Jeder Stuhl ist besetzt. Einige Leute stehen. Zwar bieten die überklebten Glasfronten einen gewissen Schutz vor Splittern, dennoch empfehle er, sich nicht auf der breiten Fensterbank hinzusetzen. Martin Sellner beginnt seinen Vortrag.
Mit Druck von außen könne er umgehen, doch wenn eine Veranstaltung wegen Druck von innen abgesagt werde, sei das enttäuschend. Die AfD Berlin hatte ihm tags zuvor kurzfristig den Vortragsort verwehrt. Der Eigentümer, der sein Lokal im Berliner Randbezirk Blankenburg größtenteils an die AfD vermietet (25 Tage im Monat an die Partei, die verbleibenden fünf für eigene Zwecke), wurde unter Druck gesetzt: Entweder Sellner werde ausgeladen oder der Vertrag gekündigt.
Der neue Vortragsort in Charlottenburg wurde bis kurz zuvor geheimgehalten. Ich komme einige Minuten zu spät und sehe aus dem Mietwagen eine Gruppe von etwa 25 Personen, vermummt mit Tüchern oder FFP2-Masken, durch die dunklen Straßen Berlins eilen. Es ist offensichtlich, dass wir dasselbe Ziel haben. „Achtung bei der Anreise, gewaltbereite Linksextreme unterwegs“, lese ich im Chat.
Auf dem Dach des Hauses sehe ich eine Person. Zu wem gehört sie? Eine Gruppe von Nachzüglern wartet auf Einlass, viele von ihnen ebenfalls vermummt, die Blicke unruhig in die Umgebung huschend. Beim Betreten begreife ich erst nicht, was passiert ist. Meine Lunge zieht sich zusammen, ich beginne zu husten. Um mich herum husten etwa fünfzig Menschen. Der Angriff liegt bereits einige Minuten zurück. Martin Sellner hustet nicht, sondern spricht ruhig ins Mikrofon.
„Ist jemand verletzt?“ fragt er. „Hat jemand es direkt ins Gesicht bekommen?“ Ein junger Mann mit gerötetem Gesicht und tränendem Auge schüttelt den Kopf – es gehe ihm gut.
„Ist jemand allergisch oder Asthmatiker? Falls ja, jetzt wäre Gelegenheit, um Hilfe zu rufen.“ Nach zehn Minuten verfliege der Reiz, „Wasser trinken, alle Eingänge sichern!“ Das Restaurant liegt im Erdgeschoss. Die großen Fenster der Toiletten, die zum Hof hinausgehen, sind weit geöffnet, um Frischluft hereinzulassen.
Es rumpelt an der Tür. Der junge Mann, der den Eingang sichert, öffnet sie einen Spalt breit. Zivilpolizisten betreten den Raum. Sellner tritt ihnen entgegen. „Sie sind es wirklich“, sagt einer der Beamten. Draußen beginnen die Sprechchöre: „Say it loud, say it queer, refugees are welcome here!“ Die Straße wird von Blaulicht erhellt, die 23. Hundertschaft der Berliner Polizei ist in Wilmersdorf eingetroffen. Vor dem Restaurant haben sich etwa einhundert Linksextreme versammelt. Ein Demonstrant trägt die Fahne der Partei „Die Linke“, andere halten Schilder mit der Aufschrift „Stoppt die AfD“ hoch.
Magdeburg, Aschaffenburg, München – viele behaupten, es müsse erst noch schlimmer werden, bevor es besser wird. Doch das sei ein Trugschluss, erklärt Sellner. Wie bei Sekten verhärte sich bei externem Druck nur noch stärker das Innere. Er verweist auf Jim Jones, der 900 seiner Anhänger in den kollektiven Selbstmord trieb. Auf der Leinwand wirft er einen Tweet von Elon Musk an die Wand: „Bringen Sie einem Volk bei, sich selbst und seine Geschichte zu hassen, ist es schutzlos gegen Geistesviren.“
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Frauen seien nicht genetisch zum Linkswählen verdammt, fährt Sellner fort. Ihr Wahlverhalten sei lediglich stabiler und bewahrender gegenüber dem aktuellen Zustand.
Die ersten Grünenwähler waren Männer; Frauen hätten damals nicht im Traum daran gedacht, die Partei zu unterstützen. Das Letzte, was man brauche, sei eine Geschlechterspaltung. Vielmehr sei es entscheidend, eingängige Slogans zu formulieren – so wie es die Trump-Kampagne vorgemacht habe. Unpolitische Menschen, die sich auf der Arbeit über „Love Island“ oder „Deutschland sucht den Superstar“ unterhalten, erreiche man nicht mit abstrakten Statistiken und Zahlen.
Trotzdem hat Sellner einige interessante Daten mitgebracht. Ein Schaubild zeigt die seit dem Zweiten Weltkrieg enorm gestiegene Zahl der Verfassungsschutz-Mitarbeiter. Nach dem Ende des Kalten Krieges 1990 stagnierte die Zahl, es gab keine Kommunisten mehr zu verfolgen. Ab 2015 steigt sie jedoch wieder sprunghaft an. „Das Establishment ist nervös“, erklärt er.
Knapp 300.000 Berliner haben AfD gewählt. „Spendet jeder nur drei Euro im Monat – das entspricht einer Bockwurst an der Tankstelle – wären das 900.000 Euro pro Monat“, rechnet er vor. Damit könnte ein Bildungszentrum der Rechten in Berlin finanziert werden. „Es ist längst überfällig. Alle sind gefragt!“
Trotz der tobenden Menge vor dem Restaurant ist die Stimmung nach dem überstandenen Pfefferspray-Angriff gelöst. Das Publikum ist jünger als der Durchschnitt, das Geschlechterverhältnis ausgeglichen. Ich erkenne einige junge Berliner Journalisten und Influencer. Der Vortrag wird zweimal von der Polizei unterbrochen, auch der Wirt mahnt zur Eile. Selfies werden gemacht, fast jeder möchte ein signiertes Buch kaufen, während eine Spendenbox für den Wirt die Runde macht.
Die Polizei hat den Hinterhof weitläufig gesichert und hält dort Linksextreme an der Zufahrt auf. Sellner empfiehlt dringend, nicht zu Fuß zu gehen. Ihm wäre es unerträglich, wenn jemand verletzt würde. Auch wer mit dem Auto gekommen ist, nimmt zunächst ein Taxi und lässt sich einen Block weiterfahren. Eine ältere Dame verzichtet, ignoriert das Gejohle und schlängelt sich mutig in Richtung U-Bahn.
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Author:
Alexander Wallasch