• 7. Juni 2025

Brüche machen Helden: Warum Krisen die wahren Hoffnungsträger formen

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Juni 7, 2025

Gestatten Sie mir bitte, ein paar Gedanken mit Ihnen zu teilen, die mich beschäftigt haben. Ich habe mir gestern Abend mit Blick auf die besorgniserregende Entwicklung zwischen Trump und Musk – aber auch nachdenklich geworden nach meinem Interview mit Martin Sellner – mal ein paar Biografien von Leuten angeschaut, die in den letzten Jahren zu Hoffnungsträgern geworden sind.

Auf der Suche nach Gemeinsamkeiten ist mir aufgefallen, dass viele von ihnen Brüche in ihren Biografien haben, die eine Veränderung ausgelöst und besonderen Anteil daran haben, dass hier ein kritischer Blick verschärft wurde.

Menschen sind seit jeher von Lebensgeschichten fasziniert, die von Brüchen geprägt sind. Das können abrupte Veränderungen, Wendepunkte oder Krisen sein, die das Denken, Handeln und die Wahrnehmung einer Person nachhaltig verändern.

Natürlich: Viele scheitern und zerbrechen. Andere wachsen aber daran und erweitern ihren Blickwinkel. Sie werden auf besondere Weise resilienter dem Leben gegenüber. Resilienz ist keine angeborene Eigenschaft, sondern wächst an der Bewältigung von Herausforderungen und Krisen.

Warum passiert den einen, was den anderen verwehrt bleibt?

Ich sprach mal mit einem über neunzigjährigen Nachbarn, der noch regelmäßig seinen Rucksack packte und auf den Brocken stieg. Wirklich kein Spaziergang, wer es schon mal gemacht hat. Ich fragte den Alten damals, was er in seinem Leben richtig gemacht hat. Aber anstatt mir etwa Ernährungs- und Gesundheitstipps zu geben, berichtete er von Krieg und Kriegsgefangenschaft. Viele Kameraden seien damals daran zerbrochen, aber diejenigen, die es überlebten, seien später nicht mehr so einfach zu brechen gewesen.

Ich erinnere mich: Das klang mir damals noch sehr nach Darwinismus. Aber ich kenne es auch aus der eigenen Familie. Unsere 97-jährige Tante hat Schreckliches in Krieg und Flucht erlebt. Ihre Lebensführung war und ist danach immer ein Vorbild.

Aber es wäre zu einfach, festzustellen, dass Leid und Schmerzen der einzige Weg sein können hin zu Erkenntnis oder Weisheit. Nein, das kann man seinen Kindern nicht empfehlen. Aber Eltern wissen es instinktiv dennoch genau: Wer seinen Kindern alles abnimmt, sie nicht selbstständig Krisen durchlaufen lässt, der raubt ihnen die wichtige Erfahrung: Ich schaffe das allein!

Ich ging gestern Abend schlafen mit dem Nachdenken über Brüche und wachte mit Kopfschmerzen auf. Ich hatte mir fest vorgenommen, heute darüber zu schreiben. Ich hoffe, es klingt jetzt nicht zu sehr nach einer Brigitte-Kolumne.

Beim Schreiben wuchs die Überzeugung: Brüche im Leben sind nicht selten Ausgangspunkt für eine Verschärfung des kritischen Blicks, der Menschen zu Hoffnungsträgern macht, sei es in der Vergangenheit oder in der Gegenwart.

Welche Beispiele kann ich nennen? Im persönlichen Medienumfeld fallen mir spontan Julian Reichelt oder Roland Tichy ein. Persönlichkeiten der Gegenwart, deren Lebensläufe Wendepunkte aufweisen und die sich anschließend neu erfunden haben. Oder auch Dr. Friedrich Pürner, der früher Leiter eines Gesundheitsamtes war und heute als EU-Abgeordneter im Europaparlament sitzt. Und das sicher nicht, weil er diese Rolle seit Jahrzehnten angepeilt und darauf hingearbeitet hätte.
Dr. Pürner hat bis heute einen Tweet von Anfang 2023 an seinem X-Account angeheftet, der den Moment des Bruchs in seiner Biografie beschreibt:

„Nach diesem Interview enthob man mich meines Amtes. Politiker & Vorgesetzte fühlten sich wohl davon bedroht. Ihr Kurs war ein anderer – flach, wie man nun sieht. Meine fachliche Einschätzung gab mir schon damals recht. Aufarbeitung, Entschuldigung & Rehabilitierung sind angebracht.“

Hier fällt mir ein Unterschied auf: Manche Brüche kommen von außen über einen, andere basieren auf einer persönlichen Entscheidung und folgen oft einem langen Ringen bis zu dem Punkt, wo man für sich eine endgültige Entscheidung trifft. Das hört man beim Scheitern von Beziehungen und Ehen übrigens öfter von Frauen als von Männern. Woran liegt das nun wieder? Oder ist das nur in meinem Bekanntenkreis so?

Grundsätzlich geht es immer um Neuausrichtung. Etwa nach dem Verlust eines Arbeitsplatzes, einer politischen Desillusionierung, einem moralischen Dilemma oder schlicht im Zuge eines gesellschaftlichen Wandels, der die eigenen Überzeugungen infrage stellt. Man denke nur an die Wende und Millionen von DDR-Bürgern, die allesamt den Bruch ihres Lebens durchlitten. Mit einem Unterschied: Es traf alle gemeinsam und viele gleichermaßen.

Brüche sind Ereignisse, die Sicherheit und Kontinuität des Betroffenen bedrohen. Bittet man Ältere um Rat, klingen deren Antworten mitunter sehr banal. Aber womöglich sind Ratschläge am Ende eines gelebten Lebens auch besonders unkompliziert und wahr. Goldstücke!

Ich erinnere mich gut, dass die 97-jährige Tante bei beruflichen Veränderungen, die mich – insbesondere als vielfacher Familienvater – auch mal unsicher zurückließen, einen zunächst banal erscheinenden Ratschlag aus der Tasche zog: „Es kommt immer etwas Neues.“

Rückblickend weiß ich, dass das auch ein sehr tröstender Blickwinkel sein kann. Denn es ist nicht nur so dahingesagt, es stimmt! Und wenn ich auf das Leben der Tante schaue, besonders auf die einschneidenden Kriegserlebnisse, auf das große Glück des Überlebens, dann ist diese für manche banal klingende Weisheit womöglich die Essenz des Lebens: Es kommt immer etwas Neues! Das erinnert an eine noch größere Banalität: „Das Leben geht weiter.“ Ein Satz, der auf jene gemünzt ist, die noch da sind, die etwas durchlitten haben.

Meine Generation musste nicht viel durchleiden. Unsere Kriege kamen meistens aus dem Inneren heraus. Keine Naturkatastrophen, keine Schützengräben, immer weniger schwerwiegende Krankheiten. Die Väter gingen nicht im Krieg verloren, sondern ganz banal durch Scheidungen. Gleichaltrige blieben nicht an der Front zurück im letzten Aufgebot, sondern starben an einer Überdosis.

Die großen Dramen unserer Generation entstanden erst in der Fantasie. Aus der Abwesenheit von Krieg und Leid entwickelte sich eine Urangst vor Krieg und Leid. Denn die, die ihn durchlitten hatten, waren ja noch da und konnten berichten. Das war der Beginn dieser bis heute anhaltenden großen Apokalypse-Sehnsucht. Die Weltzerstörung stand immer und unmittelbar bevor: Vom Atomtod bis hin zur Klimakatastrophe.

Brüche zwingen Menschen, ihre Werte, Ziele und Handlungen zu überdenken, was häufig zu einer Verschärfung des kritischen Blicks führt – einer Fähigkeit, etablierte Narrative, Machtstrukturen oder gesellschaftliche Normen zu hinterfragen. Das Unmittelbare ist das absolut Wirkmächtige. Ohne Brüche muss das Zwingende erdacht werden. Ist das vielleicht sogar die Geburtsstunde lebensferner Ideologien?

Wie sieht das in unserer unmittelbaren Umgebung aus? Julian Reichelt, ehemaliger Chefredakteur der Bild-Zeitung, ist eine prominente Figur der Gegenwart, deren Biografie einen klaren Bruch aufweist. Sein Abgang von Bild im Jahr 2021 markierte für ihn einen entscheidenden Wendepunkt. Dieser Bruch führte nicht zur Rückkehr in die Anonymität, sondern zu einer Neuerfindung: Reichelt gründete „Nius“ und positionierte sich als unabhängiger Journalist, der gegen den „Mainstream“ und Zensur und für Meinungsfreiheit kämpft.

Roland Tichy, Gründer des Onlinemagazins „Tichys Einblick“, ist eine weitere Figur, deren Lebenslauf Brüche aufweist, die seinen kritischen Blick prägten. Als ehemaliger Chefredakteur der „Wirtschaftswoche“ war Tichy ein geschätzter etablierter Akteur im deutschen Journalismus. Newsroom titelte dann 2014: „Warum Tichy gefeuert wurde, obwohl Meckel nichts kann.“

Auf diesen einschneidenden Bruch für Tichy folgte die Entscheidung, ein eigenes Medium zu gründen, das Themen anspricht, die laut Tichy in den Mainstream-Medien unterbelichtet bleiben. Dieser Schritt war eine Reaktion auf die von ihm wahrgenommene Linksverschiebung der Medienlandschaft und die Einschränkung der Meinungsfreiheit. Aber erst der Bruch setzte jene ungeahnten Kräfte frei, die es immer braucht, etwas noch Größeres zu schaffen:

Aus der Abkehr von einer sicheren Karriere in etablierten Medien – zur Entwicklung einer über Jahre hinweg angegriffenen und verfolgten, aber stetig wachsenden Plattform, die heute, zehn Jahre später, die Begehrlichkeiten jener Mainstream-Medienmacher weckt, die langsam erkennen, was da in ihrem Windschatten entstanden ist und was ihre Deutungshoheit zunehmend bedroht.

Das bringt uns zu Ulf Poschardt. Eine Sonderrolle spielt der Herausgeber der „Welt“. Brüche in seiner Biografie sind nicht erkennbar, dennoch hat er eine erstaunliche Wende letztlich hin zum Kritiker der eigenen Rolle hingelegt. Hier wird der Bruch selbst provoziert, so, wie es moderne Therapeuten empfehlen. So gesehen könnte Poschardt sogar der Klügste von allen sein. Die Impfung mit einem Todimpfstoff gewissermaßen: Der Bruch wird nur simuliert, aber überstanden und zu neuem Wachstum genutzt.

Aber es gibt ein noch viel prominenteres und aktuelleres Beispiel für einen weitreichenden Bruch oder gleich für eine Folge von Brüchen. Elon Musk: Der Tech-Milliardär, dessen öffentliche Rolle sich durch den Kauf von X und seine zunehmend konservativen Positionen wandelte, wird als Verteidiger der Meinungsfreiheit gefeiert. Er schaffte es bis in die US-Regierung und zum persönlichen Freund des Präsidenten. Was dann folgte, war ein besonders intensiver Bruch, der in massiven gegenseitigen Angriffen mündete und zu einem Rosenkrieg vor der versammelten Weltöffentlichkeit. Hier sind übrigens keine unvorhergesehenen Ereignisse von außen ausschlaggebend gewesen.

Die weltbekannte Autorin J.K. Rowling ist auch so ein Beispiel. Der kritische Blick auf Genderpolitik führte zu einem Bruch in ihrer öffentlichen Wahrnehmung und machte sie zu einer umstrittenen Figur.

Musk wie J.K. Rowling verbindet etwas: Es ist die Erfahrung, dass biografische Brüche – seien es berufliche Rückschläge, öffentliche Kontroversen oder ideologische Wenden – ihren kritischen Blick schärften und sie zu Hoffnungsträgern für bestimmte gesellschaftliche Gruppen machten.

Brüche in Biografien sind deshalb so wertvoll, weil sie die starre Kontinuität des Lebens aufbrechen und Raum für Reflexion schaffen. Es gibt darüber keine Statistiken: Möglicherweise scheitern Brüche öfter, als dass daraus etwas Größeres erwächst. Aber wenn es passiert, dann ist der Bruch die neuralgische Stelle jeder Biografie – der Kipppunkt.

Brüche zwingen dazu, Werte und Handlungen zu hinterfragen. Das wiederum schärft den kritischen Blick. Er markiert die Fähigkeit, mit etablierten Narrativen, Machtstrukturen und gesellschaftlichen Normen zu brechen, wenn sie als schädlich erkannt wurden.

In der kritischen Theorie, wie sie etwa von den von links kommenden Theodor W. Adorno oder Oskar Negt vertreten wird, wird ein solcher Blick als Voraussetzung für gesellschaftliche Veränderung gesehen.

Brüche machen Menschen zu Hoffnungsträgern, weil sie Authentizität und Resilienz vermitteln. Figuren wie Reichelt oder Tichy, die nach beruflichen oder öffentlichen Krisen neue Wege einschlugen, werden von ihren Anhängern als Kämpfer gegen einen vermeintlich übermächtigen Mainstream wahrgenommen. Beide müssen sich heute in einem Umfeld behaupten, in dem Aufmerksamkeit und Reichweite oft wichtiger sind als argumentative Tiefe. Dies macht ihren kritischen Blick noch einmal gewichtiger.

enn an dieser Stelle noch eine kritische Bemerkung folgen soll, dann vielleicht diese: Der kritische Blick, der aus Brüchen entsteht, ist mitunter ein zweischneidiges Schwert: Er kann zur Aufklärung beitragen, aber auch in Polarisierung oder Selbstgewissheit münden. Der wahre Wert von Brüchen mag daher in ihrer Fähigkeit liegen, nicht nur Kritik, sondern auch Selbstkritik zu fördern – eine Tugend, die man nicht genug schätzen kann.

Kennen Sie die japanische Philosophie von Kintsugi? Die kunstvolle Reparatur zerbrochener Keramik, insbesondere Teeschalen, mit Gold oder anderen Edelmetallen, steigert nicht nur den Wert, sondern verleiht dem Objekt eine einzigartige Geschichte und Schönheit.

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Author:
Alexander Wallasch

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