Von Ekaterina Quehl
„Sie machen das mit uns nur, weil wir Migranten und Frauen sind“, sagte mir mal eine ehemalige türkische Kollegin, als wir gebeten wurden, neue Möbelstücke für unser neues Bürozimmer selbst zusammenzubauen. Daran musste ich denken, als ich über die Verleihung des Constructive World Awards in der Kategorie „Universal Empowerment“ bei Focus gelesen habe. Doch ich möchte nicht über das Thema Frauenhass sprechen, um den es in dem Bericht geht. Sondern über Opferrolle.
Damals habe ich nicht einmal wirklich verstanden, was die Kollegin mit ihrer Aussage meint, habe mit den Schultern gezuckt und meinen Bürostuhl selbst zusammengeschraubt. Heute weiß ich – positionierst du dich als Opfer von Beleidigung oder Diskriminierung, kannst du auf Privilegien kommen, die sonst verwehrt bleiben. Den Stuhl für die türkische Kollegin hat ein junger deutscher Praktikant zusammengebaut. Aber nicht, weil sie ihn um Hilfe gebeten hat, sondern weil sie sich als beleidigtes Opfer positioniert hat. Es ist nur ein kleines Beispiel, aber eines, das sehr deutlich zeigt, wie die Opferrolle funktioniert.
Seit langem beschäftigt mich das Thema der Opferrolle in Deutschland und Menschen, die diese bewusst einnehmen, um in den Genuss von bestimmten Vorteilen zu kommen. Als Russin mit jüdischen Wurzeln, die erst mit 27 Jahren nach Deutschland gekommen ist und einen langen Weg vor sich bis zur vollen Integration hatte, fühle ich mich durchaus legitimiert, mich mit diesem Thema zu beschäftigen.
Es hat mich immer gewundert, dass die Stimmen häufig solchen „Opfern“ gehören, die hier – wie auch meine damalige türkische Kollegin – von Kind auf sozialisiert wurden. Als ich nach Deutschland umgezogen bin, wurde weder mein russischer Studienabschluss anerkannt, noch hatte ich die Möglichkeit, schnell Arbeit zu finden – obwohl ich schon passabel Deutsch sprechen konnte und acht Jahre Berufserfahrung in St. Petersburg hatte. Es war ein langer Weg, aber ich hatte niemals den Endruck, dass mir jemand Steine auf ihn legte. Im Gegenteil: Es gab immer zahlreiche Freunde, Familienmitglieder, Kommilitonen und Kollegen, die mich unterstützt haben.
Warum höre ich dann immer wieder von vielen Migranten, wie sie als solche in Deutschland leiden, dass deren Leben regelmäßig auf die eine oder andere Weise schwer gemacht wird. Häufig – von Menschen, die schon als Kinder nach Deutschland zusammen mit ihren Eltern kamen, hier in den Kindergarten und die Schule gehen konnten, ohne Hindernisse einen Ausbildungs- oder einen Studienplatz bekommen konnten. Was macht die Gesellschaft mit ihnen anders als mit mir, dass sie sich stets von ihr benachteiligt fühlen? Lange habe ich mir diese Fragen gestellt. Bis ich endlich begriff, dass die Antwort nicht zu finden ist, weil ich einfach falsche Fragen stelle.
Denn die eigentliche Frage ist: Wann wird das Teilen von eigenen Erfahrungen zur Selbstermächtigung und wann zur strategischen Selbstvermarktung?
Besonders das Erzählen der eigenen Leidensgeschichte kann in heutiger Zeit, in der öffentliche Aufmerksamkeit eine wertvolle Ressource darstellt, Empowerment fördern. Wenn jemand sein Narrativ stets wiederholt und selektiv einsetzt, sorgt damit bei Menschen mit gesundem Menschenverstand für den Eindruck, dass dieses Narrativ eigenem Profit dient. Machen wir uns nichts vor. Ich kann als Nicht-Muttersprachlerin die Aussage „Wow, wie gut du Deutsch sprechen kannst“ als Kompliment betrachten oder als Beleidigung. Oder auch als eine Floskel. Die Gesellschaft bietet mir zahlreiche Interpretationsmöglichkeiten und es hängt von dem Kontext ab und von mir persönlich, was ich damit mache. Nicht von ihr. Es wird immer Menschen geben, die beleidigen, die böse sind, die nur Frauen, nur Männer oder auch alle Welt hassen. In jeder Gesellschaft und in jedem Land. Solange es Mechanismen gibt, die mich vor einer wirklichen Benachteiligung schützen würden, und ich meine nicht zahlreiche Meldestellen, sondern Möglichkeiten, sowohl alle meine Grundrechte zu genießen als auch vor deren Verletzung geschützt zu werden, obliegt es mir, was ich damit mache. Ich kann mich selbst entweder zur Projektionsfläche machen oder zu einem Souverän.
Doch in unserem Land haben viele Menschen inzwischen Angst, Wahrheiten auszusprechen. Und schon gar nicht deshalb, weil sie in eine rechte Schublade gesteckt würden, sondern in eine Zelle. Weil um 7 Uhr morgens Polizei vor der Tür stehen kann und sie es noch nicht geschafft haben, einen anständigen Morgenmantel zu besorgen. In diesem Land gehört es fast schon zu schlechtem Ton, sich nicht als Opfer zu positionieren, wenn man sich auf irgendeiner Weise von der Mehrheit unterscheidet. Mehr noch: Es bringt große Vorteile mit sich.
Und dieses Prinzip, also das Prinzip der Opferrolle als Geschäftsmodell, funktioniert nicht zufällig.
Es ist inzwischen eingebettet in eine Gesellschaft, die sich selbst zur moralischen Supermacht stilisiert hat. Wer eigene Diskriminierung glaubwürdig inszenieren kann, bekommt Zugang zu Ressourcen, die ursprünglich tatsächlich für Schutz und Teilhabe gedacht waren: institutionelle Rückendeckung, Fördergelder, Hilfe von Nicht-Regierungsorganisationen, mediale Aufmerksamkeit. Betroffenheits-Narrativ wird zur Währung. Das funktioniert aber nur, wenn eine Benachteiligung stilisiert werden kann. Aus einem ungeschickten Kommentar wird eine Mikroaggression. Aus einem Kompliment ein Code für strukturellen Rassismus. Aus dem Vergessen deines Namens wird eine Demütigung. Selbstverständliche Dinge werden umcodiert – und der Schlüssel dafür liegt nicht in der Realität. Sondern in der Vorstellung, in der die Opfer-Rolle ideal kompatibel mit der Selbstdarstellung des Landes als feine Willkommensgesellschaft ist.
Und dabei kann diese Form des Selbstverwirklichung in der Opferrolle sehr elitär sein. Es sind selten die Menschen, die sich in Sprachkursen durchkämpfen, oder die, die mit drei Jobs ihre Familien versorgen. Es sind oft die akademisch sozialisierten, professionell sprechenden, sichtbar gewordenen Vertreter einer Minderheit, die gelernt haben, ihre Herkunft oder ihr Geschlecht als Positionierungsressource zu nutzen.
Das Traurigste bei dieser ganzen Entwicklung ist: Es geht weder um die wirklichen Opfer von Benachteiligung noch um eine wahre Willkommenskultur. Eine Hand wäscht die andere: auf moralischem Kredit. Die einen liefern die öffentlich wirksame Narrative vom strukturellen Leid, die anderen – mediale Aufmerksamkeit, Förderungen, Einladungen in Talkshows etc. – weil sich damit das eigene moralische Konto füllen lässt. Und das ist bequem: Man zeigt Haltung, ohne etwas zu riskieren.
Dass dabei Geschichten von Menschen, die wirklich benachteiligt wurden, verharmlost oder übertönt werden, scheint zweitrangig. Denn wer jeden irritierten Blick als Mikroaggression oder strukturellen Rassismus inszeniert, der raubt denen die Aufmerksamkeit, die tatsächlich benachteiligt werden. Und das Bittere daran: Immer öfter sind es Bürger des eigenen Landes.
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Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Ekaterina Quehl ist gebürtige St. Petersburgerin, russische Jüdin und lebt seit über 20 Jahren in Deutschland. Pioniergruß, Schuluniform und Samisdat-Bücher gehörten zu ihrem Leben wie Perestroika und Lebensmittelmarken. Ihre Affinität zur deutschen Sprache hat sie bereits als Schulkind entwickelt. Aus dieser heraus weigert sie sich hartnäckig, zu gendern. Sie arbeitet für reitschuster.de.
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