Es beginnt wie so oft: mit blindem Vertrauen. Vertrauen in die Technik, Vertrauen in die Systeme, Vertrauen in das Gute – in diesem Fall: in das Navigationsgerät eines frisch gemieteten Carsharing-Wagens. Ich sitze drin, alles digital, alles modern. Und dann: Stillstand. A100. Kilometer um Kilometer rollt nichts. Ich bleibe brav, geduldig – und überzeugt davon, dass irgendein smarter Algorithmus mich schon umgeleitet hätte, wenn es besser ginge.
Hat er aber nicht.
Nach außen sah alles topmodern aus – große Touchscreens, edles Design, digitales Bedienmenü. Aber in Wirklichkeit war das eine Mogelpackung. Kein aktuelles Kartenmaterial, keine Echtzeitdaten, kein Verkehrswarner. Hightech-Fassade mit analogem Innenleben. Glanz ohne Substanz. Ein Navigationssystem, das aussieht wie 2025, aber funktioniert wie 2008 – und das in einem Auto, das ich pro Minute bezahle.
Ich hätte Google Maps auf meinem Telefon öffnen sollen, klar. Habe ich aber nicht. Ich dachte: Das wird schon. Man hat ja gelernt: Nicht drängeln. Nicht schlau sein wollen. Nicht die Spur wechseln – das bringt doch eh nichts. Und so sitze ich da, rechts auf der A100, fest im doppelten Sinn.
Was ich zu dem Zeitpunkt – Samstag Nachmittag in Berlin – nicht wusste: Totalsperrung der A100. Zwischen dem Autobahndreieck Neukölln und dem Grenzallee-Tunnel war seit Freitagabend komplett dicht – wegen Brückenprüfungen, Tunnelwartung und Bauarbeiten. Eine Maßnahme, die schon lange angekündigt war – aber eben nicht im Navi meines Carsharing-Wagens. Und auch nicht in meinem Bewusstsein, als ich losfuhr.
Aber dann passiert etwas. Ich stehe inzwischen auf der Mittelspur – und beginne mich zu wundern. Links zieht sich der Verkehr deutlich schneller voran, während rechts so gut wie gar nichts mehr geht. Lange bleibe ich trotzdem, wo ich bin. Denn man hat ja gelernt: Spurwechsel im Stau bringt nichts – das ist nur Show ohne Effekt. Zuerst denke ich: Meine Wahrnehmung ist sicher verzerrt, ich bilde mir das nur ein.
Doch der Eindruck wird immer stärker. Deshalb beginne ich zu zählen. Ich merke mir ein paar Fahrzeuge, verfolge sie mit den Augen. Und tatsächlich: Die, die links bleiben, gewinnen Meter um Meter. Schließlich ziehe ich selbst rüber, auf die linke Spur – spät, aber immerhin. Und als ich dann viel schneller als gedacht an den anderen vorbeiziehe, sehe ich den eigentlichen Grund, schon recht Nahe am Ende des Staus:
Die mittlere Spur wurde ausgebremst, weil sie permanent Fahrzeuge von links reinließ – deutlich mehr, als sie selbst vorankam. Eine Art höflicher Kannibalismus. Die Rücksicht war so übertrieben, dass ein völlig schiefes Kräfteverhältnis entstand: Links fuhr man durch, in der Mitte stand man – weil man zu nett war.
Ich selbst hatte lange brav gewartet. Der Anständige. Der Gläubige. Der Systemvertrauer. Der Bravfahrer. Und hätte ich weiter gewartet, wäre ich vermutlich jetzt noch nicht draußen.
Aber irgendwann war es dann eben doch umgesprungen.
Nicht aggressiv, nicht dreist, sondern analytisch. Ich hatte die Lage beobachtet, die Struktur verstanden – und gehandelt. Und siehe da: Es hatte funktioniert. Ich kam raus aus dem Stau.
Laut Google Maps hätte ich eigentlich noch rund 20 Minuten im Stau stehen sollen. Stattdessen war ich plötzlich durch. Und ich bin überzeugt: Das lag allein an der linken Spur. Der späte Wechsel hat mir die Zeit geschenkt, die ich vorher im blinden Vertrauen verloren hatte.
Und dann, als hätte die Ironie des Tages noch einen Nachschlag bestellt, führt mich die Ausweichstrecke durch ein Wohngebiet mit frisch eingerichteter Super-Radspur. Kein Witz: Die Straße, einst zweispurig, ist nun zur Hälfte abgezwackt für eine dieser neuen, liebevoll bepinselten Fahrradautobahnen – so breit wie ein Kleintransporter, mit Pollern geschützt, damit kein ungezogener Autofahrer auf dumme Ideen kommt. Und auf dieser Radpracht rollt in zehn Minuten: ein einziger Radler. Einer. Alle anderen stehen im Rückstau.
Ich liebe das Fahrrad, wirklich. Aber wenn man es in einer Stadt nicht mal mehr schafft, die tragenden Brücken in Stand zu halten und die Stadtautobahn befahrbar zu lassen, dann ist diese Art von Infrastrukturpolitik keine Modernität, sondern Ideologie mit Pinselstrich. Berlin fährt auf Verschleiß – aber ideologisch korrekt. Die Straßen brechen zusammen, aber die Fahrradspur glänzt. Man fragt sich fast, ob das Symbol sein soll.
Ich erreiche mein Ziel etwas verspätet, aber nicht zu spät. Und auch nicht mehr verärgert – im Gegenteil: Ich bin um eine Erkenntnis reicher. Nein, um zwei.
Erstens: Wer im Verkehr blind Systemen vertraut, steht.
Zweitens: Wer sich stur an Regeln hält, obwohl die Lage längst eine andere ist, wird bestraft – freundlich, moralisch integer, aber effektiv ausgebremst.
Es ist wie in der Gesellschaft: Die Braven warten auf den Fortschritt. Die Klugen analysieren, wo er herkommt – und stellen sich auf die richtige Spur. Der Staat pinselt Fahrradstreifen, während die Autobahn einstürzt. Und wer das kritisiert, gilt als Fortschrittsverweigerer.
Ich habe gelernt. Und ich habe keine Reue. Ich habe nicht gedrängelt, nicht gedrängelt. Ich habe einfach nur beobachtet – und meine Schlüsse gezogen. Vielleicht bin ich jetzt kein Verkehrsmoralist mehr. Aber ich bin ein realistischerer Mensch. Und das ist auch was wert.
Und mehr noch: Wer sich blind an das hält, was einem eingetrichtert wurde – sei es vom Fahrlehrer, von den Medien oder vom Zeitgeist – der bleibt nicht nur stehen, sondern wird zum Statisten im eigenen Leben. Die eigentliche Tugend ist früher wie heute nicht blinder Gehorsam, sondern Beobachtung. Nicht Regelgläubigkeit, sondern situationsabhängiges Denken. Und wer das beherrscht, kommt nicht nur schneller aus dem Stau – sondern vielleicht auch besser durch diese Zeit. Corona lässt grüßen.
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