Ein Gastbeitrag von Thomas Rießinger
„Wir müssen“, so schrieb Otto von Bismarck 1853 an den pensionierten General Leopold von Gerlach, „mit den Realitäten wirtschaften und nicht mit Fiktionen.“ Das ist keine üble Idee, und sie ist, wie man oft hört, sogar von einem Sozialdemokraten alten Schrots und Korns, von Kurt Schumacher, bestätigt worden: „Politik beginnt mit der Betrachtung der Wirklichkeit“, soll er gesagt haben, nur dass bedauerlicherweise bis heute niemand eine verlässliche Quelle für diesen treffenden Satz vorgezeigt hat. Doch immerhin kann man mit einer ähnlichen Formulierung Schumachers aufwarten: „Jede Politik beginnt mit der Selbsterkenntnis und mit der Arbeit am eigenen Gemeinwesen.“
Selbst Robert Habeck hatte im Verlauf seiner Amtszeit gemerkt, dass seine berufliche Tätigkeit zumindest gelegentlich Berührungspunkte mit der Wirklichkeit aufweisen sollte, als er seufzte, man sei von Wirklichkeit umzingelt, sich aber im Rahmen seiner Politik nicht übermäßig von dieser Erkenntnis leiten ließ. Und als einen seiner würdigen Nachfolger heutiger Tage darf man Lars Klingbeil bezeichnen, Parteivorsitzender der einstmals sozialdemokratischen SPD und zu allem Übel mit dem Amt des Bundesfinanzministers geschlagen. Sein Lebenslauf gibt, was den Kontakt mit der Realität angeht, nicht allzu viel Anlass zur Hoffnung: Politische Wissenschaft, Soziologie und Geschichte hat er studiert und sich danach in verschiedenen zuarbeitenden Funktionen bei der SPD getummelt, bis er dann endlich in den Bundestag gewählt wurde, wo er seit 16 Jahren sein segensreiches Wirken entfalten kann. Es wäre problemlos möglich, sich etwas mehr Wirklichkeitsnähe vorzustellen, aber man darf nicht zu viel erwarten.
Nun hat sich Klingbeil im Rahmen eines Bürgergesprächs als Kandidat für die Verleihung einer Kurt-Schumacher-Ehrenmedaille qualifiziert, oder wenigstens hätte er es, wenn es sie denn gäbe. Seine Fähigkeit zur Selbsterkenntnis und zur Betrachtung der Realität kann ihm nun niemand mehr absprechen. Nach Angaben der „Welt“ sah er sich veranlasst, zu einer positiveren Grundhaltung in Deutschland aufzurufen. „Wir reden uns selbst manchmal so klein“, teilte er mit: „Und die AfD reitet ja diese schlechte Laune. Die AfD lebt von dieser Polarisierung und davon, dass die Leute unzufrieden sind.“ Man fragt sich, wer wohl „wir“ sein sollen. Ist es die Parteiführung der SPD? Oder gar die Bundesregierung? Die reden sich zwar vielleicht um Kopf und Kragen, aber sicher nicht klein, sondern neigen eher dazu, großsprecherische Phrasen zu verbreiten. Meint er vielleicht die „Leute“, die er im nächsten Satz zur Sprache bringt, also den Mann, die Frau und das Diverse auf der Straße? Irgendwer scheint „uns“ jedenfalls klein zu reden, was nur bedeuten kann, dass doch eigentlich alles recht gut ist und nur dieses defätistische Gerede von wem auch immer zu Schwierigkeiten führt.
Genauer gesagt: zu schlechter Laune, und die ist von Übel. Denn „die AfD reitet ja diese schlechte Laune.“ Bisher ist mir weder ein Mensch noch eine Partei begegnet, der eine bestimmte Laune reitet, aber man kann sich vorstellen, was der Politikwissenschaftler meint: Es gibt im Lande eine durch Kleinreden verursachte schlechte Laune, von der die AfD profitiert. Die lebe nämlich von „dieser Polarisierung“, die wohl ebenfalls eine Folge des chronischen Kleinredens sein muss, „und davon, dass die Leute unzufrieden sind.“
Ja, gibt es denn so was? Die Leute sind tatsächlich unzufrieden und dann erdreistet sich eine Oppositionspartei auch noch, davon zu profitieren? Woher diese Unzufriedenheit wohl kommen mag, will Klingbeil nicht genauer untersuchen, vermutlich glaubt er, sie sei eine unvermeidliche Folge des ständigen Kleinredens und habe mit der Wirklichkeit nichts zu tun. Könnte es denn reale Gründe geben? Könnte es an hohen Energiepreisen liegen, an den Irrsinnigkeiten des Klimaschutzes und der zunehmend prekärer werdenden Zuverlässigkeit der Energieversorgung? Bestehen vielleicht Zusammenhänge mit den Folgen der ungezügelten Migration, die eben nur selten australische Austauschstudenten ins Land bringt, von Fachkräften ganz zu schweigen? Wäre Unzufriedenheit mit einer Politik denkbar, die unverdrossen deutsches Steuergeld in alle Welt verteilt, aber kein Geld und auch keine Lust für die hiesige Infrastruktur aufbringt? Sollte man sich vielleicht Gedanken machen über die Einschränkungen der Meinungsfreiheit, an der Sozialdemokraten nur noch dann Freude haben, wenn man ihre eigene Meinung teilt? Müsste man die steigende Angst der Menschen um den eigenen Arbeitsplatz in Erwägung ziehen? Gründe für die Unzufriedenheit der „Leute“ und für ihre „schlechte Laune“ gibt es zuhauf, und sie alle sind haus-, also politikgemacht. Man kann es auch einfacher sagen: Seit Jahren sind wir mit einer Politik geschlagen, deren letztes und aberletztes Interesse der Bürger ist, den man nur noch als Steuern zahlendes Objekt sieht. Außer Politikern und Journalisten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks kann sich wohl jeder vorstellen, warum die „Leute“ in „schlechte Laune“ verfallen. Ein kleiner Tipp an den Vorsitzenden der SPD: Am Kleinreden liegt es nicht.
Derartiges ficht Klingbeil nicht an. Er wünscht sich, wie die „Welt“ uns weiter mitteilt, einen Perspektivwechsel: Die Gesellschaft solle herauskommen aus einem „Alles ist immer kritisch“-Modus. Das ist eine glänzende Methode. Wir kümmern uns nicht mehr um die tatsächlichen Gegebenheiten, sondern definieren einen neuen Modus, in dem nicht alles „immer kritisch“ ist – und schon wird alles besser, zumindest die Laune. „Wir müssen“, hatte Bismarck geschrieben, „mit den Realitäten wirtschaften und nicht mit Fiktionen.“ Klingbeil zieht das Gegenteil vor. Immerhin nimmt er zur Kenntnis, dass die Regierung ihre Arbeit machen müsse und nicht streiten dürfe, stellt sich aber nicht die naheliegende Frage, wann sie wohl endlich damit anfangen will. Was das bedeutet, ist schnell umrissen, man muss nur einen Blick auf den Amtseid der Bundesminister werfen: „Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde.“ Das wäre die Arbeit der Bundesregierung, und die Bürger warten mit einer gewissen Verzweiflung darauf, ob sie sie jemals aufnehmen wird. Bisher hat sie ihre eidlichen Verpflichtungen mannhaft ignoriert.
Klingbeil sieht das anders, denn die Verantwortung für die schlechte Laune liegt nicht primär bei der Regierung, sondern selbstverständlich bei der Gesellschaft. „Aber ich würde mir manchmal auch wünschen“, teilt er uns mit, „dass die Gesellschaft ein bisschen anders mit sich selbst umgeht, und das kann auch helfen, die AfD kleiner zu kriegen.“ Unter der „Gesellschaft“ scheint er eine Art Kollektivwesen zu verstehen, das auf diese oder jene Weise mit sich selbst umgeht. Doch die Gesellschaft besteht aus Individuen, auch wenn ein gelernter Kollektivist mit diesem Begriff nichts anzufangen weiß. Die gehen sowohl mit sich selbst als auch mit anderen auf irgendeine Weise um, aber diese Weisen sind sehr unterschiedlich. Klingbeil könnte beispielsweise einmal auf einer aggressiven islamisch geprägten pro-palästinensischen Demonstration studieren, wie dieser Teil der Gesellschaft mit sich selbst und vor allem mit andersdenkenden Teilen der Gesellschaft umgeht. Danach kann er zur Erholung gerne einen SPD-Parteitag besuchen, um darüber nachzudenken, dass „die Gesellschaft“ kein großer Stuhlkreis von mehr als 80 Millionen Menschen ist, der irgendwie „mit sich selbst umgeht“. In linken Kreisen hätte man das gerne, sofern man selbst den Stuhlkreis leiten darf.
Denn es geht ja immer um das gleiche Ziel: nicht die Verbesserung der Lebensumstände der Bürger, nicht die Steigerung oder wenigstens Bewahrung des Wohlstandes, nicht das Aufrechterhalten der inneren Sicherheit. Nein, von Interesse ist nur das Ziel, „die AfD kleiner zu kriegen.“ Die von Klingbeil beschworene Gesellschaft soll einfach anders mit sich umgehen, soll die Welt und das Land in dem rosigen Licht sehen, in dem nicht alles immer kritisch ist – und schon ist das Problem „AfD“ vom Tisch. Dass man vielleicht die Probleme lösen könnte, die zum Wachstum der AfD geführt haben und noch immer führen, dass man endlich einmal Politik für die Bürger betreiben könnte und nicht ständig gegen sie, dass man also dem politischen Gegner durch eigene gute Arbeit die Butter vom Brot nehmen könnte – das kommt jemandem wie Klingbeil nicht in den Sinn. Die Gesellschaft soll endlich anders mit sich selbst umgehen, dann wird das schon. „Greife lieber zu HB, dann geht alles wie von selbst“, hieß es vor langer Zeit in einer Zigarettenwerbung. So scheint sich der Finanzminister die Lösung politischer Probleme vorzustellen. „Jede Politik beginnt mit der Selbsterkenntnis und mit der Arbeit am eigenen Gemeinwesen“, waren die Worte von Kurt Schumacher. An beidem fehlt es.
„Ich hasse alle Pfuscherei wie die Sünde“, sagte einst Goethe zu seinem Adlatus Johann Peter Eckermann, „besonders aber die Pfuscherei in Staatsangelegenheiten, woraus für Tausende und Millionen nichts als Unheil hervorgeht.“
Goethe ist schon lange tot. Sein Ausspruch ist noch immer sehr lebendig.
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Thomas Rießinger ist promovierter Mathematiker und war Professor für Mathematik und Informatik an der Fachhochschule Frankfurt am Main. Neben einigen Fachbüchern über Mathematik hat er auch Aufsätze zur Philosophie und Geschichte sowie ein Buch zur Unterhaltungsmathematik publiziert.
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