• 9. Juli 2025
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Zuerst habe ich die Meldung für einen schlechten Witz gehalten. Vielleicht für eine Übertreibung, eine schlechte Interpretation, einen verzerrten Ausschnitt aus einer hitzigen Debatte.

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Da stand: Bundestagspräsidentin Julia Klöckner hat verboten, dass man sich im Parlament gegenseitig der Lüge bezichtigt. Wirklich? In einem Parlament? In einem Raum, der vom Streit lebt? Vom Widerspruch? Vom Zweifel? Ich dachte, ich sei auf dem falschen Dampfer. Und dann habe ich mich eingelesen.

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„Focus Online“ berichtet völlig ungerührt, ja fast bewundernd, über Klöckners Auftritt. Als der AfD-Abgeordnete Kay Gottschalk über die Halbwertszeit von Aussagen von Friedrich Merz spricht und der Linken-Politiker Dietmar Bartsch den Haushalt als „auf Unwahrheiten gebaut“ bezeichnet, erteilt Klöckner jeweils einen Ordnungsruf. Ihre Begründung: „Auch wenn man anderer Meinung ist, bezichtigen wir uns hier nicht persönlich der Lüge.“

SEDO

Später legt sie nach und sagt: „Ich weiß nicht, ob das ein kognitives Problem ganz rechts und links hier im Haus ist.“ Und dann die Drohung: Wer ihre Sitzungsleitung infrage stelle oder weiterhin andere als Lügner bezeichne, kassiere einen Ordnungsruf. Basta.

Dabei drängt sich mir ein ganz anderer Eindruck auf: Wenn hier jemand unter kognitiver Dissonanz leidet, dann ist es der polit-mediale Komplex, in dem Wahrheit und Wirklichkeit immer häufiger auseinanderfallen. Oft auf geradezu groteske, ja obszöne Art und Weise. Das ist meine Meinung. Frau Klöckner mag das umgekehrt sehen – das ist ihr gutes Recht. Aber in einer Demokratie – und erst recht in einem Parlament – müssen alle das Recht haben, auszusprechen, wie sie das sehen.

Was mich wirklich erschüttert: Kaum jemand im polit-medialen Komplex scheint es zu bemerken. „Focus Online“ bringt die Szene, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, ja ein Meilenstein der Demokratie („knallharte Warnung an die Linke und die AfD“). Kein empörter Kommentar, keine kritische Nachfrage. Kein Vergleich zu früheren Zeiten, zu früheren Präsidenten, zu früheren Regeln.

Dabei wäre genau das jetzt nötig. Denn was hier passiert, ist keine Petitesse der parlamentarischen Etikette. Es ist ein Frontalangriff auf die demokratische Debattenkultur. Wer die Lüge nicht mehr Lüge nennen darf, der darf auch die Wahrheit nicht mehr einfordern.

Im britischen Unterhaus darf man sich gegenseitig der „terminological inexactitude“ bezichtigen – ein herrlich britischer Euphemismus für Lüge. In den USA nennt man das „lying“. Überall ist klar: Wer Politiker kontrollieren will, muss sie konfrontieren dürfen. Auch hart. Auch mit Worten, die unangenehm sind. Auch mit dem Verdacht, dass etwas nicht nur falsch, sondern absichtlich falsch ist.

Klöckner dagegen spricht nicht wie eine neutrale Sitzungsleiterin, sondern wie eine Parteisoldatin. Sie schaltet sich selektiv ein, verbittet sich Kritik und verteilt Ordnungsrufe wie Strafzettel auf dem Koalitionsparkplatz. Und schlimmer noch: Sie merkt offenbar gar nicht, wie autoritär sie klingt. Und offenbar auch denkt.

Denn das ist ja das eigentlich Erschreckende. Dass diese autoritäre Verschiebung schon so tief verinnerlicht ist, dass sie gar nicht mehr auffällt. Dass Medien wie Focus Online darüber berichten, als ginge es um ein Wetterleuchten in der Sommerpause. Dass niemand fragt: Seit wann darf man im Bundestag nicht mehr sagen, dass man belogen wird?

Gerade in einer Zeit, in der die Lüge allgegenwärtig geworden ist. In der Regierungen sich in Widersprüche verwickeln, in der Erinnerungslücken als Strategie dienen, in der Wahlversprechen weniger Halbwertszeit haben als ein Joghurt im Hochsommer. Ausgerechnet jetzt sollen Abgeordnete schweigen, wenn sie den Eindruck haben, es wird gelogen?

Was kommt als Nächstes? Ein Ordnungsruf für das Wort „Heuchelei“? Ein Rüge für den Begriff „Doppelmoral“?

Ein Parlament, das sich selbst den Mund verbietet, ist nicht mehr frei. Es ist kontrolliert, dressiert, auf Linie gebracht. Und das ist kein Ausrutscher – es ist Teil eines größeren Trends, den man nur noch als DDRisierung bezeichnen kann.

Ich weiß: Die Vergleiche (wohlgemerkt keine Gleichsetzungen!) mit der DDR nerven. Manche Leser schalten ab, wenn ich sie bringe. Glauben Sie mir, mich selbst nervt er am meisten. Aber vielleicht gerade deshalb muss man sie bringen. Weil das, was sich hier in gewissen Denkweisen und Strukturen ähnelt, so vertraut wirkt für alle, die es schon einmal erlebt haben. Die Verwechslung von Regierung mit Wahrheit. Die Unterdrückung abweichender Meinungen. Die Bevormundung durch ein selbstgerechtes Kollektiv.

Angela Merkel, die frühere FDJ-Sekretärin für Agitation und Propaganda, hat diesen Ton schon vor Jahren gesetzt. Nicht direkt, sondern langsam, atmosphärisch, wie Gift, das man in minimalen Dosen verabreicht – bis das Zielobjekt irgendwann kippt. In ihrer Welt war nicht, was war – sondern was sein durfte. Klöckner macht nun weiter, was Merkel vorgezeichnet hat: Nicht das Argument zählt, sondern Dogma, Linientreue und „Haltung“ – das, was man früher als „gefestigten Klassenstandpunkt“ bezeichnete. Und wer widerspricht, wird gemaßregelt.

Was bleibt, ist ein Bundestag, der sich selbst kastriert. Und eine Gesellschaft, die das hinnimmt. Vielleicht aus Bequemlichkeit. Vielleicht aus Angst. Oder einfach, weil sie es nicht mehr merkt.

PS: Ein Freund hat mir nach Erscheinen dieses Textes geschrieben, der Vorwurf der Lüge sei in den meisten Parlamenten ohnehin verboten. Stimmt das? Formal ja – zumindest dann, wenn er als direkte Beleidigung formuliert ist. In vielen Parlamenten darf man nicht sagen: „Sie sind ein Lügner.“ Aber das ist nicht der Punkt.

Demokratische Debatte lebt davon, dass Aussagen hinterfragt, bezweifelt, widersprochen werden dürfen. „Diese Aussage ist falsch“ oder „Dieser Haushalt basiert auf Unwahrheiten“ – das ist keine Beleidigung, das ist parlamentarische Kontrolle. In Deutschland war das bisher selbstverständlich. Was Julia Klöckner nun macht, ist deshalb etwas anderes: Sie untersagt pauschal jeden Lügenvorwurf, selbst wenn er sachlich und konkret begründet ist – und droht mit Ordnungsrufen. Das ist keine Etikette, das ist eine neue Form von Zensur.

Und ausgerechnet in einer Zeit, in der Lügen zu Regierungsstrategie geworden sind.

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Bild: Juergen Nowak / Shutterstock.com

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