Manchmal hilft ein einfacher Reality-Check. Man schaut sich einfach an, wer in diesen Zeiten ganz vorne auf der politischen Bühne steht. Und dann fragt man sich, ob das alles ein großer Irrtum ist. Oder ein großer Notruf.
Karl Lauterbach zum Beispiel. Ein Mann, der den gesunden Menschenverstand mit einer Mischung aus Dauerpanik und Datenneurose zu bekämpfen scheint. Der in Interviews wirkt wie ein wandelnder Ausschlag und bei jedem Auftritt die Aura eines erschöpften Excel-Doktors verbreitet. Und der trotzdem monatelang als einer der beliebtesten Politiker Deutschlands galt.
Oder Saskia Esken. Die in ihrer ganzen Karriere kein einziges klares politisches Profil aufgebaut hat, aber jederzeit bereit ist, moralische Ultimaten zu verkünden. Die SPD wirkt(e) unter ihr wie eine Mischung aus betreutem Denken und innerparteilicher Dauertherapie. Und doch hat sich nie jemand ernsthaft gefragt, wie sie da hingekommen ist.
Und jetzt Heidi Reichinnek. Die neue Chefin der Linken wirkt, als sei sie direkt aus einem Genderseminar in die Bundespolitik gebeamt worden. Viel Haltung, wenig Inhalt. Viel Pathos, wenig Pragmatismus. Und natürlich: Kein Zweifel an sich selbst.
Was diese drei eint? Sie stehen exemplarisch für ein System, das selten die Besten nach oben spült – sondern die Lautesten, die Getriebensten, die Ehrgeizigsten. Ich nenne das das „Vaclav-Havel-Prinzip“ – in bewusster Abweichung vom gängigen Politsprech. Es besagt, dass die wirklich Integren, die Klugen, die mit sich selbst im Reinen sind, meist nicht nach Macht streben – und deshalb nur in Ausnahmesituationen wie nach großen gesellschaftlichen Erschütterungen nach oben kommen. Nicht die Klügsten, nicht die Ehrlichsten, nicht die Stabilsten machen Karriere. Sondern jene, die das am dringendsten brauchen. Weil sie sich über die Bühne definieren. Weil sie nicht ohne das Mikrofon können. Weil sie das Publikum brauchen wie andere den Sauerstoff. Nicht die Klügsten, nicht die Ehrlichsten, nicht die Stabilsten machen Karriere. Sondern jene, die das am dringendsten brauchen. Weil sie sich über die Bühne definieren. Weil sie nicht ohne das Mikrofon können. Weil sie das Publikum brauchen wie andere den Sauerstoff.
Wenn Normalität sich zurückzieht
Die Tragik ist: Wer mit sich selbst im Reinen ist, braucht die Bühne nicht. Wer klar sieht, hat keine Lust auf das Spiel. Und wer Verantwortung ernst nimmt, weiß, dass die Macht einen Preis hat, den man nur zahlen sollte, wenn es unbedingt sein muss.
Doch genau diese Menschen fehlen uns heute. Weil sie sich zurückziehen. Weil sie sich sagen: “Für diesen Zirkus bin ich mir zu schade.” Und sie haben recht. Aber gerade das macht das Dilemma so tödlich. Denn während die Klugen schweigen, toben sich die Lauten aus. Sie füllen Sendezeiten, Gesetzestexte, Parteitage – und hinterlassen eine Republik, die wirkt wie ein schlechter Entwurf ihrer selbst.
Das war nicht immer so. Nach dem Krieg, nach dem Mauerfall, nach echten Brüchen der Ordnung – da kamen manchmal andere Menschen nach oben. Menschen wie eben besagter Havel, wie Weizsäcker, wie Mandela. Leise. Gebrochen. Aber integer. Weil das System selbst so erschöpft war, dass es für einen kurzen Moment aufhörte, sich selbst zu reproduzieren.
Heute aber ist das System zwar auch erschöpft – aber es dreht sich weiter. Es ist selbstzufrieden. Es schützt seine Figuren, auch wenn sie längst entkernt sind. Und es bestraft jeden, der nicht ins Theater passt.
Was, wenn die Stillen jetzt wieder sprechen würden?
Vielleicht bräuchte es gar keine Revolution. Vielleicht reicht ein Satz. Ein Schritt nach vorn. Von einem, der nicht müsste. Der nicht drängt. Der nicht das Rampenlicht sucht, sondern das Richtige will.
Vielleicht ist es genau das, was uns fehlt: Die Rückkehr derjenigen, die den Betrieb nie gebraucht haben. Aber ihn retten könnten.
Solange das nicht geschieht, bleibt uns nur der Blick in die Talkshows. Und die stille Hoffnung, dass irgendwann wieder jemand aufsteht, der nicht schreien muss, um gehört zu werden.
PS: Natürlich funktioniert das Václav-Havel-Prinzip nicht immer. Auch in Zeiten des Umbruchs kommen nicht automatisch die Aufrechten an die Spitze. Manchmal gewinnen auch die Geschmeidigen – wie Angela Merkel, die sich gern als moralische Instanz feiern ließ, dabei aber keine Dissidentin war, sondern Teil des Systems. Oder Gregor Gysi – rhetorisch brillant, aber mit Akten, die eher nach System als nach Widerstand riechen.
Es braucht also mehr als nur einen historischen Moment. Es braucht auch Charakter. Und es braucht eine Gesellschaft, die diesen Charakter erkennt – und ihm vertraut. Vielleicht war der Umbruch in Deutschland nie radikal genug. Vielleicht haben wir uns zu schnell mit neuen Etiketten zufriedengegeben – während die alten Netzwerke einfach weitermachten. Und vielleicht marschieren wir genau deshalb heute wieder in Richtung DDR 2.0 – bloß mit freundlicherem Anstrich und digitalem Türsteher.
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