Ein Gastbeitrag von Thomas Rießinger
Helmut Schmidt soll vor langer Zeit geäußert haben, ein Politiker dürfe nicht lügen, müsse aber nicht alles sagen, was er wisse. Sollten diese Prinzipien jemals gültig gewesen sein, dann kann sich heute wohl kaum noch jemand daran erinnern. Aber einen weiteren Grundsatz hat Schmidt nicht erwähnt: Politiker sollten nicht allzu viel offensichtlichen Unsinn von sich geben.
Wieder einmal hat die SPD – früher bekannt als sozialdemokratische, heute wohl eher als spezialdemokratische Partei – gezeigt, dass jeder für etwas zu gebrauchen ist, und sei es als schlechtes Beispiel. Auf ihrer Webseite, wo sie ihre Abkürzung interpretiert als „Soziale Politik für Dich“ und schon so für den ersten Heiterkeitserfolg des Tages sorgt, hat sie eine Solidaritätsadresse für Frauke Brosius-Gersdorf platziert, in der sie über sich hinauswächst. „Es reicht!“ teilt man uns in der Überschrift mit großen Lettern mit, und in manch einem Leser mag eine leise Hoffnung keimen, man habe in der SPD wegen völliger politischer Unfähigkeit die Selbstauflösung beschlossen, doch diese Hoffnung trügt.
Denn die etwas plakative Überschrift wird sofort präzisiert: „Richterinnen werden diffamiert. Wahlhelferinnen bedroht. Abgeordnete eingeschüchtert.“ Man könnte sich an Richter Christian Dettmar erinnert fühlen, der zu Zeiten der sonderbaren PCR-Pandemie nach Recht, Gesetz und Vernunft urteilte und deshalb nicht nur diffamiert, sondern auch verurteilt wurde und sein Amt verlor, aber es muss sich ja um eine Richterin handeln, nicht um einen Richter. Man könnte an die Wahlkampfhelfer einer bestimmten Partei denken, die unter Linksgrünen nicht gut gelitten sind und sich immer wieder unschöner Angriffe erwehren müssen, aber es soll sich ja um Wahlhelfer handeln, das ist etwas anderes. Und man könnte an die Behandlung der Abgeordneten eben dieser Partei in den Parlamenten denken oder auch an die tätlichen Angriffe, denen viele von ihnen ausgesetzt waren und sind, doch das dürfte kaum im Sinne der Verfasser sein.
Was ist nun also gemeint? Die Propagandisten beeilen sich, es uns mitzuteilen. „Was wir erleben, ist keine Serie von Einzelfällen. Es ist eine gezielte Strategie: Rechte Netzwerke wollen die demokratischen Institutionen angreifen – von der Justiz über die Parlamente bis in die Mitte unserer Gesellschaft.“ Ja, Einzelfälle gibt es nur in Fällen migrantisch verursachter Gewalt, sonst muss man gleich von einer gezielten Strategie ausgehen. Doch wie seltsam: Sind es nicht die linken Netzwerke, die „die demokratischen Institutionen angreifen“? Zu oft hört man von eher seltsam anmutenden Gerichtsurteilen, bei denen Angehörige des linken oder auch migrantischen Spektrums milde, sehr milde behandelt werden, während Kritik an linken Regierenden zu Verfolgung und Inhaftierung führt. Und die Parlamente werden von den rechten Netzwerken angegriffen? Etwa, indem man rechtsstehenden Politikern während einer Rede ohne Rechtsgrundlage das Mikrofon abschaltet? Oder indem man sie in einem deutlich zu kleinen Fraktionssaal des deutschen Bundestages zusammenpfercht, nur damit die SPD-Abgeordneten ihren bequemen Gewohnheiten nachgehen können? Oder ist gar die Weigerung, irgendeinen Abgeordneten der AfD in das Amt des Vizepräsidenten des Bundestages zu wählen – ein Amt, das der Fraktion laut Geschäftsordnung zustünde – ein Zeichen für den rechten Angriff auf die Parlamente? Und was in aller Welt soll es bedeuten, dass rechte Netzwerke die demokratischen Institutionen „bis in die Mitte unserer Gesellschaft“ angreifen? Zumal man in der SPD-Zentrale nicht die leiseste Ahnung hat, was sich in dieser Mitte abspielt, da man davon schon lange meilenweit entfernt ist.
Aber es geht weiter und wird immer deutlicher. „Und sie tun das mit System. Mit Desinformation, mit Hass, mit Einschüchterung – oft befeuert von der Union, die rechte Narrative übernimmt, statt sich klar abzugrenzen.“ Um genau zu sein: Die Passage nach dem Gedankenstrich war am Morgen des 30. Juli noch zu lesen, im Verlauf dieses Tages hat man sie dann entfernt, weil wohl irgendjemandem aufgefallen ist, dass man sich zurzeit in einer Koalition mit den Unionsparteien befindet. Wenn nun aber eine „gezielte Strategie“ vorliegt, dann sollte es auch ein System geben, das mag für Sozialdemokraten neu sein, andere wussten es schon vorher. Doch immerhin werden sie jetzt begrifflich etwas konkreter: Desinformation, Hass und Einschüchterung sollen die Mittel der Wahl sein. So etwas kommt auf linker Seite natürlich niemals vor. Es war ja die reine Wahrheit, dass Olaf Scholz nichts mit dem Cum-Ex-Skandal zu tun hatte. Es war sicher ein Einzelfall, dass ein Grüner rechtsextreme Drohungen gegen sich erfunden hat. Es steckte überhaupt kein Hass dahinter, als der SPD-Abgeordnete Daniel Born ein Hakenkreuz auf einen Stimmzettel gemalt hat, oder als ein Vorsitzender der SED, die sich heute die Linke nennt, meinte, man werde die Reichen nicht erschießen, sondern zu nützlicher Arbeit einsetzen. Und was Einschüchterungen angeht, können Kandidaten nichtlinker Parteien ein Lied davon singen, schon die oben erwähnten Angriffe auf AfD-Politiker sprechen eine deutliche Sprache.
So ganz überzeugen konnte die Propaganda bisher also noch nicht, weshalb die Genossen sogleich einen Vorwurf an die Union folgen ließen, den sie, wie erwähnt, inzwischen gelöscht haben: Sie übernehme rechte Narrative, statt sich klar abzugrenzen. Narrative und ideologisches Gerede sind anscheinend alles, was man in der heutigen SPD noch kennt. Wenn aber beispielsweise nachweisbare Umstände die Kandidatur einer oder auch gleich zweier Juristinnen für das Bundesverfassungsgericht als eher zweifelhaft und nicht akzeptabel erscheinen lassen, dann hat man nicht Narrative übernommen, sondern die Positionen und Veröffentlichungen dieser Damen zur Kenntnis genommen und Folgerungen daraus gezogen.
Nach diesen wohlbegründeten Auslassungen, die nur aus dem Dreschen leeren Strohs bestehen, kommt die SPD-Propaganda zu einem glasklaren Schluss: „Doch wir sagen: Nicht mit uns.“ Darauf wären wir ja von alleine nicht gekommen. Sie sagen zu vielem „Nicht mit uns“, von der Begrenzung ungezügelter Migration bis hin zu Steuerentlastungen und einer vernünftigen Energiepolitik, da kommt es auf ein weiteres Mal nicht an. Aber sie wollen nicht alles im Negativen belassen, sondern erfreuen ihre Leser mit der fettgedruckten Mitteilung: „Wir stehen an der Seite von Menschen, die unsere demokratische Ordnung verteidigen“, um uns dann stehenden Fußes mitzuteilen, wen sie meinen. Zuerst geht es um „Richterinnen wie Frauke Brosius-Gersdorf“. Es gibt aber keine Richterinnen wie Frauke Brosius-Gersdorf, denn die ist keine Richterin, war es noch nie und wird es hoffentlich auch niemals werden. Bei der SPD hat man vielleicht Schwierigkeiten mit dem sinnerfassenden Lesen, weil man sich zu sehr mit Narrativen beschäftigt. Und womit sie die Demokratie verteidigt, hat sie selbst dokumentiert in ihren Thesen, die alle in die Richtung eines Staates zeigen, der seine Bürger als Steuerzahler betrachtet, deren Entscheidungsfreiheit ihn nur bei der Optimierung seiner Einnahmen stört.
Und weiter geht es im munteren Reigen der Demokratie-Verteidiger, nun spricht man über „Wahlhelferinnen wie Lavinia Esser“. Ich gebe zu: Die war mir bisher entgangen. Es handelt sich um eine inzwischen siebzehnjährige Wahlkampfhelferin der SPD aus Düsseldorf und sicher nicht um eine Wahlhelferin, denn darunter versteht man die Menschen, die beim Ablauf einer Wahl und bei der Auszählung der Stimmen helfen – das durfte sie bei der letzten Bundestagswahl mangels Volljährigkeit noch nicht. Auch sie hat, im Rahmen eines Artikels der WAZ, ihre Einstellung zur Demokratie klar zum Ausdruck gebracht: „Wie findet Lavinia Esser es, dass sie nicht wählen darf? „Auf der einen Seite finde ich es echt schade.“ Sie würde gerne ihre Partei auch mit ihren Kreuzchen unterstützen. „Auf der anderen Seite ist es schon richtig, weil viele in meinem Alter würden rechtsextreme Parteien wählen“, ist Lavinia Esser überzeugt. Ja, Demokratie funktioniert besonders gut, wenn man nur die wählen lässt, deren Ausrichtung in die eigene Ideologie passt.
Zum Schluss geht es in der Auflistung derer, die „unsere demokratische Ordnung verteidigen“, um „Wissenschaftlerinnen wie Ann-Katrin Kaufhold“. Ich hoffe im Interesse der Demokratie – nicht aber im Interesse „unserer Demokratie“, wie man sie bei der SPD versteht – , dass es nicht allzu viele Wissenschaftlerinnen wie Ann-Katrin Kaufhold gibt außer Kaufhold selbst. Ihre Hochschätzung der Demokratie kann man gar nicht oft genug betonen. „Ein häufig thematisiertes Defizit von Parlamenten mit Blick auf Klimaschutz ist die Tatsache, dass sie auf Wiederwahl angewiesen sind. In der Folge tendieren sie wohl dazu, unpopuläre Maßnahmen nicht zu unterstützen.“ Dagegen seien Zentralbanken und Gerichte „potenziell zwei sehr wirkmächtige Akteure des Klimaschutzes.“ Wahlen stören in einer Demokratie nur, wie gut, dass es Gerichte und Zentralbanken gibt!
Das sind die drei Verteidigerinnen der Demokratie, die der SPD am Herzen liegen, und die Propagandaabteilung lobt sie alle mit den Worten: „Sie stehen für Recht, Anstand und Freiheit. Wir stehen hinter ihnen.“ Wofür auch immer die drei stehen sollten – für Recht und Freiheit stehen sie nicht. Aber die SPD steht hinter ihnen. Das wird ihnen bei ihrem Kampf für „unsere Demokratie“ eine große Hilfe sein.
Mit „Es reicht!“ hat die SPD-Abteilung für peinliche Propaganda ihren Text eingeleitet, und das dürfte der einzige wahre Satz des gesamten Pamphlets sein. Ich will nicht behaupten, mehr Heuchelei habe es noch nie gegeben, denn das hieße, die Möglichkeiten der Politiker fahrlässig zu unterschätzen.
Aber auf der nach oben offenen Heuchelei-Skala macht sich die SPD ausgesprochen gut.
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Thomas Rießinger ist promovierter Mathematiker und war Professor für Mathematik und Informatik an der Fachhochschule Frankfurt am Main. Neben einigen Fachbüchern über Mathematik hat er auch Aufsätze zur Philosophie und Geschichte sowie ein Buch zur Unterhaltungsmathematik publiziert.
Bild: T. Schneider / Shutterstock.com
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