Kino und Filme spielen für mich eine wichtige Rolle. Oft schaue ich Filme ein zweites oder drittes Mal, weil ich schon alles kenne, was mir die Online-Videotheken anbieten. Deshalb bin ich besonders auf Neuerscheinungen angewiesen.
Viele meiner Favoriten sind Literaturverfilmungen von Büchern, die ich früher einmal gelesen hatte. Spontan und überhaupt nicht repräsentativ fallen mir die Bernd Eichinger Verfilmungen ein, von „Last Exit Brooklyn“ bis „Baader Meinhof Komplex“.
Irgendwann viel früher sah ich gemeinsam mit meiner Mutter im elterlichen Wohnzimmer auf dem kleinen Fernseher im orangenen Plastikgehäuse einen DEFA-Film – es muss noch zu DDR-Zeiten gewesen sein, er wurde also über Feindsender ausgestrahlt – mit dem Titel „Bahnwärter Thiel“ nach einer Novelle von Gerhart Hauptmann.
Anschließend saßen wir beide wie festgeklebt am Sofa. Das Gefühl lässt sich am ehesten beschreiben als eine Mischung aus Grauen und der Gewissheit, von einem aufmerksamen Regisseur sicher an der Hand durch eine überwältigende Melancholie geführt worden zu sein.
Das mag für manche wenig attraktiv klingen. Andere, zu denen ich mich zähle, fühlen sich davon magisch angezogen. So entstehen Sehnsüchte und es werden auch welche befriedigt. Jedenfalls hat mich dieses exklusive Bahnwärter-Thiel-Gefühl gestern wieder eingeholt mit seiner herbstlichen Wehmut und der Erinnerung an Dinge, an die man sich als Spätgeborener eigentlich gar nicht erinnern kann.
Mein Großvater war lange in russischer Gefangenschaft. Dennoch hörte er bisweilen diese schwermütige russische Musik. Etwas im Wesen des Menschen vollbringt es wohl, sich von etwas anrühren zu lassen, das ihn zuvor erschaudern ließ. Ein bemerkenswertes und uraltes Überlebenskonzept.
Der Film, den ich gestern beim gelangweilten Durchblättern bei Amazon Prime entdeckte, heißt auf Deutsch „Kleine Dinge wie diese“. Eine Literaturverfilmung von Claire Keegans „Small Things Like This“.
Zunächst daran hängen blieb ich wegen der Besetzung der Hauptrolle, die der irische Oscar-Preisträger („Oppenheimer“) Cillian Murphy übernommen hatte. Zudem war ich überrascht, dass die Verfilmung neben Murphy auch von Hollywoodstars wie Matt Damon und Ben Affleck mitproduziert wurde, die also ihr Geld dazugegeben hatten.
Cillian Murphy hatte sich bei mir als Hauptfigur in der britischen Serie „Peaky Blinders“ in meine persönliche Hall of Fame eingetragen. In diesem zum Beginn des 20. Jahrhunderts angelegten Gang-Epos spielt Murphy das Familienoberhaupt der Shelbys. Und diese Rolle wurde so angelegt, dass die notwendige Brutalität immer in Koexistenz daherkommt mit einem tiefsinnigen, fast mitfühlenden, vom Schicksal gefesselten Charakter – eine schauspielerische Meisterleistung.
„Kleine Dinge wie diese“ kann die Weiterführung dieser Rolle sein, befreit von den Fesseln des Gangsterlebens. Murphy spielt hier als Bill Furlong zunächst die Rolle des Beobachters, der sein Leben als irischer Kohlenhändler in den frühen 1980er-Jahren lebt und dessen Frau in bescheidenen Verhältnissen die gemeinsamen fünf Mädchen versorgt. Bescheiden, aber nicht arm. Einmal wünscht sich die Frau Schuhe aus dem Schaufenster und bekommt sie auch zu Weihnachten.
Bill Furlong ist immer schmutzig, alles erscheint in Sepia gefiltert, immer wieder schrubbt sich Bill die Hände in einem kleinen Waschbecken im beengten Familienbad. Nach und nach wird in sparsamen Rückblenden gezeigt, dass Bill eine schwere Kindheit hatte als unehelicher Sohn einer früh verstorbenen Mutter, die unter Tränen die Spucke aus dem Mantel des kleinen Jungen waschen muss – die Rotze stammt von den ehelichen katholischen Kindern der Schule.
Bills Mädchen singen im Chor, man ist irisch-katholisch in einer Mischung aus Tradition, Gruppenzwang, Kinderglaube und Stockholm-Syndrom – hier will niemand aus der Reihe tanzen oder gar aus der Gemeinschaft ausgestoßen werden. Noch weniger ein Kohlenhändler, der eine Reihe von Mitbewerbern aus dem Nachbarort hat.
Weiterlesen nach der Werbung >>>
Mit dem Heranwachsen der Mädchen wächst Bills Sorge um die Abwehrkraft gegenüber den jungen irischen Männern. Aber die Furlong-Mädchen wirken wehrhaft und fröhlich, Vaters Sorge erscheint hier wie ein Gespenst aus einer anderen Welt.
Diese schwermütige Verfilmung wird dort zum Meisterwerk, wo die Zeit still zu stehen scheint wie ein Gedanke, der nicht mehr verfliegen will, wo man Bill beim Nachdenken zuschauen kann, wenn er nachts immer wieder zwanghaft aufsteht, in einem Sessel sitzend durchs milchige Fenster auf die spärlich beleuchtete Straße hinausschaut oder eben mit seinem Kohlenwagen die zenterschweren Bestellungen ausliefert.
Was den Film neben diesen nachdenklichen, fast zähen Momenten zu meinem ganz persönlichen „Bahnwärter Thiel“ gemacht hat, ist diese Meta-Ebene des Erzählens, wenn die Metamorphose vom Erduldenden zum Handelnden beginnt, vom Gebückten zum aufrecht Gehenden.
Eines Tages findet Bill im Kohlenschuppen des Nonnenklosters ein „gefallenes Mädchen“, das hier zur Strafe eingesperrt wurde. Hier sind wir dann in der Herzkammer der Unmenschlichkeit angekommen. Ein gigantisches Seelenschlachthaus, welches die katholische Kirche auch hier in Irland über ein Jahrhundert hinweg errichtet hat.
Das Grauen hat später einen Namen bekommen, der die ganze Gemeinheit dieser heiligen Schwestern und ihrer Mutter Oberinnen kaum zynischer zum Ausdruck bringen könnte: „Magdalenenheim“. Die Bräute Christi haben in Irland zehntausende Mädchen und junge Frauen diszipliniert, versklavt, ihrer Kinder beraubt und umgebracht.
Aber noch einmal zurück zu Bill Furlong und seiner Familie. Jeder in der kleinen Stadt weiß oder ahnt ja, dass etwas schrecklich schiefläuft in diesen Verwahranstalten. Aber niemand schaut genauer hin, alle haben Angst oder hängen wie Bill auch wirtschaftlich am Kloster.
Und ohne das Ende zu verraten (heute sagt man „spoilern“): Dieser tiefgründige Cillian Murphy wächst in der Rolle des Bill noch einmal über sich hinaus. In seinem kohlenverschmierten Gesicht spiegelt sich die ganze Bandbreite des Mitleidens auf eine Weise, dass es einem die Kehle zuschnürt wie etwa bei der Lektüre des irischen Bestsellers „Die Asche meiner Mutter“, das allerdings in der Verfilmung an keiner Stelle jemals die Wucht von „Kleine Dinge wie diese“ erreicht.
Kurz gesagt: Bill Furlong fällt eine Entscheidung. Und diese Entscheidung markiert den Moment, in welchem ein einzelner Mensch über sich hinauswächst und so die ganze Welt rettet. Und exakt an der Stelle findet der Film in seiner vernichtenden Kirchenkritik wieder zu Jesus zurück – diese Deutungsmöglichkeit jedenfalls lässt der belgische Regisseur Tim Mielants – er hatte schon bei sechs „Peaky Blinders“-Folgen Regie geführt – den gläubigen Zuschauern als Rettungsanker liegen. Eine großartige Geste eines echten Menschenfreunds. Andere hätten das Fallbeil ausweglos hinuntersausen lassen.
Am nächsten Morgen rief ich meine 89-jährige Mutter an und erzählte ihr von meiner neuerlichen „Bahnwärter Thiel“-Erweckung. Sie erinnerte sich sofort. Meine Mutter schaut auch gern Filme. Gestern Abend saß sie bis zwei Uhr in der Nacht, berichtete sie. Sie konnte sich nicht vom „Spiel mir das Lied vom Tod“ losreißen. Claudia Cardinale war ja vor ein paar Tagen gestorben.
Zur Quelle wechseln
Author:
Alexander Wallasch