Ich dachte, das wäre ein typischer Fall für einen Tweet. Ein kleines Beispiel für große Doppelmoral. Dafür, wie in Deutschland mit zweierlei Maß gemessen wird. Dafür, wie Justiz, Medien und viele Bürger auf bestimmte Straftaten mit aller Härte reagieren – während andere, schlimmere Taten mit Bewährung oder Verständnis quittiert werden.
Und weil es so viele solcher Fälle gibt, dachte ich: nicht überbewerten. Nicht noch ein Artikel. Nur ein kurzer Hinweis, ein Schlaglicht. Genug andere Themen.
Ich schrieb gestern auf Telegram, Facebook, X & Co:
Ex-Nationaltorwart Eike Immel bat in seiner Not immer wieder Bekannte um Geld – insgesamt 34.000 Euro – obwohl er längst pleite war und wusste, dass er es wohl nicht zurückzahlen kann. Das Gericht wertete das als Betrug und verurteilte ihn heute zu zwei Jahren und zwei Monaten Haft. In einem Land, in dem Kinderschänder und Gruppenvergewaltiger regelmäßig mit Bewährung davonkommen.
Falsche Tat.
Falscher Pass.
Falsche Hautfarbe.
Falscher Hintergrund.
Keine Lobby.
Kein Parteibuch*
* PS: Gegen den klammen Ex-CDU-Abgeordneten Dirk Fischer, der sich offenbar ganz ähnlich wie Immel verhielt, gibt es meines Wissens nicht einmal ein Strafverfahren. Vielleicht lag’s am richtigen Parteibuch. Oder an der richtigen Klientel. Willkommen im neuen „Rechtsstaat“. Nicht einmal Wikipedia erwähnt die Vorwürfe.
Naiv wie ich bin, dachte ich: Da ist jedem klar, worum es geht.
Bis ich die Kommentare las.
Dann fragte ich mich, ob es vielleicht vielen doch nicht klar ist.
Doch nach einigem Nachdenken wurde mir klar: Es ist ihnen vielleicht klarer, als ich denke – aber sie verdrängen es. Wir leben in einer Verdrängungsgesellschaft. Viele tun fast alles, um die Schmerzen, die die gruselige Realität auslösen würde, nicht spüren zu müssen. Und suchen sich Ersatzopfer.
Eike Immel ist so ein Ersatzopfer. Er erlaubt es, Härte zu zeigen, ohne dass es weh tut. Er erlaubt moralische Empörung ohne politische Brisanz. Und viele Kommentare klingen genau so:
„Für solche Leute habe ich kein Verständnis. Das hat nichts mit falschem Pass, falscher Hautfarbe oder sonstwas zu tun. Versager auf ganzer Linie.“
– Annerose Reuter
„Warum hat er keinen Beruf gelernt? Und wenn es Maurer wär. Sind die sich zu schade fürs Arbeiten?“
– Ulli Fischer
„Wer nicht hören will, muss fühlen.“
– Gottfried Ruediger
Das ist kein Rechtsstaatsdenken. Das ist psychologische Selbstberuhigung.
Klar kann man Immel viel vorwerfen. Dass er das Vermögen, das er als Fußballer verdient hat, wenn auch bei weitem noch nicht so viel wie spätere Generationen – wie andere Fußballer auch in den Sand gesetzt hat. Selbstverschuldet. Dass er dann seine Bekannten betrogen hat.
All das ist zu verurteilen.
Für all das ist eine Strafe gerecht.
Aber darum geht es gar nicht in meinem Tweet. Sondern um die Unterschiedlichkeit der Strafen. Denn wer leidet mehr – eines der Opfer von Immel, die zusammen 34.000 Euro Schaden erlitten haben. Oder ein minderjähriges Opfer einer Gruppenvergewaltigung?
Dass hier mit zweierlei Maßstäben gemessen wird, ist für jeden anständigen Menschen einfach unerträglich.
Und weil sie diesen Schmerz über unsere doppelte Standards nicht ertragen, schieben ihn manche offenbar beiseite, indem sie auf den zeigen, bei dem es keine Risiken gibt. Ähnlich wie Leser, die bei einem Skandal nicht über den Skandal sprechen – sondern sich in den Kommentaren darüber beklagen, dass irgendwo ein Komma fehlt oder ein Name falsch geschrieben wurde.
Hauptsache, man muss nicht über das Unangenehme reden.
Hauptsache, ablenken.
Und weil das so viele tun, sind wir in dem Schlamassel, das wir täglich erleben.
Und genau das macht den Fall Immel so bitter: Nicht das Urteil allein. Sondern der Jubel darüber. Die Lust an seiner Erniedrigung. Die Geschwindigkeit, mit der aus einem Scheitern ein Schuldspruch wurde – nicht nur juristisch, sondern sozial.
Vielleicht braucht jede Zeit ihre Sündenböcke. Ihre moralischen Alibis. Damit der Staat nicht zu unbequemen Themen Stellung nehmen muss. Und wir uns nicht fragen müssen, warum andere, bei schlimmeren Taten, laufen dürfen.
Wir regen uns lieber über Eike Immel auf als über vermeintlich „Schutzsuchende“, vor denen wir selbst keinen Schutz finden. Und die für brutale Gewalt gegen Frauen und Kinder mit Bewährungsstrafen davonkommen.
Wir schicken lieber die ins Gefängnis, bei denen es nichts kostet – und lassen laufen, wo es Mut bräuchte. Das ist keine Gerechtigkeit. Das ist Selbstbetrug.
Ersatzopfer statt echte Täter. Beruhigung statt Wahrheit. Die Folgen dieser Verdrängung sind – für jeden, der hinsieht – längst sichtbar. Doch das Erwachen bleibt aus, weil zu viele nicht hinschauen wollen. Wenn das Elend so groß wird, dass auch das stärkste Verdrängen nicht mehr hilft – und dieser Moment rückt näher –, wird das Erwachen sehr, sehr bitter. Und kommt zu spät.
Ballweg, Parfüm und eine Hundematte: Wie aus 19,53 Euro ein medialer Schuldspruch konstruiert wurde
„Nie wieder“ war gestern: Der Fall Leandros zeigt, wie moralische Säuberung wieder schick ist
Wurde der Ton beim Weidel-Interview manipuliert? ARD unter Verdacht – Tontechniker entlarvt?
Bild: Shutterstock.com
Bitte beachten Sie die aktualisierten Kommentar-Regeln – nachzulesen hier. Insbesondere bitte ich darum, sachlich und zum jeweiligen Thema zu schreiben, und die Kommentarfunktion nicht für Pöbeleien gegen die Kommentar-Regeln zu missbrauchen. Solche Kommentare müssen wir leider löschen – um die Kommentarfunktion für die 99,9 Prozent konstruktiven Kommentatoren offen zu halten.
Mehr zum Thema auf reitschuster.de
Ballweg-Prozess: Gericht und Staatsanwältin stehen immer nackter da
Eine Beamtin, die auf Zuruf im Interesse der Steuerfahndung handelt. Zeugen, die sich an nichts mehr erinnern wollen. Ballweg erzählt über die zahlreichen Ungereimtheiten und Absurditäten in seinem Fall. Von Kai Rebmann.
Bundesgerichtshof bestätigt Schuldspruch gegen Familienrichter Dettmar
Weil er in den strikten Corona-Maßnahmen an Schulen eine Gefährdung des Kindeswohls sah und diese deshalb aufhob, wurde der Mut-Richter aus Weimar verurteilt. Reitschuster.de war bei der Verkündung in Karlsruhe vor Ort. Von Kai Rebmann.
Soldat Alexander Bittner tritt nach Verhaftung in trockenen Hungerstreik
Während Straftäter wegen angeblich fehlender Haftplätze oft auf freiem Fuß bleiben, wurde ein langgedienter Soldat jetzt ins Gefängnis gesteckt. Sein „Verbrechen“: Er hat sich nicht impfen lassen. Jetzt hat sich der Fall dramatisch zugespitzt. Von Kai Rebmann.