Kurze Version
Der Text analysiert die oft tabuisierte Vorgeschichte des Ukrainekriegs, basierend auf einem Artikel von Leo Ensel in „InfoSperber“ (Ende 2022). Heribert Prantl, ein linker Autor der Süddeutschen Zeitung, schreibt regelmäßig für das Schweizer Magazin.
Leo Ensel, als Konfliktforscher vorgestellt, beleuchtet „weiße Flecken“ in der westlichen Berichterstattung. Die Redaktion von „InfoSperber“ rechtfertigt die Analyse der Vorgeschichte, indem sie diese mit den Ursachen des Zweiten Weltkriegs vergleicht: Der Versailler Vertrag schwächte die Weimarer Republik, was Hitlers Aufstieg begünstigte. Ähnlich habe der russische Angriff auf die Ukraine historische Wurzeln, die ohne Scheuklappen betrachtet werden sollten. Dabei distanziert sich das Magazin von „Putinversteher“-Vorwürfen, indem es Russland mit den Nazis gleichsetzt.
Ensel verweist auf Boris Jelzins Warnung 1997 an Bill Clinton, dass ein NATO-Beitritt der Ukraine für Russland eine „rote Linie“ sei. Clinton selbst äußerte 2023 Mitverantwortung, da er die Ukraine zum Verzicht auf Atomwaffen überzeugte. Ensel kritisiert, dass Kiew mit westlicher Duldung sechs Jahre lang das Minsk II-Abkommen (2015) ignorierte, insbesondere die geplante Verfassungsreform für eine Dezentralisierung der Gebiete Donezk und Lugansk. Punkt 10 des Abkommens forderte den Abzug ausländischer Truppen und die Entwaffnung illegaler Gruppen, was nicht umgesetzt wurde. Angela Merkel gestand später ein, dass der Westen mit Minsk nur Zeit gewinnen wollte, um die ukrainische Armee zu stärken. Sie verglich ihre Rolle mit der Chamberlains, der Großbritannien Zeit für die Kriegsvorbereitung verschaffte.
Vor dem russischen Angriff kaufte die Ukraine türkische Bayraktar-Drohnen, die bereits im Donbass eingesetzt wurden, und verhandelte über Lizenzproduktionen. Solche Drohnen hatten zuvor in Syrien russische Verbündete getroffen. Seit den 1990ern führten die USA jährliche Manöver („Rapid Trident“) in der Westukraine durch, ebenso Marinemanöver („Sea Breeze“) im Schwarzen Meer. Ensel fragt hypothetisch, wie die USA auf russische Manöver in Mexiko reagieren würden. Selenskyj plante zudem die Rückeroberung der Krim, und 2021 schlossen die USA und die Ukraine militärische Kooperationsverträge. Russland reichte 2021 Vertragsentwürfe für Sicherheitsgarantien an die NATO, erhielt aber keine Reaktion. Stattdessen bot NATO-Generalsekretär Stoltenberg Finnland und Schweden die Mitgliedschaft an, die 2023/2024 beitraten.
Der Text betont, dass der Krieg hunderttausende Opfer forderte und jahrelange Konflikte im Donbass vorausgingen. Der Westen trage Mitverantwortung, doch Putin müsse die Kriegshandlungen einseitig beenden, damit die Ukraine reagieren könne.
Der für den Mainstream unverdächtige linke Autor Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung schreibt schon seit ein paar Jahren regelmäßig für „InfoSperber“ aus der Schweiz. Das sei vorab zur Einordnung dieses Online-Magazins gesagt.
Und bei „InfoSperber“ kann man einen Text von Ende 2022 „wiederentdecken“, der sich kritisch mit der immer wieder so aggressiv vom Tisch gewischten „Vorgeschichte“ zum Angriff Russlands gegen die Ukraine auseinandergesetzt hat.
Autor des Textes ist Leo Ensel, der etwa von den „Nachdenkseiten“ als Konfliktforscher vorgestellt wird.
Die Redaktion von InfoSperber hat dem Text von Ensel eine Art Rechtfertigung vorangestellt. Damit wird recht gut dokumentiert, wie spannungsgeladen die Auseinandersetzung mit der sogenannten „Vorgeschichte“ ist. Die Schweizer Redaktion fühlte sich damals veranlasst zu schreiben:
„Krieg darf nicht davon abhalten, die Vorgeschichte zu analysieren. Hitler und die Nazis waren für den Zweiten Weltkrieg verantwortlich. Trotzdem weisen Historiker darauf hin, dass die Nazis wohl nicht an die Macht gekommen wären, wenn der Versailler Vertrag nicht so einseitig gewesen wäre, die Weimarer Republik nicht so schwach und die Politik eine Hyperinflation verhindert hätte. Auch der russische Angriff auf die Ukraine hat eine Vorgeschichte. Über sie gilt es ohne Scheuklappen zu informieren.“
Das ist schon deshalb bemerkenswert, weil das Magazin damit Putins Russland mit den Nazis gleichsetzt, sich also nicht verdächtig macht, irgendwie zu jenen zu gehören, die heute als „Putinversteher“ diffamiert werden.
Was schreibt Leo Ensel? Der Autor wollte mit seinem Text Ende 2022 „weiße Flecken“ einer westlichen Ukraine-Berichterstattung näher beleuchten, die er als solche identifiziert hatte.
Ensel erinnert daran, dass „der Westfreund“ Boris Jelzin bereits im März 1997 gegenüber dem damaligen US-Präsidenten Bill Clinton klargemacht haben soll, „spätestens mit einem NATO-Beitritt der Ukraine würde für Russland eine rote Linie überschritten“. Und der Autor ergänzt, offensichtlich sei das bereits damals in bestimmten US-amerikanischen Kreisen eine sicherheitspolitische Option gewesen.
Clinton wird 2023 mit Blick auf die Ukraine erklären, er fühle sich „mitverantwortlich, weil ich sie davon überzeugt habe, ihre Atomwaffen aufzugeben“.
Ensel erinnert daran, dass Kiew mit offensichtlicher Duldung des Westens sechs Jahre lang seine zentralen Verpflichtungen aus dem Minsk II-Abkommen vom Februar 2015 ignoriert haben soll. Dazu gehört haben soll, so Ensel, die „Verabschiedung einer Verfassungsreform bis Ende 2015 (!) im Sinne einer Dezentralisierung unter Berücksichtigung der Besonderheiten der Gebiete Donezk und Lugansk („Südtirol-Lösung“).“
Punkt 10 von 13 im Minsk II-Abkommen lautete:
„Abzug aller ausländischen bewaffneten Einheiten und von [deren] Militärtechnik, ebenso von Söldnern, vom Territorium der Ukraine unter Beobachtung durch die OSZE. Entwaffnung aller illegalen Gruppierungen.“
Und in Punkt 11 wurde besagte Verfassungsreform festgeschrieben.
Ensel erinnert daran, dass Kanzlerin Merkel später eingestanden haben soll, dass der Westen mit seinen Bemühungen in Wahrheit nur Zeit zu gewinnen wollte, „um in der Zwischenzeit die ukrainische Armee fit zu machen“.
In einem Interview mit dem „Spiegel“ Ende 2022 kam Angela Merkel schnell auf den Krieg in der Ukraine zu sprechen, sie habe sich „schon ’ne friedlichere Zeit gewünscht nach meinem Abschied, weil ich mich ja viel mit der Ukraine beschäftigt habe“.
Auch Merkel hatte im Interview Putins Russland mit Hitlers Deutschland verglichen und sah sich selbst bei den Minsker Verhandlungen in der Rolle von Chamberlain, der als „Stratege“ seinem Land den Puffer verschafft habe, sich auf den deutschen Angriff vorzubereiten. Gegenüber dem „Spiegel“ beurteilte Merkel die Verhandlungen von Minsk als gekaufte Zeit, welche die Ukraine nutzen sollte, um sich einem russischen Angriff besser widersetzen zu können.
Weiterlesen nach der Werbung >>>
Ihre Unterstützung zählt
In diesem Kontext erinnert der Autor von „Infosperber“ auch daran, dass die Ukraine schon vor dem russischen Überfall türkische Kampfdrohnen vom Typ Bayraktar TB2 kaufte, diese bereits gegen die Rebellenstellungen bei Donezk im Donbass abgefeuert hatte und zudem mit der Türkei über eine Lizenzproduktion verhandelte.
Erwähnenswert in dem Zusammenhang: Diese türkischen Drohnen hatten bereits zuvor in der Provinz Idlib in Nordsyrien dutzende Stellungen des Regimes Assad zerstört, das damals mit Russland verbündet war.
„In Idlib habe die Türkei vorgeführt, welche Schlagkraft Kampfdrohnen entfalten können, wenn sie eng vernetzt mit Artillerie und konventioneller Luftwaffe eingesetzt werden“, schrieb der Schweizer Sender SRF im April 2021.
Ensel schreibt:
„Nahezu unbekannt ist bis heute die Tatsache, dass die USA schon seit Mitte der Neunziger Jahre unter dem Etikett „Rapid Trident“ (früher: „Peace Shield“) jährlich auf dem Gebiet der Westukraine Manöver mit ukrainischen Truppen durchführten, zuletzt vom 20. September bis zum 1. Oktober 2021, und zwar zusammen mit Soldaten aus Ländern wie Bulgarien, Kanada, Georgien, Deutschland, Großbritannien, Italien, Jordanien, Moldau, Pakistan und Polen.“
Dasselbe gelte auch, so der Autor weiter, für Marinemanöver vor der Küste der Ukraine im Schwarzen Meer, welche dort schon seit 1997 auch mit den USA und anderen NATO-Mitgliedstaaten durchgeführt werden.
Und Ensel stellt die hypothetische Frage, was denn gewesen wäre, wenn Russland „jährlich zusammen mit Soldaten aus Belarus, Serbien, China, Kuba, Venezuela, dem Iran und anderen Staaten Truppenübungen in Mexiko oder Marinemanöver im gleichnamigen Golf vor der Küste Floridas unternommen hätte.
Auch daran erinnert der Autor: Selenskyj hatte vor dem Überfall konkrete Pläne zur Rückeroberung der Krim ausarbeiten lassen und am 30. August 2021 unterzeichneten die USA und die Ukraine einen Vertrag über eine militärische Zusammenarbeit und am 10. November 2021 einen Vertrag über eine „strategische Partnerschaft“.
Der Autor von „InfoSperber“ berichtet ebenfalls, dass Russland noch Mitte Dezember 2021 „Vertragsentwürfe über Sicherheitsgarantien“ an die NATO und die USA gerichtet, veröffentlichte. Allerdings seien diese Verträge undiplomatisch formuliert gewesen. Die Reaktion der NATO blieb aus:
„Am 7. Januar 2022 fand dann ein digitales außerordentliches Meeting aller 30 NATO-Außenminister statt und man durfte gespannt sein, ob und gegebenenfalls wie die NATO auf den russischen Vertragsentwurf reagieren würde. Gar nicht.“
Stattdessen hatte der damalige NATO-Generalsekretär Stoltenberg Finnland und Schweden ein Angebot gemacht, Mitglied der NATO zu werden. Beide Staaten sind seit 2023 und 2024 Mitgliedstaaten der NATO. Nach Jahrzehnten der militärischen Neutralität beantragten beide Länder im Jahr 2022 aufgrund des russischen Angriffskriegs in der Ukraine den NATO-Beitritt.
Auch diese Erzählung ist Teil der Vorgeschichte eines grausamen Krieges, der mittlerweile hunderttausende junge Männer auf beiden Seiten der Front das Leben gekostet hat samt einer noch viel größeren Anzahl Ehefrauen, Kindern, Eltern und Großeltern, die um diese elend in den Schützengräben verreckten Männer weinen.
Nach jahrelangen kriegerischen Handlungen im Donbass mit tausenden Toten hat Putin die Ukraine angegriffen. Der Westen ist daran nicht vollkommen unschuldig. Auch dieser Krieg hat eine Vorgeschichte. Und es bringt nichts, sie zu verschweigen.
Putin muss jetzt sofort einseitig jede Kriegshandlung einstellen. Und die Ukraine kann dann der Welt anschließend binnen weniger Tage zeigen, wie sie gewillt ist, darauf zu reagieren. Es geht nur so.
Zur Quelle wechseln
Author:
Alexander Wallasch