Ein Gastbeitrag von Stefan Stirnemann
Davos, die kleine Stadt in den Bergen des Bündnerlandes, gilt seit Thomas Manns Roman ‹Der Zauberberg› auch als Arena der Ideen. Wen 994 Seiten nicht erschrecken, wem an guten Geschichten, schöner Sprache und echten Gedanken gelegen ist, der reist im Geiste mit dem jungen Hans Castorp aus dem flachländischen Hamburg hoch hinauf und lässt sich in einem Sanatorium für begüterte Lungenkranke sieben Jahre lang bilden und erschüttern und erziehen. Zwei Widersacher kämpfen um die Seele des Helden und seines Lesers, der freiheitliche Humanist und Pädagoge Lodovico Settembrini mit seinem Zuruf «Urteilen Sie selbst!» und der scharfe Leo Naphta mit seiner Neigung zur Gewaltherrschaft: «Das Prinzip der Freiheit hat sich in fünfhundert Jahren erfüllt und überlebt.» Wer zieht die Jugend und damit die Zukunft auf seine Seite? Thomas Mann saugt sich seine Gestalten nicht aus den müden Fingern, er zeichnet sie mit dichterischem, manchmal unbarmherzigem Scharfblick nach der Wirklichkeit.
In unserer Zeit sticht Davos als Stätte des WEF hervor, es bietet für angenehme Wintertage Politikern, Geschäftsleuten und Denkern aus aller Welt schöne Landschaft, schöne Räume und Gelegenheit zum Austausch. Auch das WEF bringt Ideen in die Berge, und eine von ihnen lautet, veröffentlicht als erste von acht Vorhersagen für das Jahr 2030: «Du wirst nichts besitzen. Und du wirst glücklich sein.» Was einer wolle, das werde er mieten, Anlieferung durch Drohne. Mieten kann ich das, was ein anderer vermieten kann, weil er es besitzt. Wer besitzt in absehbarer Zeit alles und vermietet es? Eine gütige Landesmutter, ein wohltätiger Konzern? Den, der arbeitet und nichts besitzt, nennt man einen Sklaven. Besitz verbürgt Freiheit und Unabhängigkeit. In der Vision des WEF braucht der Sklave Geld oder Gutscheine, damit er mieten kann, was er begehrt. Wer stellt ihm diese Mittel zur Verfügung? Stehen sie unter der Bedingung des Wohlverhaltens? Jedenfalls lautet die Botschaft aus den Bündner Bergen: Du wirst unfrei und abhängig sein, und du wirst glücklich sein.
Und nun tritt Adolf Hitler auf. Wohlgefällig schaut der größte Führer aller Zeiten aus toten Knochenaugen auf Davos und fühlt sich mit seinen Wahnvorstellungen verstanden und aufgenommen. Am zweiten Dezember 1938 rühmte der Gröler vor einer klatschenden Menge die nationalsozialistische Erziehung in seinem Reich, wie Kinder und Jugendliche ins Jungvolk kämen, in die Hitlerjugend, den Arbeitsdienst, dann, «zur weiteren Behandlung», in die Wehrmacht, dann SA und SS: «Und sie werden nicht mehr frei ihr ganzes Leben und sie sind glücklich dabei.»
Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 nennt als unveräußerliche Rechte des Menschen Leben, Freiheit und das Streben nach Glück. Der freie Staat schützt diese Rechte, schreibt aber nicht vor, wie die Bürger zu leben haben und wie ihr Glück beschaffen sein muss. Der totalitäre Staat kläfft die Bürger an, bis sie denken, was sie denken sollen, und in die gewünschte Richtung trotten. Am nützlichsten für Diktatoren sind glückliche, das heißt gehorsame Untertanen.
Wie bringt man die Menschen der freien Welt dazu, sich einer starken Führung zu unterwerfen? Bewährt ist der Weg, ihnen einzureden, sie seien in größter Gefahr und Rettung sei einzig von einer mächtigen lenkenden Gewalt zu erwarten. Das kann so klug vonstatten gehen, dass der Bürger nicht merkt, wie er, um sein unbedrohtes Leben zu retten, seine Seele verkauft und seine unveräußerlichen Menschen- und Bürgerrechte veräußert.
Zwei Autoren des WEF, Klaus Schwab, Begründer des Unternehmens, und Thierry Malleret, haben dazu ein Buch geschrieben: «Covid-19: Der große Umbruch». Für sie bedeutet die Pandemie offenbar den Neustart der Weltmaschine, den Anfang des Wahrwerdens aller Visionen. Schwab und Malleret prüfen und bewerten die ersten Monate der Pandemiemaßnahmen und sind, man kann es nur zur Kenntnis nehmen, dankbar für den Lockdown: «Die Pandemie hat uns mehr Zeit, mehr Stille und mehr Abgeschiedenheit geschenkt (auch wenn ein Übermaß davon manchmal zu Einsamkeit führte).» Schwab und Malleret erwarten, dass die Covid-19-Pandemie die Staatsmacht stärken werde, wie das die Krisen der letzten fünf Jahrhunderte immer getan hätten. Als Bereiche, in denen «stärkeres staatliches Eingreifen» nötig wird, nennen sie die Gesundheitsversorgung und den Klimawandel. Ein Ausnahmezustand ist für sie gerechtfertigt, wenn die Bedrohung «öffentlich, allgemein und existenzbedrohend» ist. Ob die Bürgergemeinde «außerordentlichen Befugnissen» zustimmen muss und ob diese Befugnisse «zeitlich begrenzt und verhältnismäßig» sein müssen – darüber, so die zwei, muss man diskutieren. Das lässt sich nur so deuten, dass die WEF-Vordenker damit einverstanden sind, wenn ein autoritärer Staat den schrankenlosen Notstand ausruft. Sie setzen auf die Staatsmacht, sicher in der Hoffnung, dass sie es sein werden, die den Staatsmächtigen Rat geben. Was Politiker, Wissenschaftler und Medienleute im Notstand anrichten, das hat die vergangene Zeit gezeigt. Offenbar ist das erst der Anfang des Umbruchs.
Um den Leser aufzumuntern, der bei solchen Aussichten den Kopf hängen lässt und Angst hat, greifen Schwab und Malleret tief in die Schatztruhe der Überlieferung und wählen als «Leitsatz» den «berühmten Spruch» des Philosophen Spinoza: «Es gibt keine Hoffnung ohne Angst, aber auch keine Angst ohne Hoffnung.» Mit dem Zitat und seiner Einbettung beweisen die zwei, dass sie blindlings in die Schatztruhe greifen und den, den sie zitieren, nicht kennen. Ihr Leitsatz steht in einer ganzen Reihe von Definitionen, mit denen der Philosoph die menschlichen Gefühle und Zustände beschreiben will, zum Beispiel Freude, Verzweiflung, Mitleid, Gewissenbisse. Spinoza will durch nüchterne Begriffsbestimmungen den Menschen dahin bringen, seine oft unklaren Gefühle zu durchschauen, von ihnen Abstand zu gewinnen und sich ihnen gegenüber zu behaupten. Die Unfähigkeit, das Innere zu mäßigen und zu zügeln, nennt Spinoza Sklaverei. Was er über Angst und Hoffnung schreibt, dient also der Analyse, und mit keiner Silbe ruft er dazu auf, in der Angst nicht die Hoffnung zu verlieren. Irgendjemand hat einst Spinozas Bestimmung aus dem nicht verstandenen Zusammenhang herausgepflückt und hat einen Kalenderspruch daraus gemacht: «Kopf hoch, altes Haus!» Schwab und Malleret haben für ihre Allerweltsaufmunterung einen berühmten Namen gesucht und sind einem online-Zitatenspeicher zum Opfer gefallen. Als Mutmacherspruch sei den WEF-Vordenkern für die nächste Auflage ein Schweizer Gassenhauer empfohlen, mit dem vor 80 Jahren Marthely Mumenthaler und Vrenely Pfyl auftraten: «Nach em Räge schint Sunne!»
Es ist bemerkenswert, wie urteilslos und staatsfromm Schwab und Malleret schreiben und womit sie ihre Leser abspeisen. Ihre «Schlussfolgerung» datieren sie auf den Juli 2020, als viele Wissenschaftler und Ärzte längst klar gesagt hatten, wie die Pandemie einzuschätzen und was von den Maßnahmen zu halten sei, zum Beispiel Stefan Homburg, Wolfgang Wodarg, Sucharit Bhakdi, Stefan Hockertz. Mit der Veröffentlichung der Dokumente aus dem deutschen Robert-Koch-Institut sind diese Stimmen bestätigt worden. Die Notlage, die Schwab und Malleret leichtgläubig zum Ausgangspunkt ihres Umbruchs machen, hat es nicht gegeben.
Politiker, die jede Kritik verbieten und nur auf die hören wollen, die ihrerseits auf sie hören wollen, schaffen die Freiheit ab und führen die unfreien Menschen auf geradem Weg zu Orten, wo es nicht schön ist. Das WEF im schönen Davos sollte ein echtes Forum sein und anerkennen, dass die Menschen das Recht und die Pflicht haben, mündig zu leben.
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Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Und ich bin der Ansicht, dass gerade Beiträge von streitbaren Autoren für die Diskussion und die Demokratie besonders wertvoll sind. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Stefan Stirnemann ist Schweizer Philologe und Publizist, u.a. zur Sprache. Die Andere Bibliothek: Eduard Engel, Deutsche Stilkunst (2016) [Geleitwort zum Werk eines arisierten Autors], Weltwoche: Diese Gespenster am helllichten Tag (2024) [Eidgenossen sind von Haus aus Verschwörungspraktiker, Beitrag zur Coronapandemie]
Bild: andreas_naegeli / Shutterstock
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