin ins Gespräch. Die verriet mir: Das Elend dauert schon seit mehr als drei Wochen an. Und eine schnelle Abhilfe ist nicht zu erwarten.
Deutschland, wie es leibt und lebt. Im Jahr 2025.
Dabei ist mein Schock aus der Lebensmittel-Abteilung des Galeria-Kaufhauses nur die Spitze des Eisbergs.
Aus dem ehemaligen Musterland Deutschland, das weltweit beneidet wurde für die „deutsche Ordnung“ und „Sekundärtugenden“ wie Pünktlichkeit und Disziplin, ist eine Lachnummer geworden, über die man sich weltweit die Augen reibt. Zumindest diejenigen, die es live erleben – und nicht in der Ferne den alten Mythen nachhängen.
Wo man hinblickt, Versagen: Die einstige Vorzeige-Industrie, die Automobilbranche, wurde gegen die Wand gefahren. Das einzige, worauf bei der Bahn noch Verlass ist, ist ihre Unzuverlässigkeit. Brücken stürzen ein, Schulhäuser haben höchsten Renovierungsbedarf, die Justiz ist überfordert und muss Mörder und Kinderschänder laufen lassen, Baden-Württemberg hatte 20 Jahre lang fast 1500 Lehrerstellen nur im Computer, aber nicht im realen Leben – und diese Liste könnte man so lange fortsetzen, dass mir beim Schreiben die Hände einschlafen würden (und Ihnen beim Lesen die Augen).
Wie kam es soweit? Wie geriet unser Land auf solche Abwege? Darüber möchte ich mich in den nächsten Tagen in einem oder mehreren Artikeln befassen – und Ihnen auch noch weitere unglaubliche Geschichten von meiner aktuellen Reise berichten. Und ich bin gespannt auf ähnliche Geschichten von Ihnen!
Ich glaube nicht mehr an Zufälle. Was ich heute in Deutschland erlebe, erinnert mich zu oft, zu präzise, zu schmerzhaft an den Sozialismus, wie ich ihn 1990 als junger Gaststudent aus Westdeutschland in der späten Sowjetunion erlebt habe. Und das liegt nicht nur an leeren Regalen. Auch dazu in Kürze mehr.
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