• 13. Februar 2025

Gefangen im Moralgefängnis: Die schleichende Gefahr für unsere Demokratie

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Feb. 13, 2025
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Ein Gastbeitrag von Thomas Rießinger

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Michael Andrick ist Philosoph. Man darf dabei nicht an Fachvertreter wie Heidegger, Habermas oder gar Habeck denken, jene Hüter hochtrabender Hohlheit, die ihre Neigung zum Banalen hinter großen Worten zu verbergen pflegen. Wie man schon in seinen Kolumnen und Kommentaren, beispielsweise in der Berliner Zeitung, sehen kann, arbeitet Andrick anders, er legt Wert auf klare Sprache und klare Argumentation.

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So auch in seinem Buch „Im Moralgefängnis“, über das ich im Folgenden sprechen werde. Er will das „Diskurs-Elend“ erklären, das die deutsche Gesellschaft beherrscht, und kommt zu dem Schluss, dass Deutschland an einer Art von kultureller Infektion leidet: einer „Infektion der Kommunikationswege mit dem Virus der Moralisierung“. Wir sitzen, so diagnostiziert er, in einem „Moralgefängnis“ und leiden unter einem „Regime des Moralismus“, das es nicht erlaubt, „in demokratischem Geist zusammenzuleben“.

Wie kommt er zu dieser Auffassung? Andrick stellt zunächst fest, dass unsere Gesellschaft schon seit Jahren im Dauerstress lebt, insbesondere, aber nicht nur verursacht durch die über Jahre andauernden Corona-Maßnahmen. Auf Dauer führt das zu einem herabgesetzten Reflexionsniveau und zum Verfall der Verständigungsmittel. Die nötige Stressbewältigung kann durch ein „Befürchtungsregiment“ erfolgen, ein Regelwerk, mit dem wir Befürchtungen bewältigen, eine Art „Notfall-Ethos“ mit dem Ziel, das Richtige zu tun. Seine Funktion ist es, unbestimmte Angst in konkret beherrschbare Befürchtungen zu übersetzen. Anhand verschiedener Beispiele zeigt Andrick, dass die allgemeine Psychodynamik der Angst verschiedene Befürchtungsregimenter schafft, die zu einer „psychosozialen Zerrüttungsdynamik“ führen.

Somit kommt ein Prozess in Gang, den man als Spaltung bezeichnen kann. Sie ist eine menschliche Aktivität, kein feststehender Zustand, und lebt daher vom Mitmachen. Eine bereits vollständig gespaltene Gesellschaft wäre in Wahrheit zwei Gesellschaften, selbst eine starke Polarisierung spricht nicht für eine im Ergebnis gespaltene Gesellschaft, sondern nur für eine lebendige Diskussionskultur. Spalterisches Verhalten ist dagegen das eigentliche Problem, Andrick bezeichnet es als kulturelle „Infektion der Kommunikationswege mit dem Virus der Moralisierung“. Die Infektion mit dem kulturellen Erreger, den er als „Moralin“ bezeichnet, führt zum Fundamentalismus und in das „Moralgefängnis“, in dem wir uns befinden, verursacht durch die kulturelle Krankheit „Moralitis“.

Zweifellos gibt es echte moralische Fragen, aber auch künstlich moralisierte, wie Andrick an zahlreichen Beispielen zeigt. Im Privatleben führt dieser Prozess zu unnötiger Moralisierung, mit der man den Vorwurf moralischer Mangelhaftigkeit erzeugt, im politischen Bereich dagegen ergibt sich demagogisches Verhalten. In beiden Fällen gilt: „Wer also eine Frage moralisiert, der erklärt den weiteren Verlauf der Diskussion zum Endspiel darum, welche Prinzipien die richtigen sind und welche die falschen, wer der Beteiligten also ein guter Mensch ist und wer nicht.“

Wie arbeitet nun dieses kulturelle Virus? Es verbreitet sich offenbar über die Äußerungen der Infizierten und führt zu Personalisierung von Aussagen und zu moralischen Anklagen – und damit zu weiterem spalterischem Handeln. Moralisierung ist stets ein „Akt der diskursiven Gewaltanwendung“, der Arroganz, ein Hinweggehen über den anderen, dem man die Einsicht in das Gute abspricht. Zwangsläufig wird sich der moralisch Angegriffene zurückziehen oder seinerseits Allianzen zur Unterstützung bilden. Kurz gesagt: Moralismus und Demagogie „sind aus Angst oder Abneigung geborenes Dominanzstreben“. Sie beruhen auf der Unfähigkeit, andere Haltungen und Standpunkte zu ertragen. Das führt auch zu einer Einschränkung individueller Freiheit, denn „im Moralgefängnis handelt man nicht nach freier Selbstbestimmung, sondern nach pathologischen Mustern“. „Wir schließen uns in selbstgebauten Mauern ein.“ Diese Kommunikationskultur, in der der Mut zum offenen Streit abnimmt und die moralischen Empfindlichkeiten der Bürger den öffentlichen Raum durchwirken, nennt Andrick das „Regime des Moralismus“.

Dieses Regime wird geprägt durch einige symptomatische Verhaltensweisen. Andrick führt  zuerst das „Abkanzeln“ an, bei dem man mit vorgeschobenen Argumenten alles wegdrückt, was nicht in die eigene Sicht der Dinge passt, und nach Gründen sucht, die inhaltliche Auseinandersetzung zu vermeiden. Dadurch wird man noch fester an die eigenen Vorurteile gebunden. Zweites Symptom ist das „Vorabmarkieren“, also die „Etikettierung mit Schmäh- oder Verdächtigungsbegriffen“, die nur im Zusammenhang mit einer gewissen Öffentlichkeit Wirkung zeigen kann. Auch das „Umstrittenmachen“ ist eine verbreitete Praxis, bei der man versucht, beispielsweise einen Autor durch Zuweisung des Attributs „umstritten“ zu schädigen. Ähnliche Ursprünge hat die „Kontaktschuld“: Man schmäht jemanden, und wer mit ihm zu tun hat, macht sich schuldig. Das ist die Vollendung des kulturellen Moralgefängnisses: Worte und Gedanken und Menschen werden in gut und böse unterteilt.

All diese Symptome des Moralismus-Regimes haben üble Folgen. „Das Regime des Moralismus führt in eine Wahnwelt bloß eingebildeter Verhältnisse, die auf der politischen Bühne von bemerkenswert kompetenzarmem Personal und auf geistig allerdürftigste Weise, dafür aber mit hochgradiger Selbstgewissheit, diskutiert werden.“

Die Moralitis-Epidemie führt zum Moralgefängnis, „einer durch privates Moralisieren und öffentliche Demagogie geschaffenen Wahnwelt“. Sie „macht aus normalen Leuten Fundamentalisten“. Und bei solchen Fundamentalisten muss man damit rechnen, dass sie wegen ihres fundamentalistisch-moralistischen Denkens der Wahnvorstellung anhängen, dass die Demokratie „nur auf dem Wege einer allgemeinen Berichtigung des Denkens, Fühlens und Sprechens der Bürger und durch ihre flankierende Ausbildung zur Gesinnungspolizei ,zu retten’ sei“. Die Zerstörung der Demokratie als Folgeerscheinung liegt nahe.

Mit dem Demokratiefördergesetz zeigt Andrick ein „Paradebeispiel für die Wahnwelt der Fundamentalisten“. Die Regierung maßt sich selbst einen Erziehungsauftrag an und versucht damit, sich ein neues Volk zu bilden. „Das ,Demokratiefördergesetz’ verpflichtet den Bund, staatlich geprüfte Satus-quo-Ja-Sager für eine Republik einzukaufen, deren Akteuren die Mehrheit nicht mehr vertraut.“ Diese Erziehung und Bevormundung durch die Regierung ist die „Strategie einer von Moralitis geplagten politischen Klasse“. Auch das moralistische Zensurgebaren und die ideologisch-moralistisch vorgeprägten „Faktenchecker“ führen zu „Gesinnungsprüfung und Meinungsrepression“ infolge der Moralitis.

Andrick untersucht den zur Zeit so inflationär verwendeten Begriff der „Hassrede“ und kommt zu dem Schluss, dass auch Hassrede nur ein politischer Kampfbegriff und die Hassdiagnose stets „Gesinnungs-Willkür“ ist. Durch die Verwendung des Konzepts der Hassrede werden politische Gegner als moralisch niedrig dargestellt: Die zugehörige Gesinnungsprüfung als Staatsaufgabe ist nichts weiter als angewandte Moralitis. Gleiches gilt für das Prinzip der so genannten gerechten Sprache, die sich mit moralistischen Mitteln vollständig gegen jeglichen Einwand immunisiert hat. Daher kann Moralitis auch und ganz besonders auf das Sprachvermögen durchschlagen. „Wird die Sprache so formatiert, dass den eigenen Idealen gar nicht mehr zuwidergedacht und zuwidergehandelt werden kann, so können die ,Bösen’ nicht mehr lange böse bleiben. Sie werden von moralischen Fundamentalisten einfach zur Einnahme der ideologischen Medizin gezwungen.“

Somit ist das Regime des Moralismus zwangsläufig totalitär, da jeder Beteiligte das „Gute“ vertritt und die Politik nicht mehr dem Interessenausgleich unter Gleichberechtigten dient, sondern der Durchsetzung sittlicher Wahrheiten. „Wo Moralin sich ausbreitet, da zerfällt das demokratische Zusammenleben.“

Andrick geht nun der Frage nach, warum die Bürger westlicher Industriestaaten besonders anfällig für eine Moralitis-Erkrankung sind, insbesondere die Deutschen. „Wir leben in einem ,Nie-wieder’-Staat, der sich auch als moralische Anstalt zur Verhütung totalitärer Tendenzen definiert.“ Und genau deshalb will man in Deutschland lieber nicht die „offenkundigen historischen Parallelen“ ansprechen, „wenn uns spalterisches Handeln in Form von moralisierender Diffamierung von Minderheiten oder demagogischer Aufhetzung von Bevölkerungsgruppen gegeneinander entgegentritt“.

Die Folgerungen für das öffentliche Leben sind verheerend: Das Regime des Moralismus ist ein „Faktor auf dem Weg zum totalitären Staat“. Das Ziel ist „die geschlossene Gesellschaft des neuen Guten Menschen“. Und Politik ist nicht mehr die Aushandlung von Interessen, sondern schlicht die „Durchsetzung der Wahrheit“.

Niemand sollte sich der Illusion hingeben, dass es immer nur die anderen sind, die dem Moralin-Virus erliegen und aus ihrem eigenen Moralgefängnis nicht mehr herausfinden. Auch viele Gegner der aktuellen politischen Agenda verhalten sich nicht nennenswert anders „als die aktuell federführenden Politiker – nur, dass sie sich ein anderes Gutes als absolute Wahrheit auf die Fahne schreiben“. Doch Michael Andrick hofft auf ein Gegenmittel gegen die allgemeine Moralitis: Es ist der Respekt. „Im Regime des Moralismus versagen wir einander den Respekt – die gegenseitige Berücksichtigung, die Rücksicht.“ Wir müssen wieder den Mitbürger als Mitbürger sehen, als legitimen Diskutanten. „Wer seine Mitbürger respektiert, der würdigt sie als gleichberechtigt mit sich selbst zur Teilnahme an Diskussion und Entscheidungsfindung.“

Es liegt an uns, das Regime des Moralismus zu beenden, ihm „müssen die Gefolgsleute abhanden kommen, dann zieht es sich schrittweise zurück“ und „seine Vorturner werden sich beim Auslaufen der Moralitis-Epidemie immer lächerlicher ausnehmen mit ihren kindischen Ausfällen ad personam, die ihre argumentative Blöße bedecken und ihren Machtanspruch durchpauken sollen“.

Selbstverständlich konnte ich hier Andricks Gedankenwege nur in sehr groben Zügen zeigen. Man findet in seinem Buch erläuternde Beispiele und ausführliche Argumentationen, die das deutlich machen, was ich hier nur skizzieren konnte. Man muss nicht mit allem einverstanden sein, man muss nicht jedes seiner Argumente teilen; einen Anspruch auf absolute Wahrheit erhebt er nicht. Doch sein Buch liefert interessante Anregungen, Denkanstöße und Diagnosen des aktuellen Geschehens, dem wir täglich ausgeliefert sind – und an dem wir auch täglich selbst mitwirken.

Man kann nur hoffen, dass der „zerstörerische Einfluss von Moralisierung und Demagogie auf unsere Umgangsformen“ tatsächlich schnell dahinschwindet, denn „etwas Besseres kann unserer moralitisgeschädigten Demokratie nicht passieren; etwas anderes darf ihr nicht passieren“.

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Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.

Thomas Rießinger ist promovierter Mathematiker und war Professor für Mathematik und Informatik an der Fachhochschule Frankfurt am Main. Neben einigen Fachbüchern über Mathematik hat er auch Aufsätze zur Philosophie und Geschichte sowie ein Buch zur Unterhaltungsmathematik publiziert.

Bild: Shutterstock

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