• 20. Januar 2025

Putins Prügeltrupp

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Jan. 19, 2025

Lesen Sie heute Teil 26 von „Putins Demokratur“. Warum ich Buch hier auf meiner Seite veröffentliche, können Sie hier in meiner Einleitung zum ersten Beitrag finden. 

»Entweder du kommst ins Grab oder in den Rollstuhl«: Es waren finstere Aussichten, mit denen der Mann im Trainingsanzug dem schmächtigen 18-jährigen Roman Sadychow drohte. Doch er bot auch einen Ausweg: »Wenn du mit uns zusammenarbeitest, kommst du heil davon.« Es waren keine Gangster, die dem Studenten im März 2007 auf einer Moskauer Polizeiwache zusetzten, sondern Mitarbeiter des KGB-Nachfolgers FSB, behauptet Sadychow.

Wie auch immer: Den Zorn der Staatsmacht hat er sich jedenfalls zugezogen. Ein Jahr lang machte der junge Mann undercover bei der Jugendorganisation Rumol (Junges Russland) Karriere. In Wallraff-Manier hatte er sich eingeschleust und verriet dann Details aus seiner Zeit dort an die Öffentlichkeit. Mit dem Segen des Kreml organisiere Rumol einen geheimen Stoßtrupp namens Ultras für den Straßenkampf gegen die Opposition, behauptet Sadychow. Rauchbomben werfen stehe ebenso auf dem Programm wie brutales Prügeln, das in Rollenspielen eingeübt werde – alles gegen Bezahlung. Eine andere Abteilung verbreite im Internet kremlfreundliche und chauvinistische Leserbriefe und Blog-Einträge – gegen baren Rubel. Der V-Mann nahm Treffen des Jugendverbands mit hohen Kremlbeamten heimlich auf Tonband auf. Der Vizepräsidialamtschef Wladislaw Surkow etwa, so Sadychow, sei ganz begeistert gewesen von der Straßenkampfausbildung und habe sie »wahnsinnig interessant« gefunden. Auf den Tonbändern ist zu hören, wie Surkow fordert, Russlands Wirtschaft müsse konkurrenzfähig mit dem Westen werden. Ein hehres Anliegen – nicht so das Mittel, das Surkow empfiehlt: Industriespionage.

Rumol-Chef Maxim Mischtschenko dementiert die Berichte Sadykows: »Alles Lüge.« Es gebe zwar die Ultras, und sie würden auch derbe Aktionen durchführen – aber sie blieben stets sauber: »Unfaire Mittel verwendet nur die Opposition.« Die wiederum glaubt, dass der Kreml vor der Parlamentswahl im Dezember und der Präsidentenwahl im März 2008 mit Gewalt die Herrschaft über die Straße gewinnen will. »Die Furcht vor unkontrollierten Demos und einer Revolution wie in der Ukraine sitzt tief. Die Gruppierungen an der Macht halten sich als Gegenmittel Jugendgruppen wie Feudalfürsten Landsknechte«, meint der Politologe Nikolaj Petrow vom Moskauer Carnegie-Zentrum.

Angst vor der Bedrohung durch den Westen, Patriotismus und Putin-Begeisterung: Das sind die gemeinsamen Nenner der kremlnahen Jugendorganisationen. Alle sind stramm organisiert. Selbst die moderate Junge Garde weiß im Voraus, wie viele Teilnehmer zu einer Demo kommen werden, denn spontan erscheinen die jugendlichen Massen kaum: Sie werden in Bussen angekarrt und mit Konzerten oder Grillabenden als Begleitprogramm gelockt.

Während in der Stadt Nischnij Nowgorod rund 1000 Oppositionelle bei einem Protestmarsch gegen Putin auf 20 000 Polizisten mit Schlagstöcken trafen, mobilisierte die Rumol-»Schwester-organisation« Naschi (Die Unsrigen) in Moskau 15 000 junge Russen, die zur Unterstützung des Präsidenten auf die Straße gingen. »Putin hat die Leute dazu gebracht, an sich selbst zu glauben. Ohne ihn wärst du ein anderer Mensch«, hieß es auf einem dort verteilten Handzettel, der Parallelen zieht zu 1941, als Hitler Russland überfiel: Damals »waren wir nicht bereit zum Krieg und haben 27 Millionen Menschen verloren. 2007 müssen wir entscheiden, ob wir Putins Kurs beibehalten – oder eine Rohstoffkolonie des Westens werden wollen.«

Rumol agitiert noch heftiger. Auf seinem Flugblatt stellt es die Sterne auf der US-Flagge als Hakenkreuze dar, die Streifen als Stacheldraht. Am 4. April 2007, dem Jahrestag der NATO-Gründung, hüpfen Rumol-Aktivisten – gekleidet in Nationalfarben aller NATO-Mitglieder – vor der Moskauer US-Botschaft in einen symbolischen Fleischwolf. »Unten kommt blutiges Hackfleisch raus – wie es die NATO aus ihren Mitgliedern macht«,

berichtet Mischtschenko mit strahlenden Augen. Die an Scientology und Komsomol erinnernde »Putin-Jugend« wird von einem Ex-Kremlbeamten geleitet. Ihr Arbeitsauftrag – »Anti-Faschismus« – vereint vor allem den Kampf gegen die Opposition. Denn wer in Russland den Präsidenten kritisiert, wird schnell als ein Faschist bezeichnet, der im Auftrag des Westens das Vaterland verrät. Auch Maria Drokowa, eine 17-jährige Naschi-»Kommissarin«, glaubt: »Die Gefahr lauert überall.« Die

Verwaltungsstudentin beteiligt sich deshalb fleißig an Aktionen wie etwa gegen den britischen Botschafter in Moskau. Den verfolgten Aktivisten monatelang mit Mahnwachen – nach Ansicht der Briten mit Hilfe des russischen Geheimdienstes, denn die Jugendbewegung kannte den Terminplan der Exzellenz vorab bis ins Detail. »Der Botschafter unterstützt die Faschisten, er hat ihnen für die Machtergreifung eine Million Pfund versprochen.

Oder war es eine Milliarde!?«, empört sich die Drokowa. Welche

»Faschisten«? In einem Atemzug nennt sie die gesamte Spitze der Opposition, von Ex-Premierminister Michail Kassjanow bis hin zu Ex-Schachweltmeister Garri Kasparow. Sie alle bezahle der Westen, und

wenn sie an die Macht kommen, drohe Schreckliches. »Die wollen alle, die über 60 sind, umbringen, weil sie nicht mehr arbeitsfähig sind«, ist sich die »Kommissarin« sicher. »Deshalb opfere ich meine ganze Freizeit für Naschi. Ich gehe nicht mehr tanzen und habe meine Eltern seit drei Monaten nicht mehr besucht«, sagt sie traurig und fügt hinzu: »Ich kämpfe dafür, dass Putins Kurs beibehalten wird.« Das sei sie ihrem Großvater schuldig:

»Der ist im Kampf gegen die Nazis gefallen, auch ich muss gegen die Faschisten kämpfen.«

Der mörderische Westen

Die Diagnose war schon bekannt, bevor der Doktor zur Untersuchung kommen konnte. So, wie ihn die niederländischen Ärzte im Gefängnis behandelt hätten, habe Slobodan Miloševi´ c gar nicht gesund werden können, sagte Leo Bokeria, Direktor eines Moskauer Herzchirurgie-Zentrums, bereits vor seinem Abflug nach Den Haag im März 2006. Die Ferndiagnose des Mediziners gleich nach dem Tod des früheren jugoslawischen Präsidenten passte ganz zur Meinung von Russlands

Außenminister Sergej Lawrow: Der hatte ganz undiplomatisch geäußert, Moskau traue den Den Haager Ärzten nicht.

»Schlimmste Ärztefehler« beklagte Herzchirurg Bokeria dann tatsächlich, als er Tage später in Den Haag das Obduktionsergebnis studiert hatte. Ein einfacher Eingriff hätte den Exdiktator retten können, sagte der Arzt, der Mitglied der bereits erwähnten »Gesellschaftskammer« ist. Der Vorwurf, den westliche Mediziner als Unsinn bezeichnen, war tagelang das wichtigste Thema in den russischen Massenmedien: Der Westen habe den Expräsidenten des slawischen Brudervolkes mit seiner Verweigerung einer ärztlichen Behandlung in Russland umgebracht, so der Tenor, weil das Den Haager Kriegsverbrechertribunal die Schuld Miloševi´ cs nicht habe beweisen können. Der 1. Kanal behauptete gar, Berichte über Massaker im Jugoslawienkrieg seien Fälschungen des Westens. Statt Kritikern von Miloševi´ c kamen ausführlich dessen Frau und Sohn zu Wort. Warum die beiden plötzlich unbehelligt in Moskau auftauchten, obwohl sie per internationalem Haftbefehl gesucht werden, fragte niemand.

Schon vor dem Tod Miloševi´ cs kritisierten russische Medien das Gerichtsverfahren gegen den Expräsidenten: »Dieser Prozess ist nicht nur eine bürokratische Bestätigung der trostlosen europäischen Rechtsprechung, sondern das weite Echo einer schrecklichen historischen Ungerechtigkeit und der Heuchelei und der doppelten Standards«, hieß es im 1. Kanal.

Die meisten Russen empfanden die NATO-Angriffe Ende der neunziger Jahre auf ihre orthodoxen Glaubensbrüder in Serbien als Skandal und Schmach. Kremlkritiker argwöhnen, die antiwestliche Stimmungsmache könne aber auch andere Gründe haben: Der Kreml wolle das Haager Kriegsverbrechertribunal diskreditieren und Argumente für dessen Abschaffung liefern, weil er fürchte, später selbst wegen Tschetschenien zur Rechenschaft gezogen zu werden.

Doch auch an weniger symbolträchtigen Orten als Den Haag wird die Feindschaft zum Westen zelebriert: Im Oktober 2005 stoppt der norwegische Küstenschutz einen russischen Fischkutter mit dem Namen Elektron, der in einer Schutzzone vor Spitzbergen illegal seine Netze ausgeworfen hat. Zumindest nach Ansicht der Norweger, die das Gebiet für sich beanspruchen. Den Norwegern zufolge sind die Netze außerdem zu engmaschig, weshalb sich darin auch Jungfische verfingen. Norwegische Inspektoren kommen an Bord des Schiffes und befehlen dem Kapitän, ihnen in den nächsten Hafen zu folgen, um die Vorwürfe zu klären. Der Kapitän der Elektron dreht ab und flieht – und nimmt die erschrockenen norwegischen Inspektoren quasi als Geiseln mit. Norwegische Kriegsschiffe verfolgen die Elektron, doch andere russische Fischerboote kommen ihr zur Hilfe und blockieren die Schiffe der norwegischen Marine. Der Kapitän der Elektron erklärt über Funk, er würde lieber sterben als sich ergeben und droht, die norwegischen Verfolger zu rammen.

Die russische Grenzpolizei kündigt an, zum Schutz der Elektron das Küstenschutzboot Twer aus Murmansk auslaufen zu lassen. Hat ein Sprecher des russischen Geheimdienstes in einer ersten Reaktion noch über die unbedachte Reaktion des Elektron-Kapitäns geklagt, so wendet sich die Stimmung in den russischen Medien nun schneller als der Wind in der stürmischen Barentssee. Das russische Fernsehen stellt den Kapitän des Fischereibootes auf einmal beinahe als Nationalhelden dar. Aus Murmansk kommt der Elektron und den sie verfolgenden norwegischen Kriegsschiffen jetzt schwereres Geschütz entgegen – der U-Boot-Jäger Admiral Lewtschenko. Es handle sich lediglich um ein »planmäßiges Manöver«, wiegelt ein Marinesprecher ab. Selbst Verteidigungsminister Iwanow schaltet sich ein. Es werde zu keinem kriegerischen Zusammenstoß kommen, versichert er – und weckt damit erst schlafende Hunde.

Außenminister Lawrow wird von den Medien mit den Worten zitiert, er halte ständigen Kontakt mit dem norwegischen Außenministerium. Die russischen Medien berichten unter Berufung auf den Kapitän, die Norweger würfen Brandbomben auf den Fischkutter – was die Gegenseite umgehend dementiert. »Die Norweger behindern weder die japanischen noch die isländischen oder amerikanischen Fischer sonderlich, aber die Flotte des neuen Russland nehmen sie offenbar an die Angel«, klagt der Sender NTW – wieder sind alle gegen Russland. Hinter dem Vorgehen gegen den Fischkutter stecke ein Plan Norwegens, seine militärische Präsenz in den Nordmeeren zu verstärken, klagt ein Duma-Abgeordneter. Doch man wolle sich auf seine eigene Weise wehren: Der Kapitän mit den Geiseln an Bord werde im Hafen von Murmansk von einem Orchester empfangen, kündigt NTW an. In Murmansk, so der Sender, gelte der Kapitän bereits als Held. Zu Wort kommt auch der Bruder des Mannes, der die norwegischen Inspektoren auf dem Kutter festhielt: »Was er vollbrachte, wird in einer Reihe stehen mit der Flucht unserer Besatzung aus Afghanistan und der Besetzung des Flughafens von Pristina. Das sind die hellen Flecken der russischen Geschichte.«

Ihr Mann sei immer gegen die Willkür gewesen, die den Fischern widerfahre, sagt die Frau des Kapitäns auf dem Bildschirm: »Er hat etwas vollbracht! Er hat Aufmerksamkeit auf die Fischer gelenkt. Vielleicht werden sie sich endlich von den Knien erheben.« Der Bruder des Kapitäns beklagt sich anschließend, dass die russische Küstenwache nicht genügend zum Schutz des Schiffes unternommen habe. Und der gleiche FSB-Sprecher, der Tage zuvor noch den Kapitän des Fischkutters kritisiert hatte, erklärt jetzt, aufgrund der vorliegenden Dokumente hätten die Norweger keinen Grund gehabt, das Schiff aufzubringen. Sie hätten ihre Vollmachten überschritten, Russland müsse »hart und deutlich« reagieren, fordert später der russische Landwirtschaftsminister. Im März 2006 wählen die Hörer einer örtlichen Radiostation den Kapitän der Elektron zum »Helden von Murmansk 2006«.

Spötter sprechen angesichts der Farce in der Barentssee von einer Kuba-Krise im Eismeer. Künstlich aufgebauschte Pseudokrisen dieser Art gehören inzwischen zum festen Bestandteil fast jeder russischen Nachrichtensendung. Als wichtigste Leitmotive sind auf dem Bildschirm in verschiedenen Variationen zu sehen: wie russische Soldaten in Georgien erniedrigt werden, wie das Andenken der Sowjet-Veteranen im Baltikum geschändet wird und wie die NATO Russland umzingelt. So absurd viele Berichte für Außenstehende wirken mögen, so sehr schüren sie bei Millionen Fernsehzuschauern, die keine anderen Informationsquellen haben, ein Gefühl der Bedrohung. Regelmäßig wird die Urangst vor einem Krieg geweckt. Etwa, wenn Putins langjähriger PR-Berater Gleb Pawlowski warnt, Georgien wolle Russland angreifen – und hinter den Kriegsplänen stünde die Demokratische Partei in den USA, um mit einem Kaukasus-Krieg Präsident Bush in eine Falle zu locken. Kaum weniger absurd ist ein »kalter Krimkrieg« im Juni 2006: Ein ukrainisch-amerikanisches Manöver mit dem Namen »Sea Breeze« sorgt für politische Sturmböen auf der Halbinsel, die zur Ukraine gehört, aber überwiegend von Russen bewohnt ist. Nach der Ankunft eines 200 Mann starken US-Vorkommandos kommt es zu militanten Protestaktionen. NATO-Gegner errichten in Feodossija eine Zeltstadt, blockieren den Hafen und verhöhnen Schwarze unter den US-Soldaten mit rassistischen Parolen. Die Amerikaner flüchten in ein Sanatorium. Das Regionalparlament erklärt die Halbinsel zur »NATO-freien Zone«. Der Konflikt ist Topthema in den russischen Medien; Zuschauer bekommen den Eindruck, als sei die ganze Halbinsel in Aufruhr. Das Parlament in Moskau zeigt sich »zutiefst beunruhigt«, Außenminister Sergej Lawrow warnt vor schwerwiegenden Folgen eines NATO-Beitritts der Ukraine. Die prowestliche Führung in Kiew hält die Proteste für eine Provokation Moskaus – und einen Sturm im Wasserglas: Die erst für Juli geplante »Meeresbrise« ist demnach gar kein NATO-Manöver, sondern eine bilaterale Übung im Rahmen des Programms »Partnerschaft für den Frieden« – an dem auch Russland teilnimmt.

»Heute erfüllte sich der größte Traum des Präsidenten Venezuelas Hugo Chavez«, kommentierte etwa der Sender NTW, der Gerhard Schröders neuem Brötchengeber Gazprom gehört, im Juni 2006 Moskauer Waffenlieferungen an Washingtons Erzfeind: »Jetzt können seine Soldaten eine mögliche Aggression des amerikanischen Imperialismus abwenden, indem sie die zuverlässigste Waffe der Welt kräftig in die Hand nehmen – eine Kalaschnikow.«

Die ständigen Alarmschreie im Fernsehen zeigen nicht nur bei der einfachen Bevölkerung Wirkung. Um Patriotismus zu beweisen, dreschen hochrangige Beamte, Militärs und Politiker fast schon gebetsmühlenhaft antiwestliche Parolen. »Im Verhältnis zu den USA herrscht Kälte«, sagt Generalstabschef Juri Balujewski bei einem Treffen mit Journalisten im noblen Moskauer Hotel »Baltschug-Kempinski«, nicht ohne die anwesenden Journalisten zuvor aufzufordern, alle verwendeten Zitate autorisieren zu lassen.

»Wir haben das Recht, die Interessen Russlands im postsowjetischen Raum zu verteidigen, denn dort leben Millionen Russen«, mahnt der hochrangige General, der vorwiegend vom Blatt abliest. Als ein ausländischer Journalist einschläft, weckt ihn ein eilig herbeigeeilter Militär im Vorbeigehen mit einem leichten Schlag auf die Schulter.

Verbale Schläge bekommen die westlichen Institutionen ab. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) verwandle sich, so Balujewski, in ein »Aufsichtsorgan für die Einhaltung der Demokratie in Russland und der GUS«, was auf die USA zurückzuführen und unzulässig sei. Im Brustton der Überzeugung behauptet der Militär: »Wir haben mehr Demokratie als eine Reihe alter demokratischer Staaten.« Empört zitiert Balujewski dann einen NATO-Beamten, der ihm anvertraut habe, eines der Ziele der Allianz sei die Errichtung einer Demokratie in Russland. Der General verzieht den Mund, als spreche er von einer ansteckenden Krankheit. Die NATO verharre eben immer noch im alten Denken; das sei der Grund für die Kälte in den Beziehungen, fügt Russlands höchster Uniformträger hinzu.

In den »Medien der NATO« – gemeint sind die Medien der NATO- Länder – würden gezielt tendenziöse Berichte platziert, die den Bürgern im Westen Angst einjagen sollten: vor Terror, vor Kriminalität und vor atomaren Gefahren aus Russland. Und das, obwohl in Tschetschenien Söldner aus NATO-Ländern auf der Seite der Terroristen dienten. Überhaupt habe man beim Lesen der Presse den Eindruck, alles sei schlecht in Russland: »Die Kritik ist nicht professionell und nicht gerecht. Für mich ist es oft unverständlich, wie die Medien etwa über Todesfälle unter unseren Soldaten berichten. Ich könnte mich genauso lustig machen über die Verluste der USA im Irak. Dabei war der Einmarsch dort ein großer Fehler. Was aber haben die einfachen Soldaten damit zu tun? Darf man etwa mit solchen Sachen Politik machen?« Der Oberbefehlshaber im Kreml gab sich zunächst gefälliger. Doch auch bei Wladimir Putin blitzt in Zwischentönen immer heftigere Kritik in Richtung Westen auf. Nachdem 2004 bei dem Geiseldrama in Beslan 331 Menschen ums Leben gekommen waren, darunter viele Kinder, deutete Wladimir Putin an, dass der eigentliche Feind woanders sitze: »Es gibt Kräfte, die ein dickes Stück von Russland abbeißen wollen. Andere Kräfte helfen ihnen.

Weil sie glauben, Russland als eine der größten Atommächte der Welt sei eine Bedrohung für sie. Dass man diese Bedrohung vernichten muss. Der Terrorismus ist nur ein Werkzeug zum Erreichen dieser Ziele.« Für Zuhörer mit Sowjet-Erfahrung war klar, wo der gemeinte Feind sitzt: jenseits des großen Teichs. Solche Töne von höchster Kommando-Ebene haben durchschlagende Wirkung – bis in die Niederungen des Internets. »Gegen Russland wird Krieg geführt, sehr lange und sehr, sehr erfolgreich«, heißt es etwa in einem Kommentar einer kleinen Internet-Zeitung, der auf einer der staatlichen Websites groß verbreitet wurde: »Nicht auf dem Schlachtfeld, wo man auf Russland immer schmerzhaft einschlug, sondern da, wo der Westen immer gewinnt und gewinnen wird – in Informationskriegen. Hauptziel ist es, den Russen zu zeigen, dass sie hirnloser Pöbel sind, nicht mal zweitklassig, sondern sechste oder siebte Sorte.« Beamte drücken sich gewählter aus. Der Vorwurf mangelnden Pluralismus in der russischen Presse sei »ganz und gar lächerlich«, sagt Michail Trojanski, Vizesprecher des russischen Außenministeriums. Je stärker Russland werde, umso argwöhnischer werde der Westen und umso schwärzer werde das Bild, das man von den Zuständen im Lande male. Alarmierende Töne sind selbst aus der Duma zu hören: »Man drängt uns Schritt für Schritt in den Nordosten des eurasischen Kontinents, weg von den Meeren, dorthin, wo bis auf zwei Meter Tiefe ewiger Frost herrscht«, klagt die Vizevorsitzende des Auslandsausschusses.

20 Jahre nach dem Beginn der Perestroika trachtet Russland nach einer Revanche für die Niederlage im Kalten Krieg. Immer wieder tauchen Verschwörungstheorien auf: Ganz in der Schule von Ex-KGB-Chef Krjutschkow, der den Westen einst beschuldigte, Getreideimporte mit Krankheitserregern zu infizieren, die russische Währung zu destabilisieren, die Auflösung der Sowjetunion zu planen und Agenten für die Sabotage ihrer Wirtschaft, Verwaltung und Wissenschaft auszubilden. Moskaus neue Elite sieht das Ende der Sowjetunion nicht als Befreiung vom Bolschewismus und Sieg über eine Diktatur, sondern als Kapitulation.

In Russland glaubt man, der Westen habe das Land unter Jelzin schwächen und zur Rohstoffkolonie machen wollen. In Ansätzen ist diese Kritik berechtigt. Tragischerweise sieht man aber in Jelzin nicht jemanden, der die Demokratie missbrauchte, sondern in der Demokratie einen Missbrauch Russlands und ein Trojanisches Pferd. »Die Westler, die Liberaldemokraten und die Verteidiger der Menschenrechte, die Russland unter dem Deckmantel humanitärer Werte ihre fanatische, irrealistische, mörderische Ideologie aufdrängen wollen, müssen gestoppt werden«, fordert etwa der rechtspatriotische Politiker Alexander Dugin. Der Mittvierziger, der mit seinem langen Bart an einen orthodoxen Geistlichen erinnert, äußerte sich Anfang der neunziger Jahre noch lobend über Hitler. Heute ist er in den russischen Medien ständig präsent. Die von ihm gegründete »Eurasia«-Partei wird offensichtlich vom Kreml gefördert, er selbst leitet heute als Vordenker der Rechten das »Zentrum für geopolitische Gutachten«, das zu einem Expertenrat für Nationale Sicherheit des Parlamentspräsidenten gehört. Die orange Revolution in Kiew betrachtet Dugin als Teil eines Krieges mit Amerika: Gegen den »Antichristen USA« und »seine Helfershelfer zu kämpfen, ist die religiöse Pflicht jedes Gläubigen einer traditionellen Religion, ob Moslem oder orthodoxer Jude, ob Buddhist oder Hindu«. Was mit Juschtschenkos Gesicht passiert sei, beweise die Richtigkeit eines alten russischen Sprichworts: »Gott brandmarkt die Gauner.«

Der Putin-Vertraute und Chef der Anti-Drogen-Agentur Tscherkessow glaubt, die Erfolge des neuen Russland würden dessen Feinde außerordentlich beunruhigen. Er nennt diese Feinde zwar nicht beim Namen, doch dass er vom Westen spricht, ist jedem russischen Leser klar, der mit der Sprache der Sowjets vertraut ist, die einst vom »verfaulenden Imperialismus« redeten. Den Westen sieht Tscherkessow auch hinter Kritik am Geheimdienst und dessen Wiedererstarken: Es handle sich dabei um eine »Kampagne« und einen »Informations- und Psychokrieg«, der »vom Maßstab her dem antikommunistischen Krieg Ende der achtziger Jahre entspricht« – womit er offenbar Glasnost und Perestroika meint.44 Aus Sicht der Kremlunterstützer zentralisierte Putin die Macht und beendete das Chaos der Jelzin-Zeit. Sodann brachte Putin das geraubte Volkseigentum wieder unter staatliche Kontrolle. In einer dritten Etappe, so hoffen zumindest viele seiner neokonservativen Anhänger, werde Putin das russische Imperium wiederherstellen. Vor diesem Hintergrund sorgte Putins Annäherung an den Westen nach den Terroranschlägen am 11. September 2001 bei großen Teilen seiner Anhänger und der Moskauer Elite für Irritation. Viele waren zwar geneigt, Putins Rolle westwärts für eine taktische Finte und ein Ablenkungsmanöver zu halten, um bis zum Wiedererstarken Russlands Zeit herauszuschinden. Andere jedoch fürchteten eine grundlegende Wende des Staatschefs. Im Verständnis der vom KGB geprägten neuen Moskauer Machtelite ist Außenpolitik vor allem ein Handel. So ist zu erklären, warum Moskau jahrelang einen außenpolitischen Zickzackkurs ohne klar erkennbare Linie verfolgte, der sich im Wesentlichen an kurzfristigen taktischen Interessen orientierte.

Nach seiner Westwende 2001 etwa kam Putin den USA entgegen, indem er der Stationierung US-amerikanischer Truppen in den früheren Sowjetrepubliken in Zentralasien und im Kaukasus zustimmte. Im Gegenzug erhoffte sich der Kreml unter anderem ein größeres Mitspracherecht in internationalen Angelegenheiten und Organisationen, den Abbau von Handelsbeschränkungen und eine Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten Russlands. Der Westen erfüllte keine dieser Hoffnungen. Moskau sah sich getäuscht und wendete sich ab. Dabei saßen wohl beide Seiten einem Missverständnis auf: Der Westen glaubte, Moskau habe sich für seine Werte entschieden, der Kreml wiederum glaubte an einen beidseitigen Deal. Dass die Politiker jenseits des ehemaligen Eisernen Vorhangs den russischen Präsidenten trotz seiner Westwende weiter mit Kritik an den inneren Zuständen und autoritären Tendenzen behelligten, dürfte auf ihn wie Verrat gewirkt haben.

Mit der Unterstützung der Revolutionen in der Ukraine und in Georgien hat Washington Moskau nach Ansicht vieler Russen endgültig den Fehdehandschuh hingeworfen. Anders als früher reist Putin seit 2004 kaum noch in den Westen, auch westlichen Journalisten gibt er noch seltener Interviews als zuvor. Inzwischen wird auch die EU Moskau immer weniger geheuer. Hatte Putin dort früher mit Gerhard Schröder und Silvio Berlusconi zwei treue Fürsprecher, so wird das größte Land der Europäischen Union, das traditionell tonangebend war für die Russlandpolitik, nun mit Angela Merkel ausgerechnet von einer Frau aus dem ehemaligen Ostblock regiert, die über eigene Erfahrung in Sachen Russland verfügt. Zudem haben in der EU nach der Erweiterung die ehemaligen sowjetischen Satellitenstaaten wie Polen, Ungarn und Tschechien sowie das Baltikum ein großes Wort mitzusprechen – und diese pflegen nach Jahren unter russischer Fremdherrschaft einen skeptischen Umgang mit Moskau. Der Kreml fürchtet nicht ohne Grund, dass Merkel als Ostdeutsche diesen »gebrannten Kindern« mehr Verständnis entgegen bringen wird als Putins Duzfreund Schröder – und sich in der EU eine Mehrheit für eine kritischere Haltung gegenüber Russland bildet.

Auch Putin selbst sorgt dafür, dass die Sorgen in der EU wachsen: Nachdem er jahrelang selbst eher gemäßigte Töne vorzog und die rauen Töne von anderen stammten, attackiert er in seiner Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2007 ganz offen und auf ungewöhnlich scharfe Weise den Westen. Er klagt, die USA strebten die »monopolare Weltherrschaft« an und hätten »ihre Grenzen in fast allen Bereichen überschritten«. NATO und EU würden anderen Ländern ihren Willen aufzwingen und auf Gewalt setzen, so Putin. Russland habe aber etwas entgegenzusetzen, denn in Wirklichkeit besitze es überlegene Waffen.

Das Gespenst eines neuen Kalten Krieges gehe wieder um in Europa, heißt es in den Kommentaren. »Ich kann nicht verbergen, dass ich enttäuscht bin«, sagt NATO-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer. Auch viele andere westliche Politiker zeigen sich verwundert und alarmiert. Dabei hätten sie sich den Überraschungseffekt sparen können – wenn sie früher aufmerksam nach Moskau geblickt hätten, wo die Kalte-Kriegs-Töne für den Hausgebrauch längst allgegenwärtig sind; Putin ließ sie in seiner Rede lediglich erstmals lautstark im Ausland anklingen. Verständnis für Putin äußert der SPD-Politiker Kurt Beck: »Ich fand, dass die Offenheit der Rede des Präsidenten Russlands beeindruckend war.«

Die »antiwestliche Haltung« sei unter Putin zur neuen nationalen Idee Russlands geworden, schreibt die Politologin Lilia Schewzowa vom Moskauer Carnegie-Zentrum im August 2007 in der Moscow Times: »Putins Motto ist: ›Russland ist zurückgekehrt‹.« Das Putin’sche System brauche einen äußeren Feind zur Rechtfertigung für die Konzentration der Macht, die Einschränkung des Pluralismus, die Ausweitung der Rolle des Staates und die Umverteilung von Eigentum. »Die Suche nach Feinden und eine Wagenburg-Mentalität wurden schon immer benutzt, um das ›Eiserne-Hand‹-Regime in Russland zu rechtfertigen«, schreibt Schewzowa. Die neue Grundhaltung der russischen Elite unter Putin lasse sich dabei auf einen einfachen Nenner bringen, so Schewzowa: »Lasst uns das Chaos der Jelzin-Jahre beenden.

Wir werden unser Land vor seinen äußeren Feinden beschützen und eine neue globale Ordnung etablieren, die die heutige, die Russland erniedrigt, ersetzt.« Der Westen – so der Verdacht der Moskauer Elite – mische sich in Russlands innere Angelegenheiten ein und versuche, das Land zu schwächen: Die Politiker im Westen täten »so, als ob er sich für Demokratie einsetze, dabei will er in Wirklichkeit seine eigenen Interessen durchsetzen«. Russland gehe damit einen ganz anderen Weg als China, das in Wirklichkeit viel mehr vom Westen trenne, das aber dennoch auf antiwestliche Stimmungsmache verzichte und stattdessen auf wirtschaftliche Kooperation setze. Auf die sei in Wirklichkeit auch Moskau angewiesen, gibt Schewzowa zu bedenken: Deshalb stelle sich die Elite mit ihrer antiwestlichen Rhetorik selbst ein Bein: »Die Einstellung zum Westen ist geradezu ein Gradmesser für die Loyalität mit dem Machtapparat und dem System geworden, verbale Attacken werden gleichgesetzt mit Patriotismus.«

Den Politikern im Westen wirft Schewzowa vor, sie verstünden nicht, was in Russland vor sich gehe. Sie hätten keine Strategie für den Umgang mit dem »revisionistischen Kreml«. Der Westen habe es zugelassen, dass Moskau ihn zu einem Feindbild aufgebaut habe und dass die Wähler durch eine aggressive nationale Ideologie mobilisiert würden. »Russlands Führungselite hat diesen Geist aus der Flasche gelassen, und es wird sehr schwierig werden, ihn wieder in diese zurückzubannen. Vor allem, weil es nicht einmal in intellektuellen Kreisen Widerstand gegen die antiwestliche Haltung« gibt. Einen Hoffnungsschimmer sieht Schewzowa dennoch: »Die Mehrheit der Bevölkerung lässt sich von der antiwestlichen Hysterie nicht anstecken. Nach Umfragen sehen 70 Prozent der Menschen Europa als Partner.«

Den vorherigen, fünfundzwanzigsten Teil – Die faschistische Gefahr – finden Sie hier.
Den ersten Text der Buchveröffentlichung finden Sie hier

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