Manchmal hat man das Gefühl, man träumt. Etwa, wenn man in der „Bild“ von einer Razzia im Landesamt für Einwanderung im CDU-regierten Berlin liest – wegen des Verdachts, Termine und Dokumente seien illegal vermittelt worden. Und man fragt sich: Schlafen die Kollegen oder wachen sie jetzt erst auf?
Denn was da jetzt wie eine große Enthüllung wirkt, ist für viele, die mit dem Thema Ausländerbehörde in Berlin zu tun hatten, ein offenes Geheimnis. Jeder kennt jemanden, der jemanden kennt – und plötzlich geht es mit dem Termin ganz schnell. Plötzlich funktioniert der Aufenthaltstitel. Plötzlich klappt, was für andere Monate dauert oder am Ende gar nicht klappt. Und plötzlich fließt Geld. Nicht offiziell. Nicht per Quittung. Sondern diskret. Über Mittelsmänner, über Anwälte, über Kontaktleute mit Insiderwissen – oder direktem Draht ins Amt.
Ich selbst habe darüber bisher nicht geschrieben. Nicht, weil ich es für eine Verschwörung hielt. Sondern weil es schwer ist, das zu belegen – ohne große Redaktion, ohne Rechercheteam, ohne Risiko für Informanten. Aber jetzt? Jetzt ermittelt die Staatsanwaltschaft. Und man darf fragen: Wieso erst jetzt?
Denn was sich da über Jahre aufgebaut hat, ist kein Einzelfall. Es ist ein System. Ein Graubereich, der sich zwischen Bürokratie, Migrantenhilfe und Selbstbedienungsmentalität eingenistet hat. Und wie immer trifft es die Falschen.
Erst vor wenigen Tagen berichteten mir gute Freunde von engen Verwandten, die das Gegenteil von Problemfällen sind: Bestens integriert, mit Job, mit Tochter, die seit Jahren zur Schule geht – trotzdem droht ihnen nun die Ausweisung. Kein Spielraum, keine Gnade, keine Kulanz. Und das, obwohl sie alles richtig gemacht haben.
Gleichzeitig beobachtet man, wie andere – mit richtigen Papieren, richtigen Kontakten oder der richtigen Geschichte – durchgewunken werden. Kein Zufall, kein Einzelfall, sondern ein strukturelles Problem. Ehrliche werden bestraft, Skrupellose belohnt. Der Rechtsstaat zeigt Härte bei den Schwachen – und Schwäche bei denen, die wissen, wie man ihn umgeht.
Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich will nicht pauschal gegen die Mitarbeiter der Ausländerbehörde schießen. Ich kenne selbst Fälle, in denen dort mit aufopferungsvollem Einsatz gearbeitet wird. Aber genau diese Mitarbeiter leiden doppelt: unter der maroden Struktur – und unter dem Ruf, den ihnen die schwarzen Schafe im eigenen Haus ruinieren.
Das Landesamt für Einwanderung war einmal der Versuch, Ordnung ins Berliner Chaos zu bringen. Geblieben ist ein undurchdringliches Dickicht. Mit Terminscouts, Bestechungsverdacht und einem Vertrauensverlust, der sich nur noch schwer reparieren lässt.
Umso erstaunlicher ist, dass sich die Ermittlungen – nach allem, was bisher bekannt ist – offenbar nur auf einzelne Verdachtsfälle konzentrieren: etwa auf Unregelmäßigkeiten bei Einbürgerungen und den mutmaßlichen Verkauf von Terminen. Dabei spricht vieles dafür, dass wir es hier nicht mit bedauerlichen Ausreißern zu tun haben, sondern mit einem flächendeckenden System. Mit einem Dschungel aus Grauzonen, in dem die Grenzen zwischen Service, Korruption und organisierter Unverantwortlichkeit längst verschwimmen.
Das Desaster betrifft längst nicht nur Asylverfahren oder Aufenthaltstitel. Auch wer sich auf legalem Weg einbürgern lassen will, stößt in Berlin auf ein System der impliziten Ausgrenzung. Die Bearbeitung dauert oft viele Monate – manchmal über ein Jahr. Wer nichts unternimmt, wartet. Wer sich jedoch einen Anwalt leisten kann, hat plötzlich Chancen: Denn mit einer sogenannten Untätigkeitsklage (§ 75 VwGO) kann eine Entscheidung erzwungen werden – sofern der Antrag vollständig ist und mehr als drei Monate unbearbeitet blieb. Genau das ist in der Hauptstadt längst zur Praxis geworden: Gut verdienende Antragsteller bringen juristischen Druck in Stellung – und siehe da, es bewegt sich etwas.
Gerichtsgebühren, Anwaltskosten, formale Hürden – all das ist für viele kaum zu stemmen. Einbürgerung wird so zu einem Privileg für die besser Informierten und besser Gestellten. Allein im Jahr 2023 gingen in Berlin über 1.500 solcher Untätigkeitsklagen beim Verwaltungsgericht ein – ein Armutszeugnis für den Zustand des Systems. Wer ehrlich ist und Geduld beweist, wird abgehängt. Wer klagt, bekommt schneller einen Pass. Der Rechtsstaat – so viel steht fest – ist in Berlin nicht kostenlos zu haben.
Und wo bleibt eigentlich Berlins Regierender Bürgermeister? Kai Wegner, CDU, war angetreten mit dem Versprechen, in der Hauptstadt wieder Ordnung zu schaffen. Doch wenn selbst in seinem eigenen Landesamt dubiose Geschäfte florieren und niemand den Deckel hebt, darf man fragen: Hat er den Laden überhaupt noch im Griff? Oder verwaltet er bloß noch den Dauerzustand aus Kontrollverlust, Ideologie und Selbstbetrug, den ihm seine rot-grünen Vorgänger hinterlassen haben?
Man kann jetzt hoffen, dass die Ermittlungen etwas aufdecken. Man kann aber auch nüchtern feststellen: Die wirklich wichtigen Fragen – wer profitiert, wer deckt, wer schweigt – wird man möglicherweise wieder nicht stellen. Weil man sonst an Grundpfeilern rüttelt, die niemand erschüttert sehen will.
Vielleicht ist das die bitterste Erkenntnis dieser ganzen Geschichte: Dass ein Rechtsstaat, der seine eigenen Regeln nicht mehr durchsetzt, irgendwann selbst zur Grauzone wird.
Ballweg, Parfüm und eine Hundematte: Wie aus 19,53 Euro ein medialer Schuldspruch konstruiert wurde
„Nie wieder“ war gestern: Der Fall Leandros zeigt, wie moralische Säuberung wieder schick ist
Wurde der Ton beim Weidel-Interview manipuliert? ARD unter Verdacht – Tontechniker entlarvt?
Bild: -am-helen / Shutterstock.com
Bitte beachten Sie die aktualisierten Kommentar-Regeln – nachzulesen hier. Insbesondere bitte ich darum, sachlich und zum jeweiligen Thema zu schreiben, und die Kommentarfunktion nicht für Pöbeleien gegen die Kommentar-Regeln zu missbrauchen. Solche Kommentare müssen wir leider löschen – um die Kommentarfunktion für die 99,9 Prozent konstruktiven Kommentatoren offen zu halten.
Mehr zum Thema auf reitschuster.de
Asyl – der amtlich organisierte Wahnsinn
„Dieses System kann nur mit großem Aufwand geheilt werden“ – unglaubliche Innenansichten aus einer Asylbehörde: Ein Ex-Mitarbeiter berichtet – und seine Einblicke aus dem Jahr 2020 sind nach Würzburg aktueller denn je.
Asyl – die große Geldverteilungs-Maschine
Ein ehemaliger Mitarbeiter (m/w) einer Asylbehörde in einer deutschen Kommune packt aus: „Das ganze System ist krank“, sagt er. Lesen Sie hier Teil zwei seiner unglaublichen, haarsträubenden Erfahrungen aus der Behördenpraxis und seine Schlussfolgerungen, was sich ändern müsste (und warum es sich eben bislang nicht ändert) exklusiv auf meiner Seite (wenn Sie Teil 1 verpasst haben, finden Sie ihn hier): Folgeantrag: Sommer in der Heimat, Winter in Deutschland Das Gesetz erlaubt nach einer Rücknahme oder einer Ablehnung eines früheren Asylantrags einen erneuten Asylantrag zu stellen, einen sogenannten Folgeantrag. Denn es kann ja sein, dass es im Heimatland wieder Krieg ausbricht [weiterlesen]
‚Asyl-Shopping‘ treibt Migrationskrise auf die Spitze
Migranten aus aller Welt lieben Deutschland, weil sie hier die üppigsten Zuwendungen erhalten. Besonders bizarr: Auch, wer anderswo in der EU bereits Asyl erhalten hat, zieht lieber weiter ins Land der offenen Arme und der unbegrenzten Solidarität. Von Daniel Weinmann.