Die Organisation, z.B. die Parteiorganisation oder die Organisation des politischen Systems ist der Grund dafür, dass Demokratie zwangsläufig zur Oligarchie degeneriert. Robert Michels hat diesen Zusammenhang bereits im Jahre 1925 in seiner Soziologie des Parteienwesens beschrieben.
Indes, Michels war der Ansicht, dass eine Organisation kompetente und zumindest sprachlich gewandte Mitglieder benötigt, um die Massen der Wähler zu bezirzen, sie glauben zu machen, sie würden in einer Demokratie leben, in der es ihnen per Wahl möglich sei, ihre Interessen einem gewählten Repräsentanten anzuvertrauen, ohne durch diesen Repräsentanten ausgenommen und verraten zu werden.
Was Michels wohl sagen würde, wenn er heute lebte, Zeitzeuge einer Organisationsherrschaft wäre, die keinerlei Gewandtheit oder Kompetenz in den „Gewählten“ erfordert, die lediglich aufgrund der Positionen, die sie umfasst und zuzuweisen im Stande ist, Herrschaft konstituiert, Herrschaft, die jede in Position gekommene Null ausüben kann…?
Und wie würde wohl das Urteil Michels ausfallen, wenn er sich darüber gewahr würde, dass seit seiner Analyse – obschon die Bedeutung der Organisation im Verhältnis zum Positionsinhaber gewachsen ist, obschon die Oligarchiebildung mehr denn je zum Zwang geworden ist, die Mehrheit der demokratiegläubigen Wähler immer noch der Ansicht ist, die Vertretung ihrer Interessen, nur durch Wahl übereignet und bar jeder Kontrolle durch die Übereignenden, sei quasi eine Zwangsläufigkeit des demokratischen Prozedere.
Aber lassen Michels ihn selbst zu Wort kommen
„Das soziologische Grundgesetz, dem die politischen Parteien – das Wort Politik hier im weitesten Sinne genommen – bedingungslos unterworfen sind, mag, auf seine kürzeste Formel gebracht, etwa so lauten: Organisation ist die Mutter der Herrschaft der Gewählten über die Wähler, der Beauftragten über die Beauftragenden, der Delegierten über die Delegierenden.
Die Bildung von Oligarchien im Schoße der mannigfaltigen Formen der Demokratien ist eine organische, also eine Tendenz, der jede Organisation, auch die sozialistsiche, selbst die libertäre, notwendigerweise unterliegt. Bereits HALLER hat bemerkt, dass in jedem gesellschaftlichen Verhältnis die Natur von selbst Herrschaft und Abhängigkeit bildet. Somit stellt jede Parteiorganisation eine mächtige, auf demokratischen Füßen ruhende Oligarchie dar. Allüberall Wähler und Gewählte. Aber auch allüberall Macht der gewählten Führerschaft über die wählenden Massen. Die oligarchische Struktur des Aufbaues verdeckt die demokratische Basis. Hier ein Sollen, dort ein Sein. Dieser substantielle Unterschied ist den Massen noch völlig verborgen. Die Sozialisten z.B. glauben vielfach in aller Ehrlichkeit, dass eine neue Elite von Politikern ihre Versprechungen besser halten werde als ihre Vorgänger. Die Idee von der Vertretbarkeit der Volksinteressen, an der die große Mehrheit der Demokraten, insbesondere die kompakten Arbeitermassen in den Ländern deutscher Zunge, immer noch mit Zähigkeit und aufrichtigem Glauben festhält, ist eine durch einen falschen Lichteffekt, einen effet de mirage, hervorgerufene Wahnidee. Wie ALPHONSE DAUDET auf einer der köstlichen Seiten seiner Analyse moderner Donquichotterie uns den brav‘ commandant Bravida dargestellt hat, der nie aus Terascon herausgekommen ist, unter dem Einfluss von durch die heiße, südliche Sonne in ihm ausgelösten autosuggestiven Kräften aber allmählich zu der Einbildung kommt, in Shanghai gewesen zu sein und dort allerhand interessante Abenteuer erlebt zu haben, so bildet sich im heutigen Proletarier unter dem Einfluss der beständig wirkenden Kräfte einer unentwegten Redekunst ihm kulturell überlegener, sprachgewandter Führer der fixe Gedanke heraus, er brauche nur zu wählen, seine sozioökonomische Sache nur einem Anwalt zu übergeben, um auch selber schon ‚Anteil an der Herrschaft‘ zu gewinnen.
Mit der Herrschaft der Führer in den demokratischen und revolutionären Parteiorganisationen muss gerechnet werden und wird von der Handvoll Einsichtigen auch gerechtnet. Die Frage lautet nicht: wie ist die Idealdemokratie zu errichten?, sondern vielmehr so: welcher Grad und welches Maß von Demokratie ist a) an sich möglich?, b) im Augenblick durchführbar?, c) und wünschenswert?, wobei c) als in das Gebiet der Politik und Weltanschauung fallend uns an dieser Stelle nicht interessiert. In der angegebenen Fragestellung ist das Grundproblem der Politik als Wissenschaft zu erblicken. Wer dies nicht einsieht, auf den trifft der Tadel SOMBARTS zu, dass er entweder so unerfahren und urteilslos sei, um nicht zu erkennen, dass alle Ordnung und Kultur aristokratisches Gepräge tragen muss, oder so weltflüchtig und verblendet, um zu verkennen, dass die demokratische Flut in unverkennbarem Vordringen begriffen ist. Der große Fehler der Sozialisten, der mit ihrer mangelhaften Bildung in psychologischen Dingen zusammenhängt, besteht darin, dass sie neben einem bisweilen übertrieben schafen Pessimismus in der Beurteilung der Gegenwart einen übertrieben rosigen Optimismus in der Zuversicht auf die Zukunft zur Schau tragen, während der Pessimismus gegenüber einer auf tausendjährige seelische Erfahrung gegründeten Gegenwart logischerweise einen übermäßigen Optimismus auch für die Zukunft nicht aufkommen lassen dürfte, insbesondere eine realistische Auffassung keinen Zweifel darüber lassen kann, dass bei aller hypothetischen Wandlungsfähigkeit das Menschenmaterial, das dem Sozialpolitiker und dem Sozialphilosophen zur Verfügung steht, solcher Art ist, dass es auf absehbare Zeit nur den Utopisten Anlass zur Goffnung auf grundsätzliche Besserung zu geben vermöchte.
Die sozialdemokratischen Parteien wie die Gewerkschaften sind lebendige Formen gesellschaftlichen Lebens. Als solche widerstreben sie nun aber aufs äußerste jeder Analyse des eigenen Wesens, die sie gleich einer Vivisektion empfinden. Resultate, die mit ihrer apriorischen Ideologie im Widerspruch stehen, stemmen sie sich mit aller Kraft entgegen. Aber die Verteidigung ihrer Position ist in höchstem Maße schwach. Diejenigen ihrer Vertreter, denen es ihr wissenschaftlicher Ernst und ihre persönliche Aufrichtigkeit verbietet, die in der Demokratie, welche Form sie immer annehmen mag, lebendigen oligarchischen Tendenzen schlichtweg zu leugnen, verweisen auf die Jugend der Bewegung, mit der das Vorhandensein atavistischer Reste in der Mentalität der geführten Massen ohne weiteres erklärt erscheine. Noch seinen die Massen infekt, da sie unter dem Eindruck jahrhundertelanger Knechtschaft stehen und der Selbständigkeit ungewohnt sind. Das sozialistische Regime aber werde sie schnell vervollkommnen und ihnen alle Kompetenzen verleihe, deren sie, um sich selbst zu beherrschen, bedürften. Die ganz unwissenschaftliche Annahme, dass nach der Besitzergreifung der öffentlichen Macht durch die Sozialisten ein wenig Kontrolle durch die Massen genüge, um eine völlige Koinzidenz der Interessen von Führern und Geführten zu erzielen, wird aber höchstens auf Grund jener anderen, noch unwissenschaftlicheren und wenig marxistischen Prämisse des Marxisten GUESDE begreiflich, dass, wie einst das Christentum Gott zum Menschen gemacht habe, der Sozialismus den Menschen zu einem Gotte machen werde.
Indes die sachliche Unreife der Masse ist, wie wir gesehen haben, nicht eine vorübergehende Erscheinung, die sich mit Zunahme der Demokratisierung au lendemain du socialisme eliminieren lässt. Sie erhellt vielmehr aus dem Wesen der Masse selbst als einer, auch wenn organisierten, so doch dem Komplex der von ihr zu lösenden Aufgaben gegenüber immanent inkompetenten, weil arbeitsteilungs-, spezialisierungs- und führungsbedürftigen amorphen Masse.
[…]
Schon der Einzelmensch ist, im Durchschnitt von Natur aus in vielem auf Leitung angewiesen, und zwar desto mehr, je mehr sich die Funktionen des modernen Lebens teilen und wieder teilen. Die Gruppe, bestehend aus Einzelmenschen, empfindet das Bedürfnis der Führung in noch ungleich verstärktem Grade. (370-374)
Bleibt noch nachzureichen, warum Inkompetente in Positionen gelangen können. Die Antwort ist, einmal mehr: Die Organisation, die es den Organisierten ermöglicht, Herrschaft über die Unorganisierten auszuüben, und je weniger die Unorganisierten, also die Wähler, die Organisierten, die Gewählten in ihrer Position kontrollieren oder sanktionieren können oder gar wollen, desto unwichtiger wird es, welche Qualifikation ein Positionsinhaber im politischen System kommandieren kann. Seine „Bedeutung“ wird von der Position im System, in der Organisation, verliehen, nicht durch Leistung erworben.
Die spannende Frage, die sich an Michels Analyse anschließt: Ist Demokratie nur möglich, wenn Parteien verboten sind?
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Author: Michael Klein
Michael Klein