Ein Gastbeitrag von Thomas Rießinger
Ausnahmsweise werde ich mich kurz fassen.
Ilse Aigner, die Präsidentin des Bayerischen Landtages, die schon vor Kurzem durch eine etwas eigenwillige Interpretation nicht vorhandener Regeln der Landtags-Geschäftsordnung aufgefallen ist, durfte schon wieder durch ihr ganz besonderes Verfassungsverständnis glänzen. Im Rahmen eines amerikanischen Parlamentariertreffens hielt sie einen sogenannten Impulsvortrag und hat dann am 6. August auf X den Satz veröffentlicht, den sie anscheinend für überaus wichtig hielt.
Noch einmal zum Kopieren: „Wehrhafte Demokratie, das bedeutet: Wir wehren uns gegen gefährliches Reden – weil dadurch allzu oft gefährliches Tun geworden ist!“ Ich will hier nicht auf die Antworten eingehen, die ihr auf X zuteil geworden sind; die kann sich jeder selbst ansehen und sich daran erfreuen, dass es auch noch Menschen gibt, die das Prinzip der Meinungsfreiheit verstanden haben. Statt dessen darf ich auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 2009 hinweisen, auf die ein X-User und Rechtsanwalt namens Jan Ristau aufmerksam gemacht hat. Dort heißt es: „Die Absicht, Äußerungen mit schädlichem oder in ihrer gedanklichen Konsequenz gefährlichem Inhalt zu behindern, hebt das Prinzip der Meinungsfreiheit selbst auf und ist illegitim … Entsprechendes gilt … für das Anliegen, die Verbreitung verfassungsfeindlicher Ansichten zu verhindern. Allein die Wertlosigkeit oder auch Gefährlichkeit von Meinungen als solche ist kein Grund, diese zu beschränken … Art. 5 Abs. 1 GG erlaubt nicht, die Meinungsfreiheit unter einen generellen Abwägungsvorbehalt zu stellen.“
Die Auslassungen haben für den Inhalt keine Bedeutung und beziehen sich nur auf Verweise auf Literatur und Rechtsprechung. Weiter steht dort: „Legitim ist es demgegenüber, Rechtsgutverletzungen zu unterbinden. Soweit der Gesetzgeber darauf zielt, Meinungsäußerungen insoweit einzuschränken, als mit ihnen die Schwelle zur individualisierbaren, konkret fassbaren Gefahr einer Rechtsverletzung überschritten wird, verfolgt er einen legitimen Zweck. Der Gesetzgeber kann insoweit insbesondere an Meinungsäußerungen anknüpfen, die über die Überzeugungsbildung hinaus mittelbar auf Realwirkungen angelegt sind und etwa in Form von Appellen zum Rechtsbruch, aggressiven Emotionalisierungen oder der Herabsetzung von Hemmschwellen rechtsgutgefährdende Folgen unmittelbar auslösen können.“ Nur wenn Meinungsäußerungen „mittelbar auf Realwirkungen angelegt sind“, wenn sie Appelle zum Rechtsbruch enthalten oder zu „rechtsgutgefährdenden Folgen“ führen können, kann die Meinungsfreiheit eingeschränkt werden. Das ist nachvollziehbar. Äußert beispielsweise jemand, die AfD oder sonst eine Partei sei so widerlich, dass man im Falle ihrer Regierungsübernahme sich überlegen müsse, zur Waffe zu greifen, dann darf man annehmen, dass es um einen Appell zum Rechtsbruch oder auch zu aggressiven Emotionalisierungen geht, was zu Einschränkungen der Meinungsfreiheit führen könnte – hat schon jemand bei Jette Nietzard angeklopft?
Ansonsten sagt uns das Gericht: „Gefahren, die lediglich von den Meinungen als solchen ausgehen, sind zu abstrakt, als dass sie dazu berechtigten, diese staatlicherseits zu untersagen. Solange eine Gefahr nur in der Abstraktion des Für-richtig-Haltens und dem Austausch hierüber besteht, ist die Gefahrenabwehr der freien geistigen Auseinandersetzung der verschiedenen gesellschaftlichen Strömungen untereinander anvertraut.“ Ob, um bei den Worten Aigners zu bleiben, aus gefährlichem Reden schon „allzu oft gefährliches Tun geworden ist“, spielt für die Beurteilung keine Rolle, denn das ist eine der abstrakten Gefahren, von denen das Gericht gesprochen hat.
Die Präsidentin des Bayerischen Landtags spricht sich offen gegen das Grundgesetz aus. Hat der Verfassungsschutz schon auf seine freundliche Art bei ihr nachgefragt? Besitzt sie einen passenden Bademantel für frühmorgendliche Besuche? In dem gleichen Post zitiert sie aus ihrer Rede: „Aber mein Land hat die Erfahrung gemacht, dass eine Demokratie sterben kann.“
Ohne Zweifel. Diese Erfahrung machen wir gerade wieder.
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Thomas Rießinger ist promovierter Mathematiker und war Professor für Mathematik und Informatik an der Fachhochschule Frankfurt am Main. Neben einigen Fachbüchern über Mathematik hat er auch Aufsätze zur Philosophie und Geschichte sowie ein Buch zur Unterhaltungsmathematik publiziert.
Bild: T. Schneider / Shutterstock.com
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