• 19. Juni 2025

Menschenrechtskommissar sieht Unterdrückung von Anti-Israel-Demos in Deutschland

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Juni 19, 2025
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Herr Alexander DOBRINDT
Bundesminister des Innern
Straßburg, 6. Juni 2025

Sehr geehrter Herr Minister,

mein Mandat besteht darin, die wirksame Einhaltung der Menschenrechte in allen Mitgliedstaaten des Europarates zu fördern. Ein wichtiger Teil meiner Arbeit besteht darin, einen Dialog mit den Regierungen und Parlamenten der Mitgliedstaaten zu führen und sie bei der Beseitigung möglicher Mängel in ihren Gesetzen und Praktiken zu unterstützen.

Ich schreibe im Zusammenhang mit Maßnahmen der deutschen Behörden, die das Recht auf freie Meinungsäußerung einschränken und die friedliche Versammlungsfreiheit von Personen, die im Zusammenhang mit dem Konflikt in Gaza protestieren.

Friedliche Versammlungsfreiheit

Soweit ich weiß, haben die Berliner Behörden seit Februar 2025 Beschränkungen für die Verwendung der arabischen Sprache und kultureller Symbole im Rahmen der Proteste erlassen. In einigen Fällen, wie z.B. einer Versammlung in Berlin am 15. Mai 2025, wurden Demonstrationen auf stationäre Versammlungen beschränkt.

Darüber hinaus wurden die Demonstranten angeblich online oder persönlich überwacht und willkürlichen Polizeikontrollen unterzogen.

Ich bin auch besorgt über Berichte über die übermäßige Anwendung von Gewalt durch die Polizei gegen Demonstranten, einschließlich Minderjähriger, die manchmal zu Verletzungen führt. Die Anwendung von Gewalt durch Strafverfolgungsbeamte, auch bei Protesten, muss den Grundsätzen der Nichtdiskriminierung, der Rechtmäßigkeit, der Notwendigkeit und der Verhältnismäßigkeit sowie der Vorsorge entsprechen.

Vorfälle von übermäßiger Gewaltanwendung müssen wirksam untersucht werden, die Verantwortlichen sollten in angemessener Weise bestraft und die Opfer über mögliche Rechtsmittel informiert werden. Um die Rechenschaftspflicht zu erleichtern, sollten die Ordnungskräfte bei Versammlungen stets einen sichtbaren und leicht erkennbaren Ausweis tragen, was Berichten zufolge bei einigen der jüngsten Demonstrationen nicht immer der Fall war.

Außerdem muss ich feststellen, dass Proteste am Nakba-Gedenktag, insbesondere in Berlin, seit Jahren unterdrückt werden. Im Jahr 2024 zum Beispiel wurden die Proteste Berichten zufolge mit übermäßiger Gewaltanwendung durch die Polizei beantwortet, was zu Festnahmen und Verletzungen unter den Teilnehmern führte. Friedliche Demonstranten wurden Berichten zufolge festgenommen, und auf Unterstützungsbekundungen für Palästina wurden strafrechtliche Bestimmungen angewandt.

Ich möchte Sie auf die Leitlinien für friedliche Versammlungen aufmerksam machen, die von der Europäischen Kommission für Demokratie durch Recht (Venedig-Kommission) und dem OSZE-Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte (OSZE/BDIMR) erstellt wurden.

Darin wird dargelegt, dass inhaltliche Beschränkungen von Versammlungen einer strengen Prüfung unterzogen werden müssen: Die Freiheit, sich friedlich zu versammeln, schützt auch Demonstrationen, die Personen verärgern oder beleidigen können, die gegen die Ideen oder Forderungen sind, für die sie werben wollen.

Alle Maßnahmen, die in die Versammlungs- und Meinungsfreiheit eingreifen, sofern es sich nicht um Aufstachelung zur Gewalt oder Ablehnung demokratischer Grundsätze handelt, erweisen der Demokratie einen Bärendienst und können sie sogar gefährden.

Freie Meinungsäußerung

Einschränkungen der freien Meinungsäußerung wurden Berichten zufolge unter anderem an Universitäten, Kunst- und Kultureinrichtungen und Schulen festgestellt. Darüber hinaus soll es Versuche gegeben haben, ausländische Staatsangehörige im Zusammenhang mit ihrer Teilnahme an Protesten und anderen Formen der Meinungsäußerung zum Konflikt in Gaza auszuweisen.

Mir ist bekannt, dass Beschränkungen mit der Begründung gerechtfertigt werden, dass Veranstaltungen, Symbole oder andere Ausdrucksformen „die öffentliche Ordnung“ oder „den öffentlichen Frieden“ stören. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gilt das Recht auf freie Meinungsäußerung „nicht nur für ‚Informationen‘ und ‚Ideen‘, die positiv aufgenommen werden, als harmlos gelten oder gleichgültig lassen […] – es impliziert Pluralismus, Toleranz und Offenheit, ohne die es keine ‚demokratische Gesellschaft‘ gibt“.

Bei der Beurteilung der Notwendigkeit des Eingriffs haben die Mitgliedstaaten nur wenig Spielraum, um Beschränkungen für politische Äußerungen oder für Debatten über Angelegenheiten von öffentlichem Interesse zu verhängen, es sei denn, die geäußerten Ansichten enthalten Aufrufe zu Gewalt. Sie müssen eine solche Beurteilung immer von Fall zu Fall vornehmen.

Ich stelle fest, dass andere Rechtfertigungen für die Einschränkungen der Rechte die Verhinderung von Antisemitismus beinhalten. Mit Besorgnis nehme ich Berichte zur Kenntnis, wonach die Arbeitsdefinition von Antisemitismus der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) von einigen deutschen Behörden in einer Weise ausgelegt wird, die dazu führt, dass Kritik an Israel pauschal als antisemitisch eingestuft wird.

In diesem Zusammenhang fordere ich Sie auf, darauf zu achten, dass die Arbeitsdefinition der IHRA nicht verzerrt, instrumentalisiert oder falsch angewandt wird, um die freie Meinungsäußerung und legitime Kritik, auch am Staat Israel, zu unterdrücken.

Ganz allgemein bieten die Rechtsprechung des Gerichtshofs und die Standards und Leitlinien des Europarats zur Freiheit der Meinungsäußerung, zu Hassreden und Hassverbrechen (u. a. die Empfehlung CM/Rec(2022)16 des Ministerkomitees an die Mitgliedstaaten zur Bekämpfung von Hassreden und die ECRI-Empfehlung Nr. 15 zur Bekämpfung von Hassreden) den notwendigen Rahmen für die Abwägung von Beschränkungen, die den Grundsätzen der Rechtmäßigkeit, Notwendigkeit, Verhältnismäßigkeit und Nichtdiskriminierung entsprechen müssen.

Abschließend möchte ich daran erinnern, dass die Mitgliedstaaten sowohl verpflichtet sind, von unzulässigen Eingriffen in die Menschenrechte abzusehen, als auch positive Verpflichtungen haben, diese Rechte zu schützen, indem sie sicherstellen, dass jeder auf allen Regierungsebenen in den Genuss dieser Rechte kommt.

Ich bitte Sie daher höflich, die Rechte auf freie Meinungsäußerung und friedliche Versammlung für alle zu gewährleisten und von Maßnahmen abzusehen, die Personen aufgrund ihrer politischen oder sonstigen Meinung, ihrer Religion oder Weltanschauung, ihrer ethnischen Herkunft, ihrer Nationalität oder ihres Migrationsstatus diskriminieren.

Ich bin bereit, unseren konstruktiven Dialog über diese und andere Menschenrechtsfragen in Deutschland fortzusetzen.

Mit freundlichen Grüßen,
Michael O’Flaherty

Mr. Alexander DOBRINDT
Federal Minister of the Interior
Strasbourg, 6 June 2025

Dear Minister,
My mandate is to foster the effective observance of human rights in all member states of the Council of Europe. An important part of my work is to engage in dialogue with the governments and parliaments of member states, and to assist them in addressing possible shortcomings in their laws and practices.

I write in relation to measures taken by the German authorities that restrict freedom of expression and freedom of peaceful assembly of persons protesting in the context of the conflict in Gaza.

Freedom of peaceful assembly

It is my understanding that since February 2025, the Berlin authorities have imposed restrictions on the use of the Arabic language and cultural symbols in the context of the protests. In some cases, such as an assembly in Berlin on 15 May 2025, marches have been restricted to stationary gatherings. Furthermore, protestors were allegedly subject to intrusive surveillance, online or in person, and arbitrary police checks.

I am also concerned by reports of excessive use of force by police against protesters, including minors, sometimes leading to injuries. The use of force by law enforcement officials including during protests must comply with the principles of non-discrimination, legality, necessity and proportionality, and precaution. Incidents of excessive use of force need to be effectively investigated, those responsible should be sanctioned in an appropriate manner and victims should be informed about possible remedies. To facilitate accountability, law enforcement officials should always display a visible and easily recognisable form of identification during assemblies, which reportedly has not always been the case during some of the latest demonstrations.

I further have to observe that over a number of years protests on Nakba commemoration day, particularly in Berlin, have been suppressed. For instance, in 2024, protests were reportedly met with excessive use of force by the police, resulting in arrests and injuries among participants. Peaceful protesters were reportedly arrested, and criminal law provisions were applied to expressions of support for Palestine.

I draw your attention to the Guidelines on Peaceful Assembly prepared by the European Commission for Democracy through Law (Venice Commission) and the OSCE Office for Democratic Institutions and Human Rights (OSCE/ODIHR). They outline that content-based restrictions on assembly must be subject to the most serious scrutiny: freedom of peaceful assembly also protects demonstrations that may annoy or cause offence to persons opposed to the ideas or claims that it is seeking to promote.

Any measures interfering with freedom of peaceful assembly and expression other than in cases of incitement to violence or rejection of democratic principles do a disservice to democracy and may even endanger it.

Freedom of expression

Restrictions on freedom of expression have also reportedly been identified in such contexts as universities, arts and culture institutions, and schools. Furthermore, allegedly there have been attempts to deport foreign nationals in relation to their participation in protests and other forms of expression regarding the conflict in Gaza.

I understand that restrictions have been justified on the basis that events, symbols, or other forms of expression “disrupt public order” or “disturb public peace”. The case-law of the European Court of Human Rights’ (the Court) establishes that freedom of expression “applies not only to ‘information’ and ‘ideas’ that are favourably received, regarded as inoffensive, or which leave one indifferent […] – it implies pluralism, tolerance and openness, without which there is no ‘democratic society’”. In assessing the necessity of the interference, member states have little scope to impose restrictions on political speech or on debate on matters of public interest, unless the views expressed comprise incitements to violence, and must always carry out such an assessment case by case.

I observe that other justifications invoked for the restrictions on rights include the prevention of antisemitism. I note with concern reports indicating that the working definition of antisemitism of the International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) has been interpreted by some German authorities in ways which lead to the blanket classification of criticism of Israel as antisemitic. In that regard, I urge you to be vigilant that the IHRA working definition is not distorted, instrumentalised or misapplied to stifle freedom of expression and legitimate criticism, including of the state of Israel.

More generally, the Court’s case law and the Council of Europe standards and guidance on freedom of expression, hate speech and hate crime (among others, Recommendation CM/Rec(2022)16 of the Committee of Ministers to member States on combating hate speech and, ECRI General Policy Recommendation N°15 on Combatting Hate Speech), provide the necessary framework for calibrating restrictions which must respect the principles of legality, necessity, proportionality and non- discrimination.

In conclusion, I recall that member states have both an obligation to refrain from undue interference with human rights and also positive obligations to safeguard these rights by securing their effective enjoyment for everyone, at all levels of government. I therefore respectfully ask you to ensure the rights  to freedom of expression and peaceful assembly for all and to refrain from measures that discriminate against persons based on their political or other opinion, religion or belief, ethnic origin, nationality or migration status.

I stand ready to continue our constructive dialogue on this and other human rights issues in Germany.
Yours sincerely,
Michael O’Flaherty

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Author:
Alexander Wallasch

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