• 3. August 2025

Ich wünschte, ich könnte sagen, dass ich diese Schlagzeilen ignoriere. Aber das kann ich nicht. Wegen meiner Arbeit muss ich mich regelmäßig durch Seiten wie bild.de quälen. Und da springt mir immer wieder dieser Irrsinn ins Gesicht. Heute zum Beispiel Serkan Yavuz, der offenbar vor der Hochzeit fremdging und damit prompt zur Topmeldung wird. Oder – ein etwas älteres Beispiel, das mir einfach nicht aus dem Kopf geht – eine gewisse Iris Klein, die dort gejazzt wird, als sei sie der neue Superstar. Jeder Seufzer wird groß aufgeblasen. Selbst das Löschen ihrer Katzenfotos in einem sozialen Netzwerk wird noch groß vermeldet – mit Schlagzeilen wie: “Iris Klein wieder allein: Katzen-Mama löschte Liebesfotos”. Kein Scherz.

Früher hätte man um solche Leute eher einen Bogen gemacht. Heute springen sie einen auf den Startseiten an. Laut, schrill, permanent im Selbstentblößungsgalopp. Was ist da passiert?

Die Antwort ist banal und doch beunruhigend: Wer sich freiwillig entblößt, ist juristisch einfacher zu verwerten. Denn durch mehrere Urteile der vergangenen Zeit – unter anderem vom Bundesverfassungsgericht – dürfen Medien wie “Bild” oder “Bunte” nicht mehr einfach so aus dem Privatleben echter Prominenter berichten. Der Persönlichkeitsschutz wurde gestärkt. Und das hat Folgen: Statt sich mit Abmahnungen, einstweiligen Verfügungen und Presserecht rumschlagen zu müssen, bedienen sich die Redaktionen nun bei Figuren, die ihre Intimsphäre regelrecht zum Geschäftsmodell machen. Das Resultat ist ein Billigsurrogat: ein Biotop aus Selbstvermarktern, gekränkten Egomanen, Möchtegerns und digitalen Exhibitionisten.

Dieses Biotop füllt seither die Lücke – mehr schlecht als recht, aber klickträchtig. Es liefert Drama, Tränen und Trash zum Nulltarif. Keine Klagen, keine Anwaltsbriefe, kein Pressekodex. Dafür eine mediale Dauerbeschallung, die das Pathologische zur Norm macht.

Denn genau das ist der gefährlichste Effekt: Die ständige Wiederholung entwertet den Ausnahmezustand. Narzisstische Inszenierung, soziale Instabilität und Beziehungstheater werden nicht mehr als Warnzeichen erkannt, sondern als Lifestyle etikettiert. Medien verhelfen Menschen zur Bekanntheit, die – wären sie nicht so laut – wohl eher im Wartezimmer der Gruppentherapie als im Fernsehen landen würden.

Natürlich war auch früher nicht alles besser. Auch damals schafften es Narzissten, Egomanen und Selbstdarsteller regelmäßig in die Schlagzeilen. Aber sie waren eingebettet in ein größeres Gefüge – dazwischen wurde eben auch noch über Menschen berichtet, die nicht nur durch Grenzüberschreitungen auffielen. Wobei eben viele von denen, über die man damals schrieb, gar nicht wollten, dass man über sie berichtet. Was für eine gewisse seelische Gesundheit spricht oder zumindest für weniger Exhibitionismus als bei den heutigen Surrogat-Stars. Die Einmischung in das Privatleben solcher Menschen war natürlich nicht gerecht – und gerade deshalb ist es richtig, dass der Schutz der Privatsphäre heute stärker ist.

Und ja, es liegt in der menschlichen Natur, sich für das Schrille, das Exzentrische, das Maßlose zu interessieren. Wahrscheinlich war das im alten Rom nicht anders – dort jubelte man eben Gladiatoren oder Kaisern zu, die sich durch Wahnsinn und Größenwahn hervortaten. Aber sie waren immerhin interessant in ihrem Irrsinn. Sie hatten eine Aura, ein Drama, manchmal sogar Format. Was uns heute entgegen schwappt, sind Parodien dieser Exzentrik – Sparvarianten ohne Tiefe, Witz oder Fallhöhe. Eine Kollektion aus tragikomischen Abziehbildern, die nicht faszinieren, sondern fremdschämen lassen.

Viele dieser Figuren sind letztlich Opfer von sich selbst – süchtig nach Aufmerksamkeit, getrieben von einer Bühne, die sie nicht mehr verlassen können. Eigentlich müssten sie von verantwortungsbewussten Journalisten vor sich selbst geschützt werden. Denn sie können die Tragweite dessen, was da mit ihnen passiert, oft gar nicht abschätzen. Sie sind wie auf Publicity-Droge – man denke nur an den Ex-Kranfahrer und Lotto-Millionär „Chico“, der seit über einem Jahr von der „Bild“ regelrecht zerfleddert wird – offenbar auf eigenen Wunsch und dabei selbst immer noch glücklich in die Kameras strahlend. Er merkt offenbar gar nicht, wie sehr er sich zur Karikatur macht – etwa wenn jetzt genüßlich darüber berichtet wird, dass er seine Ex-Freundin als „dreckiges Miststück“ und „Orang-Utan“ beschimpfte. Oder an Heiligabend, als er – offenbar sehr zur Freude der „Bild“-Journalisten, in die Kamera posaunte: „Ich schwöre auf meine Mutter, ich baller’ sie weg. Dieses dreckige Miststück, Alter. Verpiss dich!“

Will und muss man so was wissen und lesen?

Man möchte es verneinen – und klickt es doch, wie ich selbstkritisch anmerken muss. Aus beruflichem Interesse, redet man sich ein. Aber wenn man ehrlich ist, steckt meist Neugier dahinter. Oder einfach Gewohnheit. Und am Ende bleibt der bittere Nachgeschmack: Man hat sich wieder mit etwas beschäftigt, das man eigentlich verachtet – und sich dabei den Kopf mit Müll gefüllt. Freiwillig.

Und so ist das, was wir da heute als „Notersatz“ bekommen, eine gefährliche Versuchung. Und ein Rückschritt. Es ist eine schleichende Verflachung, eine Primitivisierung, ja ein Kultur- und Zivilisationsverlust. Ein Ersatzstoff mit Nebenwirkungen. Denn wenn die Lücke, die echte Persönlichkeiten hinterlassen haben, nun von einer schrillen Wimmelbild-Truppe aus Dauerbeleidigten, Enthemmten und Aufmerksamkeitsjunkies mit Kamera-Akku im Blut gefüllt wird, dann vergiftet das langfristig die ganze gesellschaftliche Atmosphäre.

Der Schaden geht weit über die Bildschirme hinaus. Denn wer mit solchen Vorbildern aufwächst, lernt, dass Aufmerksamkeit wichtiger ist als Haltung (im alten, nicht im neuen, pervertierten Wortsinn), dass Drama mehr zählt als Wahrheit, und dass es keine Scham gibt, solange es Klicks bringt. Die gesellschaftliche Balance verschiebt sich: Vom Sein zum Schein. Von Inhalt zu Inszenierung. Von Integrität zu Instagram.

„Was früher der Sonderling war, wird heute zum Vorbild gemacht“ – so könnte man den Zeitgeist in einem Satz beschreiben. Menschen, denen man auf der Straße ausweichen würde, trifft man heute in Hochglanz auf der Titelseite. Als wäre das Leben eine Casting-Show für die größten Grenzüberschreitungen.

Ich komme mir bei all dem inzwischen oft vor wie im falschen Film. Was soll das? Warum werden solche Leute überhaupt bekannt? Sie sind nicht spannend, nicht klug, nicht relevant – sondern einfach nur gruselig, langweilig oder verwirrend. Und vor allem leider allzu oft gestört.

Vielleicht ist das alles ein großer, ironischer Scherz. Aber falls ja, lacht das Publikum an der falschen Stelle. Und die nächste Generation lernt von den Falschen.

PS: Ich beneide jeden Leser, der nicht wie ich beruflich durch diesen Müll scrollen muss. Wer ihn nicht sieht, wird auch nicht verführt. Und wer sich ihm nicht aussetzt, behält einen klareren Kopf. Ich wünschte, ich könnte das auch. Und ich empfehle jedem, der es kann: Machen Sie einen weiten Bogen um diesen Wanderzirkus des Absonderlichen, Ihre geistige Gesundheit wird es Ihnen danken.

PPS: Im Russischen würde man für all das übrigens ein einziges Wort verwenden: „Kunstkamera“. Der Begriff stammt ursprünglich aus dem Deutschen und bezeichnete die von Zar Peter dem Großen gegründete Sammlung in Sankt Petersburg – ein Kuriositätenkabinett voller medizinischer Anomalien, Missbildungen und anderer Merkwürdigkeiten. Heute steht „Kunstkamera“ im russischen Sprachgebrauch sinnbildlich für alles Groteske, Abartige, bizarr Zur-Schau-Gestellte. Im Deutschen hat sich diese Bedeutung leider nie etabliert – schade eigentlich.

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