Die Statistik liest sich wie ein Konjunkturkrimi: Im Juli schnellten die Regelinsolvenzen um 19,2 Prozent gegenüber dem Vorjahr nach oben. In Berlin gab es mit 175 Firmenpleiten einen Rekordwert – weit über dem Durchschnitt der vergangenen Jahre. Betroffen sind vor allem Kleinstunternehmen: Spätis, Cafés, Solo-Selbstständige. Das Rückgrat einer Stadt, die sich gern als kreativ und lebendig inszeniert.
Und dann fällt der Satz, der wie aus einer anderen Welt klingt: „Altes muss Neuem Platz machen“, sagt Steffen Müller vom Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH). In einem Gespräch mit der „Berliner Zeitung“ ordnete er die Entwicklung als normalen, ja notwendigen Prozess ein. Strukturwandel, Marktbereinigung – Vokabeln, die nüchtern klingen, aber im Alltag die Schließung von Läden, den Verlust von Jobs und die Abwicklung von Lebenswerken bedeuten. Es ist der feine Unterschied zwischen einer ökonomischen Beschreibung und einer kalten Beglaubigung des Geschehens – und genau hier schimmert in meinen Augen massiver Zynismus durch.
Das passt ins Bild einer Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, die sich mit dem Verweis auf Digitalisierung, Transformation und Nachhaltigkeit gern von den Kollateralschäden freispricht. Wer nicht mithalten kann, war offenbar „überholt“. Wer nicht bestehen kann, hat eben „Platz gemacht“. So klingt es jedenfalls für alle, die gerade ihre Türen für immer schließen müssen.
Was in den makroökonomischen Modellen als evolutionärer Prozess gilt, ist für die Betroffenen der Bruch einer Existenz. Wer einen Laden über Jahrzehnte führt, steckt oft mehr als Geld hinein: Zeit, Herzblut, Beziehungen. Das alles lässt sich nicht einfach in Prozentpunkten abschreiben. Und es lässt sich erst recht nicht mit einer wohlklingenden Floskel legitimieren, die im Ohr des Betroffenen wie ein „selbst schuld“ klingt.
Die Berliner Schieflage
Warum ausgerechnet Berlin so stark betroffen ist, hat viele Gründe: steigende Mieten, gestiegene Energiepreise, verändertes Konsumverhalten, ein härterer Wettbewerb durch Onlinehandel. Für Kleinstbetriebe sind diese Faktoren nicht abstrakt, sondern tödlich. Der „Strukturwandel“ hier bedeutet: weniger Vielfalt (echte, nicht das politisch missbrauchte Schlagwort), mehr Ketten, sterile Innenstädte.
Die provokante Frage lautet: Handelt es sich um eine bewusst herbeigeführte Welle – ein „Durchfegen“ der Märkte – oder nimmt man die Verluste nur achselzuckend in Kauf? Die Antwort ist politisch brisant. Denn wenn Politik und Wirtschaft bewusst auf Erneuerung durch Insolvenz setzen, ist das eine Form sozialer Kälte, die man nicht mit Wohlstandsrhetorik zudecken kann. Es wäre der Moment, in dem die Politik ehrlich sagen müsste: Ja, wir haben entschieden, dass Opfer notwendig sind – und ja, Sie gehören dazu.
Die Ironie: Dieselben Stimmen, die den Strukturwandel feiern, werden beim nächsten Wahlkampf von „Erhalt der Lebensqualität“ sprechen. Sie werden sich in Bäckereien und auf Wochenmärkten fotografieren lassen, die dann vielleicht schon bald gar nicht mehr existieren.
Man könnte also sagen: Altes macht Neuem Platz – nur dass das Neue oft nicht besser ist. Sondern einfach austauschbarer. Und manchmal fragt man sich, ob das wirklich ein Fortschritt ist.
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